Die MotoGP-Saison 2023 biegt in die Zielgerade ein. Alles deutet auf einen Zweikampf um den WM-Titel zwischen Francesco Bagnaia und Jorge Martin hin. Eine durchwegs weltmeisterliche Leistung zeigte am vergangenen Wochenende in Indonesien aber keiner der beiden Anwärter. Bagnaia vermasselte das Qualifying mit Startplatz 13 und kam im anschließenden Sprint nicht über Platz acht hinaus. Martin warf im Sonntagsrennen eine komfortable Führung weg und landete im Kies.

Bagnaia und Martin haben damit nach 15 Rennwochenenden 346 beziehungsweise 328 Zähler gesammelt, was 62 beziehungsweise 59 Prozent der maximal möglichen Punkteausbeute bedeutet. Sie liegen mit diesem Schnitt weit hinter Glanzleistungen früherer Weltmeister zurück. Valentino Rossi holte 2003 89 Prozent aller möglichen Punkte, Marc Marquez kam 2019 auf 88 Prozent.

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Die Annahme, dass der WM-Fight in dieser Saison auf einem schwächeren Niveau ausgetragen wird, scheint also durchaus berechtigt. Der Wahrheit entspricht sie aber nicht. Viel eher spiegeln die Resultate von Bagnaia und Martin die Transformation wider, welche die MotoGP in den vergangenen Jahren vollzogen hat - und das gleich in mehrerlei Hinsicht.

Das Feld liegt auf technischer Ebene unglaublich eng zusammen. Alle acht Ducati-Fahrer verfügen über siegfähiges Material. Gleiches gilt für die jeweils vier Aprilia- und KTM-Piloten. Und selbst die strauchelnden Bikes von Honda und Yamaha sind gut genug für Podiumsplatzierungen oder sogar Siege, wie Marc Marquez in Motegi oder Fabio Quartararo zuletzt in Indonesien bewiesen haben. Im Gegensatz zu früheren Jahren, in denen mehrere Zehntelsekunden zwischen Spitze und Mittelfeld lagen, entscheiden nun auch für die besten Fahrer oft wenige Tausendstelsekunden über Triumph oder Debakel.

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Das musste am Wochenende in Mandalika Bagnaia am eigenen Leib erfahren. 0,099 Sekunden fehlten ihm auf den Einzug in Q2. Seine Rundenzeit aus Q1 hätte ihm in diesem finalen Qualifying-Segment sogar den fünften Startplatz eingebracht, der Sprint wäre für ihn damit zweifelsohne deutlich erfolgreicher verlaufen. Durch das eng beisammen liegende Feld kommt es in der modernen MotoGP auch zu deutlich mehr Kollisionen. Martin wurde in Assen und Silverstone in Scharmützel verwickelt, Bagnaia crashte im Frankreich-GP mit Vinales. Derartige Zwischenfälle ziehen oft auch körperliche Beschwerden nach sich. Bagnaia verletzte sich in Le Mans an Hand und Fuß, hinzu kamen weitere Blessuren wie nach dem - bis heute nicht aufgeklärten - Highsider von Barcelona, als der amtierende Weltmeister von Brad Binder überrollt wurde. Bagnaia verriet nach seinem Sieg am Sonntag in Indonesien, dass er an diesem Wochenende erstmals seit Mitte Mai völlig schmerzfrei auf dem Motorrad war.

Stürze und Kollisionen sind auch durch technische Innovationen der MotoGP-Hersteller begründet. Die aktuelle Motorradgeneration ist, was die reinen Leistungsdaten betrifft, die beste und schnellste der Geschichte. Die Maschinen sind durch Aerodynamik und Ride-Height-Devices aber auch wahnsinnig komplex geworden. Um sie korrekt zu bewegen, müssen Bagnaia, Martin und Co. eine Arbeitsweise verfolgen, die eher Ingenieuren als MotoGP-Piloten entspricht. Ein klassisches 'Überfahren' des Motorrads, wie es etwa Kevin Schwantz oder in jüngerer Vergangenheit auch Marc Marquez erfolgreich praktiziert haben, ist mit diesen Bikes nicht mehr möglich. Überlastete Vorderreifen und Luftverwirbelungen durch die aerodynamischen Anbauten machen außerdem jedes Überholmanöver zu einer Gratwanderung.

Die Fahrer sind also mit extrem empfindlichen und komplizierten Motorrädern konfrontiert, gleichzeitig haben sie aber kaum noch Zeit, sich an diese zu gewöhnen und sie korrekt abzustimmen. Vor beziehungsweise während der MotoGP-Saison 2023 gab es für die Einsatzpiloten lediglich neun Testtage und auch am Rennwochenende selbst wurde die Abstimmungsarbeit in diesem Jahr durch das neue Sprintformat und weniger Trainingssitzungen erschwert.

In der modernen MotoGP ist es also auch für Ausnahmetalente schwieriger, fahrerisch den entscheidenden Unterschied zu machen. Gleichzeitig sind sie einem größeren Sturz- beziehungsweise Kollisionsrisiko ausgesetzt. Und deutlich häufiger als in der Vergangenheit gehört im Tausendstelkampf der Königsklasse auch eine gehörige Portion Glück dazu, um erfolgreich zu sein. Bewertet man die Leistungen der aktuellen Generation, müssen diese Faktoren berücksichtigt werden. Von Valentino Rossi oder Marc Marquez wurden schließlich auch nie Siege mit mehreren Minuten Vorsprung erwartet, die zu Zeiten eines Giacomo Agostini noch gang und gäbe waren.