Dass ein Fahrer ein Rennwochenende aufgrund einer Gehirnerschütterung auslässt, stellt in der MotoGP und ihren Nachwuchsklasse eine absolute Rarität dar. Marc Marquez hat sich zusammen mit seinem Team zu diesem Schritt entschlossen. Hat sich der einst furchtlose Krieger damit zum Weichei verwandelt?

Ganz im Gegenteil! Marquez' Entscheidung ist die einzig richtige. Eine, die so in jedem vergleichbaren Fall von Fahrer oder Team getroffen werden müsste. Passiert das aus welchen Gründen auch immer nicht, wäre es Aufgabe der Rennärzte, dem betroffenen Athleten die Startfreigabe zu verweigern. Doch das passiert in der Motorrad-Weltmeisterschaft praktisch nie.

Denken wir nur zurück an das erste Rennwochenende in Misano Mitte September. Moto3-Pilot Deniz Öncü flog damals im 3. Training am Samstag heftig ab und schlug nach einem Highsider hart auf dem Boden auf. Der Türke verlor das Bewusstsein. "Ich kann mich an den Crash nicht erinnern und bin erst eine halbe Stunde danach wieder richtig zu mir gekommen", erklärte er später. Öncü hatte offensichtlich eine Gehirnerschütterung erlitten, stand am nächsten Tag dennoch im Rennen am Start.

Fahrer und Teams argumentieren in solchen Fällen immer gerne, dass kein Schwindelgefühl oder ähnliche Symptome mehr präsent seien und somit ja nichts gegen einen Einsatz sprechen würde. Doch darum geht es nicht. Die Gefahr, die hier lauert, ist eine versteckte: Second Impact Syndrom, kurz SIS. Dabei schwillt das Hirn rasch an, nachdem eine Person eine zweite Gehirnerschütterung erleidet, bevor die erste vollständig ausgeheilt ist. Mögliche Folgen sind Depressionen oder Parkinsonismus, nicht selten kann es sogar zum Tod kommen.

Öncü müsste nach seinem Crash an der Unfallstelle versorgt werden, Foto: LAT Images
Öncü müsste nach seinem Crash an der Unfallstelle versorgt werden, Foto: LAT Images

Eine Gefahr, die im Motorradsport nach wie vor völlig unterschätzt wird. In anderen Sportarten ist man hier bereits bedeutend fortschrittlicher: Im American Football etwa beobachten unabhängige Experten jedes Spiel der Profi-Liga NFL und können einen Spieler, der Symptome einer Gehirnerschütterung aufweist, sofort des Platzes verweisen. Er darf erst wieder in den Spielbetrieb zurückkehren, wenn die Verletzung völlig ausgeheilt ist.

Ein derartiges Protokoll ist eigentlich auch im 'Medical Code' des MotoGP-Reglements verankert, nur wird es praktisch nie eingehalten. "Wird eine Gehirnerschütterung festgestellt, ist der Fahrer sofort vom Wettkampf auszuschließen. Dies gilt mindestens für den Rest des laufenden Events. Vor der Rückkehr in den Wettkampf ist der Fahrer erneut zu untersuchen und Beweise für eine normale neuropsychologische Funktion sind zu erbringen", ist unter Paragraph 5.1.1.M zu lesen.

Neue Regeln für mehr Sicherheit: Die richtigen Schritte? (11:02 Min.)

Würde man diese Vorgaben befolgen, hätte Öncü beispielsweise in Misano niemals starten dürfen. Die Experten Dr. James E. Wilberger und Dr. Gordon Mao geben in ihrer Abhandlung über sportbedingte Gehirnerschütterungen etwa folgende Empfehlungen ab: "Selbst wenn die Symptome schnell besser werden, sollten die Sportler eher nicht zum vollen Wettkampf zurückkehren, bevor nicht alle Symptome seit wenigstens einer Woche abgeklungen sind. Sportler, die eine schwere Gehirnerschütterung erlitten (zum Beispiel, wenn sie mehr als 5 Minuten bewusstlos waren oder sich nicht mehr an Vorfälle erinnern, die sich 24 Stunden vor oder nach dem Unfall ereignet haben), sollten wenigstens einen Monat warten, bevor sie wieder voll zum Wettkampf zurückkehren."

Aufgrund der erschreckenden Ignoranz gegenüber medizinischen Fakten und Empfehlungen, die im MotoGP-Paddock diesbezüglich nach wie vor herrscht, ist Marquez' Entscheidung zum Startverzicht nur zu begrüßen. Spätestens nach dem Rücktritt von Valentino Rossi ist er der einflussreichste Botschafter des Motorradsports und erfüllt als solcher eine Vorbildfunktion. Wenn sein Entschluss bewirkt, dass in Zukunft mehr Fahrer, Teams und auch die verantwortlichen Ärzte Gehirnerschütterungen endlich ernst nehmen, hat er der Zweiradszene einen großen Dienst erwiesen.