Die silberne Dominanz scheint kein Ende zu nehmen. Seit dem Beginn der Hybrid-Ära im Jahr 2014 hat Mercedes die Siegerpokale in der Formel 1 fest im Griff. Sechs WM-Doubles in Folge stehen bereits zu Buche, das siebte wird angepeilt. Aber was macht die Silberpfeile so unheimlich stark?

Lewis Hamilton saugt die Atmosphäre auf dem Siegertreppchen tief in sich auf. Darauf musste er ein knappes Jahr warten, darauf hat er die gesamte Saison 2013 hingearbeitet. Seine Mechaniker klopfen voller Begeisterung auf die Absperrung unter dem Podium, die Fans strömen auf die Start-/Zielgerade des Hungarorings und zum ersten Mal erklingt die mittlerweile eingespielte musikalische Kombination bestehend aus der britischen und der deutschen Nationalhymne.

Wir beobachten die Szene mit etwas Abstand aus der Boxengasse und denken uns schon damals, an jenem heißen Sonntagnachmittag Ende Juli, dass dieser Moment vielleicht einmal ein denkwürdiger Tag werden könnte. Schließlich war es der erste Sieg des damals noch einmaligen Weltmeisters in einem Werks-Mercedes - und der letzte vor dem Beginn der Hybrid-Ära sowie der damit verbundenen silbernen Dominanz der vergangenen fünfeinhalb Saisons.

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"Das ist einer der wichtigsten Siege in meiner bisherigen Karriere", sagte Lewis direkt nach der Siegerehrung auf dem Podium, bevor er nichts ahnend anfügte: "Ich hoffe, dass noch viele weitere folgen werden." Zu diesem Zeitpunkt war es erst der vierte Grand-Prix-Erfolg von Mercedes seit der Formel-1-Rückkehr in der Saison 2010. Entsprechend konnte noch niemand ahnen, dass nur sieben Monate später zu Saisonbeginn 2014 in Melbourne der Startschuss für eine bis dahin noch nie dagewesene silberne Erfolgs-Ära fallen würde.

Knapp sechs Jahre nach jenem Sieg in Ungarn beherrscht Mercedes die Formel 1 und nicht wenige Beobachter fragen sich, ob die Mannschaft aus Brackley nicht mittlerweile das stärkste Team ist, das die Königsklasse je gesehen hat. "Wenn ich das sagen würde, wäre das arrogant", wehrt Teamchef Toto Wolff ab. "So denken wir nicht, das ist absolut nicht unsere Art. Wenn jemand in zehn oder zwanzig Jahren zurückblickt, kann er das vielleicht sagen, aber es ist nicht unsere Aufgabe, das zu beurteilen. Zunächst müssen wir die Ergebnisse abliefern." Daran besteht seit geraumer Zeit kein Zweifel. Aber welche Faktoren machen Mercedes so gut?

Aus Fehlern lernen

Die Überlegenheit von Mercedes basiert auf vielen Säulen. Eine davon sind Fehler. Wie bitte, Fehler? Ja, genau, richtig gelesen: Fehler. Okay, zugegeben, nicht sehr viele davon, aber aus diesen wird man ja bekanntlich schlauer. Aber zunächst einmal vorweg: ein Fehler alleine muss wie in jedem Sport noch nicht sofort gleichbedeutend mit einer Niederlage sein. Wenn ein Team in allen Bereichen stark besetzt ist und zusammenarbeitet, kann es den einen oder anderen Patzer auch einmal mit einem Kraftakt ausgleichen.

So zum Beispiel geschehen in dieser Saison in Monaco, als das Team Lewis Hamilton auf eine falsche Reifenstrategie setzte, er den Taktikfauxpas jedoch mit einer starken kämpferischen Leistung und wenig Hilfe von der überholfeindlichen Streckennatur gutmachen konnte. Apropos Fehler und Strategie: Obwohl auf diesem Gebiet vor allem Ferrari oft und auch zurecht Kritik einstecken muss, unterlaufen auch den Silbernen hin und wieder Fehler bei strategischen Entscheidungen.

So war der Aufschrei groß, als zu Beginn der Saison 2018 plötzlich Mercedes mal eine falsche Taktik auswählte und sich Strategiedirektor James Vowles dafür öffentlich entschuldigen musste. Auf einmal keimte Hoffnung auf: Gerät Mercedes unter Druck? Unterlaufen den überlegenen Silberpfeilen nun mehr Fehler? Wird der Titelkampf dadurch spannender? Die Antwort auf all diese Fragen lautete: nein. Mercedes reagierte wie sie auf alle Fehler, Probleme und Defekte reagieren: ruhig, ohne öffentliche Schuldzuweisungen und mit einer umfassenden Analyse.

Wie konnte es dazu kommen? Welche Abläufe, Prozesse und Maßnahmen können verbessert werden? Und: Wie lässt es sich für die Zukunft abstellen? Mit dieser Vorgehensweise sorgte Mercedes stets für die passende Reaktion auf die ohnehin schon seltenen Schwierigkeiten. Egal, ob es sich bei der Herausforderung um eine Fehleinschätzung bei der Strategie oder einen technischen Defekt handelte, der einen Ausfall herbeiführte. Das Team lernte daraus und bestand so die wichtigste Prüfung: es machte keinen Fehler zweimal. Nicht umsonst greift Teamchef Toto Wolff in solchen Situationen stets auf eine seiner Lieblingsaussagen zurück, die für die Konkurrenz durchaus als Drohung anzusehen ist: "Unsere Gegner werden diesen Tag verfluchen, da es schwierige Momente wie diese sind, die uns in Zukunft noch besser machen werden."

Von Ansprüchen & Führung

Der Markenclaim gibt die Richtung bereits vor: "Das Beste oder nichts" - so lautet der Slogan in den Werbekampagnen. Dr. Dieter Zetsche persönlich sagte uns einmal in einer Unterhaltung: "Wer das schon so lange bei uns macht, muss gut sein." Oder anders ausgedrückt: Wer nicht gut ist, wäre schon lange nicht mehr hier. Mercedes hat sich die Nummer 1 zum Ziel gesetzt - obwohl sie trotz der Seriensiege nur einmal im Vorjahr im ersten Training in Abu Dhabi auf dem Weltmeisterauto von Lewis Hamilton prangte.

Toto Wolff hat dem Team seit seinem Amtsantritt im Jahr 2013 diese Denkweise immer weiter eingeimpft. Er möchte seinen Rennstall auf jedem Gebiet als die klare Nummer 1 sehen - auf und neben der Strecke. Damit einher geht, dass Mercedes selbst nach sechs Doppel-Weltmeisterschaften in Serie nicht nachlässt und sich weder die Fahrer noch die Teammitglieder auf ihren Lorbeeren ausruhen und entspannt zurücklehnen.

Toto Wolff will das Team trotz der Erfolge auf dem Boden halten, Foto: LAT Images
Toto Wolff will das Team trotz der Erfolge auf dem Boden halten, Foto: LAT Images

Selbst nach fünf Doppelsiegen zum Beginn dieser Saison sagte Wolff gebetsmühlenartig: "Wir müssen bescheiden und mit beiden Füßen auf dem Boden bleiben." Das Team dürfe trotz der fünf erfolgreichen Jahre nichts als selbstverständlich ansehen und dürfe keinesfalls selbstgefällig werden. Wer diese Aussagen für die typischen leeren PR-Phrasen hält, die so oft im heutigen Spitzensport verkündet werden, für den hat Wolff die Antwort direkt parat: "Das sagen wir nicht nur einfach so daher, das ist tatsächlich unsere Einstellung und Mentalität im Team."

Frei nach den saloppen Worten von Sebastian Vettel während seiner Red-Bull-Zeit ausgedrückt, bedeutet dies: Sie hängen die Eier nicht in den Pool, sondern arbeiten auch nach den Erfolgen jeden Tag weiter daran, noch besser zu werden und das Auto sowie das Team in jedem noch so kleinen Detail zu verbessern und zu perfektionieren. Damit nach der Dominanz der vergangenen Jahre die Motivation stets hoch bleibt, setzt sich das Team immer wieder neue Ziele, so auch für die aktuelle Saison: "Kein Team hat es je zuvor geschafft, sechs Titel in beiden Wertungen in Folge zu gewinnen", betonte Wolff während der Saison 2019. "Wir haben den Ferrari-Rekord im letzten Jahr eingestellt und das motiviert uns, dieses Ziel zu erreichen und ihn zu übertreffen." Auf dem Weg dorthin, verliert Mercedes das große Ziel nie aus den Augen: immer und überall die Nummer 1 zu sein.

Über Ressourcen & Freiheiten

In der Anfangszeit nach dem Formel-1-Comeback im Jahr 2010 fehlten dem Team die Ressourcen, um gegen die damaligen Big Boys wie Red Bull oder Ferrari zu bestehen. Mercedes hatte auf eine Ressourcenbeschränkung gesetzt, die Konkurrenten nicht. Das sollte sich in den Folgejahren, spätestens mit dem Neuanfang 2013, ändern. Aber Ressourcen in Form von finanziellen Mitteln, technischen Anlagen wie den Werken in Brixworth und Brackley sowie weit über eintausend Mitarbeitern sind noch lange nicht alles - obwohl mittlerweile all dies längst vorhanden ist und das gesamte Jahr über auf Hochtouren läuft.

Die cleveren Köpfe in der Führungsetage, dem Designbüro und der Motorenschmiede müssen auch die nötigen Freiheiten besitzen, um sich frei zu entfalten und eigene Wege zu gehen. Kreativität und Innovation lassen sich nicht vorschreiben. Und hier kommt eine weitere Stärke des Teams aus dem letzten Jahrzehnt zum Tragen: der in diesem Jahr verabschiedete Daimler-Vorstandschef Dr. Dieter Zetsche.

Dr. Dieter Zetsche konnte häufig mit seinen Piloten feiern, Foto: LAT Images
Dr. Dieter Zetsche konnte häufig mit seinen Piloten feiern, Foto: LAT Images

Dr. Z., wie ihn Hamilton liebevoll nennt, blieb meistens im Hintergrund, war aber immer informiert und hielt dem Team gegen die internen Kritiker den Rücken frei, als es in den ersten Jahren keine Erfolge vorzuweisen gab. Auf seine Unterstützung konnte Toto Wolff immer zählen. "Ich konnte ihm zu jeder Tageszeit eine Frage stellen und wusste, dass er mir eine hilfreiche Antwort geben würde", verrät Wolff. Wie involviert Zetsche war, zeigte dessen Reaktion, als ihn Wolff eines frühen Morgens beim Duschen anrief: "Ich dachte, was hat Lewis jetzt schon wieder angestellt?"

Tatsächlich war Nico der 'Übeltäter', der als frisch gebackener Weltmeister gerade überraschend seinen Rücktritt ankündigt hatte. So sehr Zetsche dem Team auf konzernpolitischer Ebene geholfen hat, so sehr unterstützte Niki Lauda die Mannschaft auf dem schwierigen Formel-1-Parkett. Nicht umsonst bezeichnete Wolff den verstorbenen Aufsichtsratsvorsitzenden stets als einen seiner wichtigsten Sparringspartner, den Außenminister des Teams. "Wir haben ein halbes Jahr bis ein Jahr gebraucht, um uns aufeinander einzuspielen", erinnert sich Wolff. "Dann kamen wir beide zu dem Schluss, dass wir unsere Ziele früher erreichen, wenn wir am gleichen Strang ziehen." Aus der Geschäftsbeziehung wurde Freundschaft oder eine Halbfreundschaft, wie Lauda sie mit seinem Schmäh bezeichnete. So oder so aber eine höchst erfolgreiche.

Konkurrenzkampf mit Teamgedanke

Formel-1-Teamchefs sprechen gerne davon, dass sie die beste Fahrerpaarung im Feld haben. Manchmal ist dem so, oftmals eher nicht. Schließlich wollen die Bosse ihrem Team, ihren Sponsoren und nicht zuletzt ihren Piloten Mut zusprechen. Mercedes kann mit Fug und Recht behaupten, seit der Rückkehr 2010 stets eine Topfahrerpaarung gehabt zu haben. Natürlich war Michael Schumacher in seinen drei Mercedes-Jahren nicht mehr der gleiche wie in seiner Ferrari-Zeit und selbstverständlich ist Valtteri Bottas im Vorjahr in ein schweres Tief geschlittert. Nichtsdestotrotz waren allesamt Grand-Prix-Sieger, drei sogar Weltmeister.

Es zählt aber auch zu den Stärken eines Teams, wie es an einem Fahrer festhält und ihm den Rücken stärkt. Niemand hätte damit gerechnet, dass Bottas in dieser Saison wie der "Night King" aus dem finnischen Eis auferstehen würde. Viele Kritiker sahen bereits Esteban Ocon im zweiten Mercedes sitzen, hätte Bottas seinen Vertrag nicht schon zur Saisonmitte 2018 verlängert gehabt. Doch der Finne belehrte sie auf der Strecke und im Funk eines Besseren und belohnte das Team damit für das Vertrauen.

Zu Beginn der Saison war Valtteri Bottas ebenbürtig mit Lewis Hamilton, Foto: LAT Images
Zu Beginn der Saison war Valtteri Bottas ebenbürtig mit Lewis Hamilton, Foto: LAT Images

Gleichzeitig hält er sich auch in schwierigen Situationen an die Anweisungen vom Kommandostand, wie im Vorjahr in Russland. Mercedes hat aus den haarigen Situationen zwischen Hamilton und Nico Rosberg gelernt. Das Team lässt seine Fahrer, so lange sie beide WM-Chancen haben, aber weiterhin gegeneinander fahren. Eine Philosophie, die den Teamchef in der Vergangenheit schon einige Haare gekostet hat, den Zuschauern aber packende Duelle bescherte - was in diesem Jahr trotz der silbernen Überlegenheit zu einem spannenden Fight um den Titel führen könnte.

Nur eins darf dabei niemals verloren gehen: der Respekt vor dem Teamkollegen sowie der unermüdlichen Arbeit, die rund 1.500 Teammitglieder das ganze Jahr über ins Auto stecken. "Wir wollen, dass sie im Auto temperamentvoll sind, aber der Respekt muss bleiben", betont Wolff. Es soll nicht noch einmal dazu kommen, dass die Rivalität zwischen den Fahrern negativen Einfluss auf das Team hat. "Nach Nico und Lewis haben wir gelbe und rote Karten eingeführt. Aber davon sind wir weit entfernt." Das Silber-Duo wird sich also weiter gegenseitig zu Höchstleistungen antreiben. Denn ein Alphatier wie Hamilton lässt es sich garantiert nicht oft gefallen, den Kürzeren gegen seinen Teamkollegen zu ziehen.

Das Duell zwischen Lewis Hamilton und Nico Rosberg gipfelte 2016 in einer Kollision beim Spanien GP, Foto: LAT Images
Das Duell zwischen Lewis Hamilton und Nico Rosberg gipfelte 2016 in einer Kollision beim Spanien GP, Foto: LAT Images

Kontinuität mit frischen Impulsen

Vor einigen Jahren, als die großen Erfolge noch auf sich warten ließen, wurde Mercedes ein bisschen belächelt. Ross Brawn, Aldo Costa, Geoff Willis... "Wozu braucht das Team fünf Technische Direkten?", hieß es da ein wenig sarkastisch. Der Hohn blieb den Kritikern nicht erst nach den WM-Titeln Nummer 9 und 10 im Halse stecken. Der strukturelle Umbau ab der Saison 2013 hat sich bezahlt gemacht. Eine der größten Leistungen der Teamleitung ist es jedoch, nicht nur die Säulen des Erfolgs im Team gehalten zu haben, sondern gleichzeitig auch immer für frischen Schwung gesorgt zu haben.

Stillstand ist in der Formel 1 bekanntlich Rückschritt. Das gilt aber nicht nur für die technische Weiterentwicklung, sondern auch für das Personal. Ein erfolgreiches Formel-1-Team steht gleich vor zwei Herausforderungen: die altgediente Riege, die für den Aufstieg in den F1-Olymp gesorgt hat, muss entsprechend gewürdigt werden, gleichzeitig darf es aber auch die nachkommenden Talente nicht vernachlässigen.

Für die Säulen der ersten WM-Titel wie Geoff Willis oder Aldo Costa wurden in den vergangenen Jahren neue Positionen geschaffen, etwa als "Director of Digital Engineering Transformation" (wenn das nicht der beste Jobtitel im Fahrerlager ist?!) oder technischer Berater. So lief das Team nicht Gefahr, Know-how an die Konkurrenz zu verlieren. Gleichzeitig konnten aber aufstrebende Ingenieure, die sich hochgearbeitet haben und die Zukunft des Teams darstellen, mit Beförderungen belohnt werden. Andernfalls würden diese wohl das Weite suchen und ihr Talent sowie Wissen zu einem Rivalen mitnehmen.

Kontinuität ist wichtig, aber neue Akzente sind es ebenso. So übergibt Performance Director Mark Ellis in dieser Saison den Staffelstab an seinen Nachfolger Loic Serra. Nico Rosbergs früherer Renningenieur Tony Ross wechselte als Chefrenningenieur ins Formel-E-Projekt von Mercedes und machte dadurch seinen Platz an der Seite von Bottas für Riccardo Musconi frei. "Dieses Team wird von einem Jahr zum nächsten niemals komplett unverändert bleiben", betont Toto Wolff. "Es befindet sich ständig in Bewegung." Nicht umsonst ließ Wolff trotz aller Erfolge vor der letzten Saison das gesamte Designbüro umstrukturieren. Das Zauberwort lautete: frische Impulse. Das fünfte WM-Double in Folge gab ihm Recht. Und es sieht so aus, als ob damit noch lange nicht Schluss ist...

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