Was mit großen Zweifeln begann, fand ein mehr als versöhnliches Ende. Die neunte Saison der Formel E sowie die erste mit dem brandneuen Gen3-Rennwagen sorgte für Spannung und Spektakel. In einem packenden Drei- bis Vierkampf um die Weltmeisterschaft setzte sich Jake Dennis aus dem Porsche-Kundenteam Andretti durch, in der Team-Wertung sorgte der Jaguar-Kunde Envision für eine ähnlich große Sensation.

Ebenso brachten sieben unterschiedliche Sieger, zwölf Fahrer auf dem Podium und zehn verschiedene Pole-Setter die nötige Abwechslung im Verlauf der 16 Saisonrennen. Dabei war eine Hierarchie durchweg deutlich erkennbar: Die Hersteller Jaguar und Porsche holten mit ihren selbstentwickelten Antriebssträngen allein 1.090 Punkte und damit fast doppelt so viele wie Nissan, DS, Mahindra und NIO zusammen (590).

Formel-E-Entwickler Treluyer zieht positives Fazit

Auf einen derartigen Saisonverlauf hätte im Vorfeld wohl kaum jemand Geld gewettet. Vielmehr überwogen Sorgen und Sicherheitsbedenken mit Blick auf den neuen, 350 kW (476 PS) starken Gen3-Rennwagen, dessen ohnehin relativ kurzer Entwicklungszeit auch noch die Corona-Krise sowie Lieferengpässe arg zu schaffen machten. Zweifel an der Zuverlässigkeit waren vor dem Saisonauftakt in Mexiko-City im Januar 2023 durchaus berechtigt.

Dass sich trotz einiger Stolpersteine und Nachbesserungen wie dem Notfall-Bremssystem und den größeren Rückspiegeln am Ende alles zum Guten wendete, dürfte auch Benoit Treluyer gefallen haben. Der dreifache Le-Mans-Sieger und langjährige Audi-Werksfahrer war maßgeblich an der Entwicklungsarbeit des Gen3-Autos beteiligt, nachdem er bereits in die Vorgängerautos der Formel E involviert war.

"Es gab Empfehlungen von der FIA, von den Teams, von allen", blickte Treluyer im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com auf die Entwicklungsphase zurück. "Es ist sehr anspruchsvoll, und man investiert viel Energie, um den besten Kompromiss zu finden. Wenn man am Ende der Saison sieht, dass alle zufrieden sind, wenn es tolle Kämpfe zwischen den Teams gab und man sieht, wie die Autos mit ordentlich Grip aus der letzten Kurve herauskommen, macht einen das schon stolz."

Benoit Treluyer mit Hankook bei der Formel E in London 2023
Benoit Treluyer ist Entwicklungsfahrer für die Formel E und Hankook, Foto: DPPI/Hankook

"Die Leute beschweren sich nun weniger"

Apropos Grip: Neben der Einführung des Gen3-Autos erlebte die Formel E mit dem Debüt der Hankook-Reifen ein weiteres Novum. Der Reifenhersteller aus Südkorea löste Michelin nach acht Jahren als Lieferant ab. Und die Allwetterreifen waren bei den Vorsaison-Testfahrten in Valencia gleich ein großes Thema. Mehrere Fahrer beschwerten sich über mangelnden Grip, und die ersten Rundenzeiten auf der permanenten Rennstrecke in Spanien lagen hinter den Erwartungen.

"In Valencia haben viele Teams sich über die Performance beschwert", bestätigte Treluyer, der sowohl den Testfahrten als auch dem Saisonfinale in London beiwohnte. "Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sowohl das Auto als auch die Teams stetige Verbesserungen benötigen. Sie mussten erst herausfinden, wie sie die Reifen optimal nutzen können. In London ist mir aufgefallen, dass sich die Leute nun weniger beschweren. Sie haben verstanden, wie Autos und Reifen funktionieren und wie man das Setup unter verschiedenen Bedingungen einstellen muss."

Formel E 2023: Top-10 der besten Überholmanöver (06:41 Min.)

FIA gibt Marschroute für Formel-E-Reifen vor

Was zahlreiche Beobachter zunächst nicht verstanden oder verstehen wollten: Nicht der Formel-E-Neueinsteiger Hankook entschied darüber, welche Eigenschaften die Rennreifen haben sollen. Verantwortlich dafür war die FIA, die in erster Linie auf die Sicherheit und fairen Wettbewerb bedacht ist. Bei den Michelin-Reifen traten unter nassen Bedingungen Schwierigkeiten auf, etwa bei den Crash-Rennen in Paris 2019 und New York 2022. Mit zunehmendem Reifenverschleiß gerieten die Fahrer bei Regen in Schwierigkeiten.

Damit sich ein derartiges Schauspiel nicht wiederholt, forderte der Automobil-Weltverband einen Reifen, der auch im Nassen von Anfang bis Ende funktioniert. Wenig überraschend wirkte sich diese Vorgabe der Steifigkeit auf das Verhalten auf trockener Piste aus. Bei den Regenschlachten in Berlin (Qualifying) und dem letzten Saisonrennen in London gelang es den Fahrern, ihre Autos trotz der äußerst widrigen Bedingungen auf der Strecke zu halten.

Manfred Sandbichler: "Reifen angekommen und akzeptiert"

"Unser Fazit ist durchweg positiv", sagte Manfred Sandbichler, Hankook Motorsport-Direktor Europe. "Der Hankook iON Race ist in der Formel E angekommen und voll akzeptiert. Er verhält sich genauso, wie es vor der Saison gefordert war. Besonders herauszuheben ist, dass wir in der gesamten Saison nicht einen Produkt-bedingten Reifenschaden zu verzeichnen hatten."

Le-Mans-Ikone Treyluer: "Vor Beginn der Saison wusste ich, dass es Kommentare von den Fahrern geben würde. Sie erwarten immer perfekten Grip. Aber wenn das Ziel ist, einen so breiten Einsatzbereich abzudecken, kann man nicht in allen Bedingungen perfekt sein. Das wäre, als ob man die Eigenschaften eines Lieferwagens mit denen eines Supersportwagens haben möchte. Es ist ein Kompromiss. Das gilt auch für die Reifen."

Hankook-Motorsportdirektor Manfred Sandbichler und Hankook-Chefingenieur Thomas Baltes bei der Formel E
Hankook Motorsport-Direktor Europa Manfred Sandbichler mit Hankook-Chefingenieur Thomas Baltes, Foto: DPPI/Hankook

Erste Formel-E-Testfahrten mit umgebauten Formel-2-Auto

In der Entwicklungsphase testeten die Formel E samt Partner Spark Technologies, die FIA und Hankook zahlreiche unterschiedliche Reifenmischungen. Treluyer selbst habe sich zwischenzeitlich für einen Reifen mit stärkerem Grip ausgesprochen, ruderte nach einem Testeinsatz aber zurück: "Am Ende haben wir es versucht, und das Fahren bei Nässe war beängstigend."

Eine knifflige Aufgabe, nicht zuletzt, weil die ersten Gen3-Testfahrten mit einem angepassten Formel-2-Auto ohne den Gen3-Frontmotor durchgeführt wurden. Bekanntermaßen verfügte das Auto zu Beginn nur an der Hinterachse über eine hydraulische Bremse. "Wir mussten unter anderem vorhersehen, dass der Aufwärmprozess der Bremsscheiben anders sein würde als beim neuen Formel-E-Auto", erklärte Treluyer weiter. "Das war nicht einfach, das kann ich sagen!"

Pascal Wehrlein mit Porsche beim Formel-E-Saisonfinale 2023 in London
Die Formel E bestritt 2023 ihre neunte Saison seit dem Debüt, Foto: DPPI/Hankook

8 bis 60 Grad: Härtetest für Hankook-Reifen

In der Saison 2023 wurden Auto, Reifen und die Batterie mehrfach auf die Probe gestellt. "Der Reifen hat auf ganzer Linie überzeugt", fand Hankook-Chefingenieur Thomas Baltes. "Und das bei den unterschiedlichsten Bedingungen. In Mexiko bei kühlen 8 Grad und in Rom bei heißen 60 Grad Streckentemperatur, im Regen in Berlin und auf Staub in Indien und natürlich auf verschiedensten Untergründen. Die Performance war immer da."

Nur ein Beispiel: Auf dem temporären Kurs im Londoner Hafengebiet wurden die Fahrer mit acht unterschiedlichen Bodenbelägen konfrontiert. Zwar konnte Hankook vor der Saison einiges im hauseigenen Simulator vorbereiten, doch die Ingenieure des Reifenherstellers wurden vor Ort unter realen Bedingungen immer wieder vor Überraschungen gestellt. Zwar blickt Hankook auf eine große Erfahrung im Motorsport zurück, darunter eine zehnjährige Partnerschaft mit der DTM, doch temporäre Stadtkurse in Hyderabad, Kapstadt Sao Paulo oder Jakarta bringen ihre ganz eigenen Tücken mit sich.

Pressekonferenz mit Hankook beim Formel-E-Saisonfinale in London
Hankook-Pressekonferenz in London mit Felix Kinzer, Nico Müller, Manfred Sandbichler, Benoit Treluyer und Thomas Baltes (v.r.), Foto: DPPI/Hankook

Altes und neues Formel-E-Auto im Vergleich

Ein Anstieg der Performance mit zunehmender Erfahrung und gesammelten Daten war mit dem Fortschreiten der Saison 2023 erkennbar. Beim fünftletzten Rennen im US-amerikanischen Portland stellte der spätere Weltmeister Jake Dennis mit 168,2 km/h einen neuen Durchschnitts-Rundenrekord auf. Gleichzeitig erreichte Mitch Evans mit einer Geschwindigkeit von 276,6 km/h einen neuen Topspeed-Bestwert in der Geschichte der Formel E.

Bei direkten Vergleichen spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Jedoch zeigte sich beim diesjährigen Formel-E-Gastspiel in Berlin, dass Jake Dennis im Gen3-Auto mit der besten Rennrunde des Wochenendes (1:06.604 Minuten) immerhin 1,2 Sekunden schneller war als Nick Cassidy 2022 (1:07.849 Minuten) an gleicher Stelle mit dem Gen2-Vorgänger. Auf dem Formel-1-Kurs in Monaco lag die Differenz im Rennen bei etwa 1,6 Sekunden zwischen den beiden Auto-Generationen.

"Es gibt immer Raum für Verbesserungen, aber mit der ersten Saison können wir glücklich sein", zog Treluyer eine positive Bilanz zur Premierensaison mit dem Gen3-Auto und den Hankook-Reifen. "Beschwerden wird es immer geben, weil ein Rennfahrer niemals happy ist, wie ich ja selbst nur zu gut weiß. Aber andernfalls wäre man dann auch kein richtiger Wettbewerber!"