Die Formel E startet nach einer fünfmonatigen Winterpause am kommenden Wochenende in ihre zehnte Saison. Vor dem Auftakt in Mexiko-City (Samstag, 13. Januar ab 21:00 Uhr live bei DF1) stellt Motorsport-Magazin.com acht Thesen für die Saison 2024 der Elektro-Weltmeisterschaft auf. Am Jahresende blicken wir zurück, was daraus geworden ist.

These 1: Porsche wird endlich Weltmeister

Porsche als letzter verbliebener Autobauer aus Deutschland steht vor seiner fünften Saison als Werksteam. 2023 waren die Porscheaner so nah am Titelgewinn dran wie nie zuvor, doch im letzten Saisondrittel brach Titelanwärter Pascal Wehrlein spürbar ein und musste sich am Ende mit dem vierten Gesamtplatz hinter Weltmeister Jake Dennis ausgerechnet im Kunden-Porsche von Andretti begnügen.

Bekommt Porsche endlich sein langwieriges Problemthema, die Pace im Qualifying, in den Griff, zählen die Zuffenhausener auch 2024 wieder zu den Titelfavoriten. Dabei sollte man nicht nur den starken Wehrlein auf dem Zettel haben, sondern auch Teamkollege Antonio Felix da Costa. Der Portugiese gewann schon 2020 mit DS Techeetah dominant die Weltmeisterschaft, hatte in seinem ersten Jahr bei Porsche aber zu kämpfen.

Mit der gesammelten Erfahrung und seinem vollen Fokus auf die Formel E - weitere Starts in der WEC sind ihm nicht erlaubt - muss man 'DAC' definitiv auf dem Zettel haben. "Der wird das Biest in sich herauskehren", glaubte auch der frühere Maserati-Teamchef und heutige TV-Experte, James Rossiter, der Felix da Costa aus gemeinsamen DS-Zeiten kennt.

These 2: Wehrlein und Dennis legen ihre Streitigkeiten bei

Es war so etwas wie das Hass-Duell im ansonsten eher umgänglichen Formel-E-Fahrerlager. Der Streit zwischen Porsche-Werksfahrer Pascal Wehrlein und Andretti-Porsche-Pilot Jake Dennis ging so weit, dass sich die beiden am Ende nicht mehr grüßten und über die Medien respektive am Teamfunk übereinander herzogen. "Typisch Pascal", beschwerte sich der Brite noch beim Saisonfinale in London über eine aus seiner Sicht unterlassene Hilfestellung des früheren DTM-Champions und Formel-1-Fahrers.

Nach dem Saisonende soll sich die Lage entspannt haben, wie schon bei den Testfahrten in Valencia im Oktober 2023 zu hören war. Wie The Race berichtet, hat Dennis jetzt sogar eine WhatsApp-Gruppe für die vier Fahrer von Porsche und Andretti angelegt, um Themen auf kurzem Wege intern klären zu können. "Das ist wirklich hilfreich", sagte Dennis. "Und innerhalb der Gruppe kommuniziert er (Wehrlein) gut. Ich denke, wir sind zurück an dem Punkt, wo wir uns wieder grüßen, was gut ist."

Der Streit zwischen den beiden war vor allem nach einer Reihe von harten Duellen auf der Strecke ausgebrochen. Kommen sich Wehrlein und Dennis beim Kampf um den Titel erneut ins Gehege, könnte es angesichts dieser beiden sehr ambitionierten Fahrer allerdings schnell wieder rumpeln.

Jake Dennis und Pascal Wehrlein beim Formel-E-Rennen in London
Rivalen der Rennbahn: Jake Dennis und Pascal Wehrlein, Foto: DPPI/Hankook

These 3: Energiespar-Schlachten werden noch extremer

Peloton-Racing oder Windschatten-Duelle nennen es die einen, Energiespar-Schlachten die anderen. Was blieb, waren vorrangig Rennen mit den neuen Gen3-Autos, in denen lange Zeit kein Fahrer führen wollte. Was für eine kuriose Art des Rennsports! Ein Ende und die Rückkehr zum klassischen Racing ist aktuell nicht in Sicht - eher das Gegenteil dürfte der Fall sein.

Die Teams haben durch die vergangene Saison gelernt, ihre Strategien zu verfeinern. Zwar müssen die Autos wegen der zweijährigen Homologation technisch unverändert bleiben, doch an der so wichtigen Software durfte fleißig getüftelt werden.

Mit optimierten Taktiken und dem Erfahrungsschatz dürften die Rennen ohne Schnelllade-Boxenstopps (mehr dazu weiter unten) wieder eine enge Angelegenheit mit zahllosen Positionswechseln - ausdrücklich nicht 'Überholmanövern' - werden. Wer sich am besten positionieren kann und das Optimum aus seinem Antriebsstrang herausholt, ist der Favorit. In den Rennen 2023 hatte das Jaguar-Paket am Ende die Nase vor Porsche.

These 4: Werksteams lassen sich nicht mehr auf der Nase rumtanzen

Es war schon verrückt: Mit Jake Dennis gewann ein Fahrer aus einem Kundenteam die Weltmeisterschaft, während sich in der Team-Wertung mit Envision-Jaguar ebenfalls ein Kunde gegen die Werksmannschaften durchsetzen konnte. Eigentlich undenkbar im heutigen Motorsport!

Experten vermuten, dass sich die Kundenteams 2024 deutlich schwerer tun werden gegen die Werks-Konkurrenz. Das erste Jahr mit den Gen3-Autos bedeutete eine steile Lernkurve und gerade die Werke waren damit beschäftigt, das zuvor unbekannte Paket zusammenzubekommen. Davon profitierten die kleineren Kundenteams wie Andretti (Porsche), Envision (Jaguar) oder Maserati (DS), die sich voll auf die Rennwochenenden konzentrieren konnten.

Dass die Kunden ihren Lieferanten auf der Nase herumtanzten, wurde von den Verantwortlichen in der Öffentlichkeit zwar gewürdigt, aber intern brodelte es. "In der Formel E wollen wir mehr als nur das Fahrzeug für den Weltmeister stellen. Wir wollen den Teamsieg holen", kündigte Porsche-Entwicklungsvorstand Michael Steiner zuletzt auf der Saisonabschlussfeier in Weissach an. 2024 dürften die Verhältnisse wieder zurechtgerückt werden, wenngleich die professionell aufgestellten Kundenteams alles andere als zu unterschätzen sind.

These 5: Abt-Cupra sorgt für faustdicke Überraschung

Abt Sportsline bekam bei seinem letztjährigen Comeback als Kundenteam von Mahindra wegen des schwachen Antriebsstrangs mehr auf die Mütze als jemals zuvor in seiner langen Motorsportgeschichte. Die Äbte auf dem letzten Platz? Das ist man beim Rennstall aus Kempten, der in Mexiko-City sein 100. Rennen in der Formel E bestreitet, nicht gewöhnt.

Dass die Stimmung trotzdem gut blieb und mit der Doppel-Pole im Regen von Berlin eine Sensation gelang, liegt an der Eingespieltheit der Truppe um Teamchef Thomas Biermaier. Abt-Cupra ist erneut von der Performance des Mahindra-Pakets abhängig, hat aber ein neues bzw. altes Ass im Ärmel: Lucas di Grassi, der nach nur einem Jahr beim indischen Team zu den Äbten zurückgekehrt ist.

Wenn ein Fahrer in der Formel E für magische Momente zuständig ist, dann der Brasilianer, der Abt Sportsline schon 2017 zum Fahrer-Titel geführt hatte. Di Grassi ist und bleibt der Schlaufuchs der Elektro-WM, wie er letztes Jahr mit dem rückblickend völlig überraschenden Podestplatz in seinem 'Wohnzimmer' Mexiko-City (2 Siege) belegte. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist Teamkollege Nico Müller, der seinen Schlüsselbeinbruch auskuriert hat. Da sich Motorenlieferant Mahindra im großen personellen Umbruch befindet, könnten die Äbte mit all ihrer Erfahrung im internen Duell die Nase vorne haben.

These 6: Nyck de Vries' Comeback gestaltet sich schwierig

Nyck de Vries war der Königstransfer auf dem turbulenten Fahrermarkt während der Winterpause. Nach seinem Rauswurf aus der Formel 1 hat der Formel-E-Weltmeister von 2021 bei Mahindra angeheuert. In seinen drei Jahren beim Mercedes-Werksteam (2019/20 bis 2021/22) arbeitete der Niederländer mit einem hochprofessionellen und eingespielten Team, das obendrein den besten Antriebsstrang entwickelt hatte.

Bei Mahindra sehen die Verhältnisse etwas anders aus: Der Motor des indischen Automobilgiganten war der schwächste im Starterfeld und darf technisch nicht verändert werden. Dafür hat das Team um CEO Frederic Bertrand hinter den Kulissen einen großen Umbruch eingeleitet und mit Tony Ross (früher mit de Vries bei Mercedes) sowie Jeremy Colancon (Formel-E-Ingenieur des Jahres) zwei absolute Fachmänner verpflichtet.

Bis die neue, perspektivisch zusammengestellte Führungsmannschaft eingespielt ist, dürfte aber eine ganze Weile vergehen. Das bekommen de Vries und Neuzugang Edoardo Mortara trotz ihrer unbestrittenen Qualitäten in der Saison 2024 auf der Strecke zu spüren.

These 7: Maximilian Günther siegt weiter

Maximilian Günther gilt in der Öffentlichkeit nicht als 'Lautsprecher', sondern lässt lieber die Ergebnisse auf der Rennstrecke für sich sprechen. Und die können sich seit mehreren Jahren mit konkurrenzfähigen Autos sehen lassen! Günther bescherte Neueinsteiger Maserati beim Formel-E-Einstieg den ersten Podestplatz (Berlin), die ersten Pole Positions sowie in Jakarta den ersten Sieg. Seinen ansonsten starken Teamkollegen und Ex-Vizeweltmeister Edo Mortara hatte der Allgäuer nach Belieben im Griff.

Gegen die starken Porsche und Jaguar dürfte es für Günther und sein DS-Kundenteam Maserati erneut schwierig werden, Hoffnungen auf mindestens den fünften Formel-E-Sieg darf sich der 26-Jährige aber locker ausrechnen. Was ihm eher weniger hilft: Maserati hat zum Saisonstart noch immer keinen neuen Teamchef als Nachfolger von James Rossiter präsentiert und reist mit einer Interims-Lösung nach Mexiko. Von seinem neuen Teamkollegen - dem Inder Jehan Daruvala als einzigem Rookie im Starterfeld - dürfte auch keine allzu große Hilfe zu erwarten sein.

These 8: Bei Jaguar fliegen die Fetzen

Das Jaguar-Werksteam mit Mitch Evans und Neuzugang Nick Cassidy zählt zu den ganz großen Titelfavoriten. Evans jagt dem WM-Gewinn seit mehreren Jahren hinterher, zog am Ende aber stets den Kürzeren. Seine Bilanz zuletzt: Platz 3 2023, Platz 2 2022, Platz 4 2021. In der abgelaufenen Saison musste der Neuseeländer mehrfach gute Miene zum bösen Spiel machen, als er zweimal von Teamkollege Sam Bird abgeräumt wurde. Das könnte ihn die Weltmeisterschaft gekostet haben.

Dass sein neuer Teamkollege Cassidy 2023 knapp am Titel vorbeischrammte, geht allerdings auch auf Evans' Konto nach dem verursachten Start-Unfall beim Rennen in Rom. Evans und Landsmann Cassidy kennen sich seit Kindesbeinen an aus dem Kartsport und gelten als Freunde. Auch sind beide höchst diplomatisch unterwegs und sparen sich Team-Kritik in der Öffentlichkeit. Mit dem starken Jaguar stehen die Titelchancen allerdings bestens, ein Jaguar-Zweikampf um die Weltmeisterschaft ist nicht auszuschließen. Da könnten trotz der Freundschaft durchaus mal die Fetzen fliegen, wenn auch möglicherweise nur intern.

Mitch Evans und sein neuer Jaguar-Teamkollege Nick Cassidy am Donnerstag vor dem Mexiko-City ePrix 2024.
Neue Teamkollegen bei Jaguar: Mitch Evans und Nick Cassidy, Foto: LAT Images

These 9: Schnelllade-Boxenstopps sorgen für Chaos

Diese Saison sollen die Schnelllade-Boxenstopps mit einem Jahr Verzug endlich kommen und die Formel E erstmals seit Gen1-Zeiten zu Pflicht-Boxenstopps zurückkehren. Die Premiere dieser Technologie wird allerdings erst zum fünften Rennwochenende, dem Double-Header in Misano Mitte April, erwartet. Nicht alle Vertreter im Fahrerlager sind Freunde davon, während einer laufenden Saison die Regeln im Rennen anzupassen...

Zwar können die Teams das 'Attack Charging' - wie wir berichtet hatten - in mehreren Freien Trainings erproben, unter realen Bedingungen im Rennen könnte es aber einiges an ungeplantem Chaos geben. Eine Sorge: Das Feld wird durch die Boxenstopps stark auseinandergerissen und verhindert das enge Racing, mit dem sich die Formel E üblicherweise auszeichnet.

Auch könnte es einige Strafen wegen falscher Abläufe am Boxenplatz hageln. Und es wird nicht einfach sein, dem normalen Motorsport-Fan zu erklären, dass es nur bei ausgewählten Rennen Boxenstopps geben wird, die am Ende einen großen Einfluss auf die Meisterschaft haben können.

Was es mit den neuen Schnelllade-Boxenstopps in der Formel E genau auf sich hat, kannst du in diesem Artikel nachlesen: