Droht der Formel E beim Saisonfinale in London an diesem Wochenende (29./30. Juli 2023) eine weitere Energie-Spar-Schlacht? Die FIA hat die per Reglement erlaubte Energie-Menge für die beiden Rennen in der britischen Hauptstadt massiv eingeschränkt. Nur 27 kWh (Kilowattstunden) dürfen die Piloten auf dem mit 2,086 Kilometer kürzesten Kurs im Rennkalender nutzen - so wenig wie nie zuvor in der ersten Saison mit den Gen3-Rennwagen.

Die Energie-Reduktion soll befürchtete Vollgas-Rennen durch die Excel-Messehalle verhindern, in der die Formel E zum dritten Mal seit 2021 gastiert. In der Vergangenheit mit den Gen2-Autos wurde die verfügbare Energiemenge bereits deutlich reduziert, trotzdem spielte das eigentlich gewollte Energie-Management nur eine untergeordnete Rolle.

London-Vorhersage: Samstag sehr schnell, Sonntag extrem schnell

Voraussichtlich ist das auch dieses Mal der Fall. Die meisten Teams glauben nach ihren Simulationen, dass die Rennen wieder einen hohen Vollgasanteil beinhalten werden. "Es wird trotzdem sehr schwierig sein, zu überholen", glaubte Porsche-Werkspilot Pascal Wehrlein im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. "Man nimmt die Energie ja raus, um uns in den Rennen die Möglichkeit zu geben, überholen zu können. Das wird trotz dieser Reduktion nicht leicht. Allgemein ist das Überholen auf dieser Strecke nicht leicht, weil sie zu eng ist."

McLaren-Pilot Rene Rast sagte beim Heimrennen seines Teams zu Motorsport-Magazin.com: "Die Strecke ist wenig sensitiv mit Blick auf die Energie. Durch die ganzen langsamen Kurven brauchst du relativ wenig Energie. Sie haben die Energie runtergesetzt, um zu versuchen, das Management etwas extremer zu gestalten. Trotzdem wird es lange nicht so, wie wir es auf anderen Strecken gesehen haben. Das Rennen am Samstag wird immer noch sehr schnell, und am Sonntag wird es extrem schnell. 27 kWh sind ein drastischer Schritt, aber die Zahl alleine gibt keinen echten Anhaltspunkt, weil die Strecke der ausschlaggebende Faktor ist."

London-Streckenlayout "einem Saisonfinale nicht würdig"

Der zum dritten Mal in Folge überarbeitete Kurs - dieses Jahr wurde die Passage rund um die Attack-Mode-Aktivierungszone in Turn 16 leicht verändert und neu asphaltiert - bietet aufgrund seines Stop-And-Go-Layouts viele Möglichkeiten zur Energierückgewinnung, jedoch einen besonders niedrigen Vollgasanteil.

Es drohen somit Prozessionsfahrten mit hohem Crash-Potenzial, weil die Fahrer bei Überholmanövern eher gezwungen sind, die 'Brechstange' auszupacken. "Die Anlage ist toll, die Strecke wegen dieser Charakteristik eines Saisonfinales aber eigentlich nicht würdig", sagte uns ein Teamverantwortlicher, der namentlich nicht genannt werden wollte.

Sebastien Buemi im Envision-Jaguar beim Formel-E-Rennen in Rom
Die Formel E fährt in London mitten durch eine Messehalle, Foto: LAT Images

1. London-Training: Zwei Nissan in Top-3

Das 1. Freie Training am späten Freitagnachmittag gab nur wenig Aufschluss über das wahre Kräfteverhältnis. Norman Nato (Nissan) führte die Zeitenliste der 30-minütigen Session mit einer Bestzeit von 1:10.765 Minuten an. Sebastien Buemi (Envision) reichte bis auf sechs Tausendstelsekunden an den Franzosen heran. Natos Teamkollege, Sacha Fenestraz, der heute seinen 24. Geburtstag feiert, fehlten als Drittem bereits 0,198 Sekunden.

Der große Titelfavorit Jake Dennis (Andretti-Porsche) ordnete sich mit sechs Zehntelsekunden Rückstand auf dem elften Rang ein. Die weiteren theoretischen WM-Aspiranten Mitch Evans (Jaguar) und Nick Cassidy (Envision-Jaguar) fuhren auf die Plätze fünf und acht. Der Meisterschaftsvierte Pascal Wehrlein (Porsche) folgte auf P9.

Titelfavorit Dennis: "Strecke spielt Jaguar in die Karten"

Sollte es anders kommen und das Energie-Management doch eine größere Rolle einnehmen als zunächst vermutet, bevorteilt die künstliche Energie-Verknappung in der Theorie die Antriebsstränge von Jaguar. Alle bisherigen Windschatten-Schlachten gewann ein Antriebsstrang des britischen Autobauers, zweimal durch Werksfahrer Mitch Evans (Sao Paulo, Berlin I) und dreimal durch Envision-Kundenpilot Nick Cassidy (Berlin II, Monaco, Portland). Beide können sich trotz deutlichem Rückstand auf WM-Spitzenreiter Jake Dennis (Andretti-Porsche) noch kleine Hoffnungen auf den Titelgewinn machen.

"Die Strecke spielt dem Jaguar auf jeden Fall in die Karten, aber wir sind hier auch sehr schnell", sagte Dennis, der das Saisonfinale mit 24 Punkten Vorsprung zum Zweitplatzierten Cassidy in Angriff nimmt. "Der Plan muss sein, im Qualifying in die Duelle zu kommen. Dann ist man schon mal ein bisschen raus aus der 'Danger Zone' (Gefahrenzone im engen Mittelfeld; d. Red.)."

Der Porsche-Motor ist ähnlich effizient wie das Jaguar-Aggregat, konnte bei den extremen Energie-Spar-Rennen aber nicht ganz mithalten. Das dürfte auch auf die unterschiedlichen Strategien der Teams zurückzuführen sein - Jaguar hat es stets cleverer gelöst. Dennis gilt allerdings als absoluter London-Spezialist: Zwei der vier bisherigen Rennen in den Excel-Messehallen gewann er mit Andretti-BMW und belegte insgesamt dreimal einen Podestplatz. Dennis: "Als wir hier noch mit dem BMW-Motor gefahren sind, hat uns die Strecke sehr gut gepasst. Jetzt haben wir einen kompletten Reset. Ich bin aber zuversichtlich und entspannt."

London-Rennen mit unterschiedlicher Länge

Titelgegner Evans, dem bereits 44 Punkte zu Dennis bei noch 58 zu vergebenen Zählern fehlen: "Ich fahre so aggressiv wie es nötig ist. In der Formel E kann man vieles nicht kalkulieren und die Dinge können sich sehr schnell zum Schlechten verändern. Ich erwarte hier zwei sehr strategische Rennen, in denen sich vieles um die Attack Modes drehen wird. Vor allem in der zweiten Saisonhälfte haben wir bei der Strategie gute Arbeit geleistet."

Eine zusätzliche Herausforderung für die Team-Strategen spielt die Entscheidung der FIA, die Rennen am Samstag und Sonntag (jeweils ab 18:00 Uhr live auf ProSieben) unterschiedlich lang zu gestalten. Für das Samstagsrennen sind 36 Runden (75,1 km) angesetzt, das Finale am Sonntag führt über nur 34 Runden, was 70,9 Kilometern entspricht. Schon zuletzt in Rom vor zwei Wochen sollten unterschiedliche Renndistanzen für mehr Abwechslung sorgen.