Formel 1 2018: Vettel-Sieg mit Glück und Mercedes-Fehler (03:36 Min.)

Unfassbar, wie sich Bilder doch ähneln können. Nach dem Formel-1-Saisonauftakt 2018 könnten wir fast die Rennanalyse des Vorjahres wieder ausgraben. Sebastian Vettel holte sich den Sieg und überholte Lewis Hamilton in der Box, weil er länger auf seinen Reifenwechsel wartete. Tatsächlich zeigen unsere Statistiken, dass die letztjährige Analyse nach dem Australien GP an diesem Wochenende wieder tausendfach angeklickt wurde. Der Vettel-Sieg 2018 also eine Kopie von dem des Vorjahres?

Vielleich eine schlechte China-Kopie. Denn es gab entscheidende Unterschiede. Grob gesagt hat Ferrari Mercedes im vergangenen Jahr in den Fehler getrieben. Das gelang, weil die Pace von Vettel 2017 im Rennen stärker war als die von Hamilton. 2018 war aber Hamilton der schnellere Mann im Rennen - und trotzdem konnte Ferrari Mercedes schlagen. Wie, das ist eine Wissenschaft für sich. Deshalb alle Details in der ersten Motorsport-Magazin.com-Rennanalyse der Saison.

Tatort Albert Park, Tatzeit Runde 18. Ferraris taktisches Spielchen beginnt, als Kimi Räikkönen am Ende der Runde in die Box abbiegt. Der Finne liegt zu diesem Zeitpunkt rund 3,5 Sekunden hinter dem Führenden Lewis Hamilton. Sebastian Vettels Rückstand als Drittplatzierter beträgt 7,5 Sekunden.

Abstände Runde 18

  • Vorsprung Hamilton auf Räikkönen: 3,5 Sekunden
  • Vorsprung Hamilton auf Vettel: 7,5 Sekunden

Mercedes ist nun in der Zwickmühle: Weil Valtteri Bottas durch seinen Unfall im Qualifying von Rang 15 aus ins Rennen ging, ist Hamilton vorne auf sich alleine gestellt. Mercedes muss sich entscheiden: Den Undercut von Räikkönen covern oder lieber draußen bleiben und das Rennen auf Sebastian Vettel ausrichten?

Mercedes entscheidet sich für Räikkönen. Eine Runde nach dem letzten Ferrari-Weltmeister kommt Hamilton zum Stopp. Schnell kristallisiert sich heraus: Der Finne ist tatsächlich die größere Gefahr. Der Overcut scheint nicht zu funktionieren, weil Vettel auf den alten Ultrasoft-Reifen Zeit verliert. In Runde 20 liegt Hamilton noch 13,0 Sekunden hinter Vettel, in Runde 25 nur noch 11,3 Sekunden.

Alles richtig gemacht diesmal - könnte man meinen. Denn als der gestrandete Haas-Bolide von Romain Grosjean ungünstig stehen bleibt, ruft die Rennleitung eine Virtuelle Safety-Car-Phase aus. Vettel nutzt die Gunst der Stunde und absolviert seinen Stopp am Ende von Runde 26 - und kommt vor Hamilton wieder auf die Strecke.

Boxenstopp-Zeiten

  • Standzeit Räikkönen: 2,39 Sekunden
  • Standzeit Hamilton: 3,03 Sekunden
  • Standzeit Vettel: 3,01 Sekunden

Tatsächlich fragten sich nicht nur viele TV-Zuschauer, wie das möglich war, auch bei Mercedes gab es lange Gesichter. "Wir haben es erst gemerkt, als wir auf dem TV-Bild gesehen haben, dass Sebastian vor Lewis rauskommt", gesteht Mercedes Motorsportchef Toto Wolff.

Ein Boxenstopp unter regulären Bedingungen kostet rund 21 Sekunden. Vettel lag aber nur 11,3 Sekunden vor Hamilton und 17,2 Sekunden vor Räikkönen. Bei einem normalen Stopp wäre er hinter den beiden wieder auf die Strecke gekommen.

Abstände Runde 25

  • Vorsprung Vettel auf Hamilton: 11,3 Sekunden
  • Vorsprung Vettel auf Räikkönen: 17,2 Sekunden
  • Zeitverlust bei regulärem Stopp: ca. 21 Sekunden

Umgangssprachlich sagt man, das Rennen wird unter VSC eingefroren. Das ist aber nicht ganz richtig: Die Abstände auf der Strecke zwischen den Piloten bleiben identisch. Der zeitliche Abstand nicht, weil die Piloten deutlich langsamer fahren als normal. Erst wenn das VSC aufgehoben wird, normalisieren sich die Abstände auf dem Zeitenmonitor wieder. Stoppt ein Pilot währen der VSC-Phase, verliert er also deutlich weniger Zeit als bei einem regulären Boxenstopp.

Doch das ist nicht alles. Während der VSC-Phase bekommen die Piloten Delta-Zeiten auf ihre Lenkräder. Die zeigt ihnen an, ob sie zu schnell oder zu langsam fahren. Die VSC-Geschwindigkeit berechnet sich nach der durchschnittlichen Zeit aus FP1 und FP2. Auf diese Zeit werden 45 Prozent draufgeschlagen.

Albert Park und seine Marshall-Sektoren, Foto: FIA
Albert Park und seine Marshall-Sektoren, Foto: FIA

Es geht aber nicht um die Rundenzeit. Das wäre viel zu ungenau. Vielmehr wird ein Profil vorgegeben, das nicht unterboten werden darf. Dafür ist die Rennstrecke in Marshall-Sektoren eingeteilt. Jeder Marshall-Sektor geht von einem FIA-Lichtsignal zum nächsten. In Melbourne gibt es insgesamt 20 solcher Sektoren. Die Piloten dürfen die vorgeschriebene Zeit nicht über einen kompletten solchen Sektor unterbieten, sonst gibt es eine Strafe. Fährt man mit einem Minus in den Sektor hinein, hat man bis zum Ende des Sektors Zeit, daraus noch ein Plus zu machen.

Es gibt aber zwei Ausnahmen: Von der ersten Safety-Car-Linie bis zur Boxenlinie gibt es keine Delta-Zeit. Das entspricht etwa dem halben Marshall-Sektor 19, schätzungsweise etwas mehr als 100 Meter. Die darf Vettel unter VSC also im Renntempo fahren, muss aber an der Boxenlinie wieder auf 80 km/h verlangsamt haben. Direkt an der SC-Linie musste Vettel noch im positiven Delta sein, von da ab machte er bis zur Boxengasse Renntempo.

Foto: FIA
Foto: FIA

Die zweite Ausnahme ist nach der Boxenausfahrt. Von dort gilt bis zur zweiten Safety-Car-Linie keine Delta-Zeit. Vettel konnte hier zwar voll beschleunigen, Zeit brachte ihm das in Relation zu Hamilton aber nicht mehr. Auf den TV-Bildern ist gut zu erkennen, wie Vettel an der Boxenausfahrt noch deutlich vor Hamilton liegt. An der Safety-Car-Linie sind es nur noch wenige Meter. Auch unter VSC fahren die Boliden auf Start und Ziel natürlich schneller als in der Boxengasse.

Foto: FIA
Foto: FIA

Mercedes: Software-Fehler kostet Hamilton den Sieg

Diese Faktoren sind aber recht einfach zu berechnen. Wieso glaubte Mercedes aber, dass Hamiltons Vorsprung reichen würde? Die Mercedes-Software spuckte schlichtweg einen falschen Wert aus. Die Silberpfeil-Ingenieure rund um Strategie-Chef James Vowles dachten, dass ein Vorsprung von elf Sekunden auch unter VSC-Bedingungen reicht, um die Führung zu behaupten.

Was genau zu dieser Annahme führte, ist noch unklar. Eine Strategie-Software ist nur so gut, wie die Daten, mit denen sie gefüttert wird. Wurde sie mit falschen Daten gefüttert oder gab es Probleme in der Simulation selbst? Mercedes nutzt diese Software bereits seit fünf Jahren, ein derartiges Problem gab es nie.

Ein Grund, warum die VSC-Phasen so extrem schwierig zu berechnen sind, ist ein Stück weit die Unvorhersehbarkeit. Das Virtuelle Safety-Car kommt ohne Vorwarnung. Je nachdem, wo sich der Pilot zu diesem Zeitpunkt gerade auf der Strecke befindet, verliert oder gewinnt er Zeit in Relation zur Konkurrenz.

In der GP2 führte genau dieses Phänomen in Monaco zu einem totalen Strategie-Chaos, bei dem am Ende kaum einer wusste, warum Artem Markelov das Rennen gewonnen hatte. Selbst Teams saßen damals stundenlang mit der Rennleitung zusammen, um den Fall zu klären.

Fährt ein Pilot beim Start des VSC in einer schnellen Passage, muss er stark auf die Bremse, um die Delta-Zeit einzuhalten. Ein Pilot in einer langsamen Sektion hingegen muss das Tempo nur minimal verringern.

Hamilton bremst bei VSC von 220 auf 76 km/h

Und tatsächlich: Hamilton befindet sich beim VSC-Start gerade beim Rausbeschleunigen aus Kurve fünf. Der Brite verlangsamt sofort von 220 auf 76 Stundenkilometer. Vettel hingegen fährt gerade auf Kurve neun zu, muss ohnehin verzögern. Wie viel dieser Faktor in Zeit ausgerdrückt genau ausmacht, lässt sich schwer sagen. Aber es kann am Ende genug sein, um über Sieg oder Niederlage zu entscheiden.

Das bittere für Mercedes: Tatsächlich hätte Hamilton nach seinem Stopp schneller fahren können. Allerdings fuhr er nur so schnell, wie er musste, um die Reifen nicht übermäßig zu beanspruchen. Durch Räikkönens frühen Stopp musste Mercedes früher kommen als geplant. Hätte Mercedes gewusst, dass der Vorsprung bei einem VSC nicht genügt, wäre Hamilton dazu angehalten worden, schneller zu fahren. "Ich glaube, dann hätte es gereicht", sagte Toto Wolff zu Motorsport-Magazin.com.

Hat Ferrari Räikkönen für Vettel geopfert?

Bleibt noch eine Frage zu klären: Opferte Ferrari Kimi Räikkönen für Sebastian Vettel? Es wäre nicht das erste Mal, dass Räikkönen die schlechte Strategie bekommt, damit Vettel am Ende gewinnt. Doch schon im ersten Rennen, bei dem Räikkönen auch noch vor Vettel liegt?

Nein, Ferrari hat Räikkönen nicht absichtlich ins Verderben laufen lassen. Druck auf den Vordermann mit einem Undercut kann man aber nur ausüben, wenn man nah dran ist. Denn dann muss der Vordermann sofort nachziehen. 7,5 Sekunden, die Vettel schon zurück lag, holt man nicht eben in ein oder zwei Runden mit frischeren Reifen auf. Deshalb war die Rollenverteilung klar. Ohne das VSC wäre Räikkönens Strategie wohl auch mehr aufgegangen als die von Vettel. Vettel hatte in diesem Fall das Glück des Schlechteren.

Formel 1 2018: Vettel-Sieg mit Glück und Mercedes-Fehler (03:36 Min.)