Die Analyse des Türkei GP 2021 ist spannender als das Rennen selbst. Viel war auf der Strecke nicht los beim Gastspiel am Bosporus. Nur gegen Rennende wurde es etwas aufregender, weil einige Piloten und Teams bei der Strategie etwas riskierten. Große Aufregung gab es rund um Lewis Hamilton.

Der Weltmeister kam als letzter Pilot an die Box. Erst in Runde 50 wechselte er von abgefahrenen Intermediates auf frische Intermediates. Der Brite schimpfte anschließend am Funk: "Scheiße, hey, warum haben wir den Platz aufgegeben?"

Nach dem Rennen nahm er sein Team in den Schutz: "Du musst du auf dein Team vertrauen, die Entscheidungen akzeptieren, die sie treffen und hoffen, dass es die richtigen sind. Ich sage immer: Wir gewinnen und verlieren als Team. Ich habe heute auf das Team gehört." Bei genauer Betrachtung eine astreine Lüge.

Hamilton & Mercedes debattieren: Stopp oder kein Stopp?

Warum Hamilton sauer war? Er wollte gar nicht zum Stopp kommen. Sobald in einem Rennen Regenreifen oder Intermediates aufgezogen werden, wird die Regel, mit mindestens zwei verschiedenen Mischungen zu fahren, nichtig. Einen Pflicht-Boxenstopp gibt es in der Formel 1 nicht.

"Wir hätten nicht reinkommen sollen. Ich habe massives Graining. Ich habe es euch gesagt", wiederholte Hamilton seine Kritik am Funk. War der Boxenstopp tatsächlich ein Fehler? In Runde 49 lag Hamilton auf Rang drei. Valtteri Bottas und Max Verstappen vor ihm hatten schon gestoppt, sie lagen außer Reichweite für ihn.

Hinter Hamilton lagen Charles Leclerc und Sergio Perez. Leclerc, der gerade erst gestoppt hatte, hatte gute 10 Sekunden Rückstand. Perez, der in Runde 37 zum Reifenwechsel gekommen war, lag weitere zwei Sekunden dahinter.

Runde 46

POSFahrerReifenwechselRückstand
1LeclercNein
2BottasJa0,104
3VerstappenJa6,466
4HamiltonNein10,858
5PerezJa25,083

Runde 49

POSFahrerReifenwechselRückstand
1BottasJa
2VerstappenJa7,736
3HamiltonNein13,713
4LeclercJa24,525
5PerezJa26,231

Durch den Stopp in Runde 50 verlor Hamilton die beiden Positionen an Leclerc und Perez und fuhr schließlich auf Rang fünf ins Ziel. Hamiltons Ärger war so groß, weil er auf den frischen Intermediates nicht schneller fahren konnte als auf den abgefahrenen alten Reifen.

Ziel

POSFahrerReifenwechselRückstand
1BottasJa
2VerstappenJa14,584
3PerezJa33,471
4LeclercJa37,814
5HamiltonJa41,812

Das lag an einer Besonderheit. Intermediates werden normalerweise bei abtrocknenden Bedingungen aufgezogen. Zu Beginn, wenn noch mehr Wasser auf der Strecke ist, hat der Reifen noch ein Regenprofil. Mit anhaltender Nutzung verliert er Gummi und das Profil.

Der Intermediate von Valtteri Bottas: Auf der Kontaktfläche wurde das Profil vollständig abgerieben, Foto: LAT Images
Der Intermediate von Valtteri Bottas: Auf der Kontaktfläche wurde das Profil vollständig abgerieben, Foto: LAT Images

Das hat zwei positive Effekte: Einerseits schützt er sich durch den Verschleiß vor Überhitzen. Andererseits wird der Intermediate zunehmen zu einem Slick. Bei den seltsam feuchten Streckenbedingungen in Istanbul ein durchaus willkommener Effekt.

Hamilton wird Opfer des Intermediate-Reifens

Weil Hamilton - wie auch Charles Leclerc - so spät im Rennen auf frische Intermediates wechselte, war die Strecke zu diesem Zeitpunkt schon sehr trocken. Die extrem weiche Intermediate-Reifenmischung ist auf so etwas nicht ausgelegt und beginnt zu grainen. Aber Hamilton legte auf seiner ersten fliegenden Runde los wie die Feuerwehr. Mercedes stachelte ihn an, er könne mit den frischen Reifen gleich eine schnellste Rennrunde fahren. Runde 52 war mit 1:32,763 Minuten sofort richtig schnell.

Dann aber lief Hamilton auf Leclerc auf und der Graining-Effekt traf ihn. Die Rundenzeiten sackten zwei Runden in den tiefen 1:35-Bereich ab. Danach kam der Intermediate aber wieder zurück - denn Graining erhöht den Reifenverschleiß, und gleichzeitig sorgten die aggressiven Bedingungen ohnehin schon für einen hohen Verschleiß. Durch diese Effekte löste sich die Gummi-Körnung an der Oberfläche schnell auf, weil der Reifen so viel Gummi verlor.

Die starke Belastung der ersten Runden hatte Teile des Profils und das Graining wegradiert. Die Rundenzeiten wurden wieder schneller. Die Performance-Kurven von Hamilton und Leclerc nach dem Stopp verlaufen fast parallel.

Hamilton konnte deshalb die frischen Reifen in den letzten neun Runden nicht wirklich nutzen. War der Stopp deshalb aber falsch? Zu einhundert Prozent lässt sich diese Frage nicht klären. Wäre Hamilton mit konstanter Pace durchgefahren, wäre er vor Leclerc geblieben. Gegen Sergio Perez wäre es eng geworden, er hätte den Mexikaner aber hinter sich gehalten.

Ocon als Beweis: Später Hamilton-Stopp besser als gar keiner

Allerdings wäre der Poker nur aufgegangen, wenn Hamilton mit konstanter Pace weitergefahren wäre. Esteban Ocon trat den Gegenbeweis an. Der Alpine-Pilot kam als einziger Pilot nicht zum Stopp. Er erkämpfte sich zwar einen Punkt, setzte aber trotzdem auf die falsche Strategie.

Gegen Lance Stroll, der in Runde 39 zum Reifenwechsel kam, verlor Ocon von diesem Zeitpunkt an bis zum Rennende fast 30 Sekunden. Ein Boxenstopp kostete etwa 20 Sekunden. Während Stroll in den ersten neun Runden nur gut vier Sekunden auf Ocon aufholte, gingen dessen Reifen in den letzten acht Runden komplett ein. 25 Sekunden verpufften.

Hätte Hamilton dieses Schicksal ereilt, hätte er auch noch Platz fünf an Pierre Gasly verloren. Gleichzeitig bestand das Risiko eines Reifenschadens. "Im WM-Kampf muss man an einem Punkt damit aufhören, Risiken zu nehmen und stattdessen Verluste zu minimieren", erklärt Mercedes' Strecken-Chefingenieur Andrew Shovlin die Entscheidung des späten Stopps.

Hamilton verpasst besten Stopp-Zeitpunkt selbst

Das Problem war tatsächlich nicht, dass Hamilton am Ende doch noch stoppte. Das Problem war, dass Hamilton nicht früher stoppte. Vor den Boxenstopps lag er in Runde 35 auf Rang fünf, 26 Sekunden hinter der Spitze fuhr er direkt hinter Sergio Perez.

Runde 35

POSFahrerReifenwechselRückstand
1BottasNein
2VerstappenNein5,854
3LeclercNein7,994
4PerezNein25,955
5HamiltonNein26,385

Runde 38

POSFahrerReifenwechselRückstand
1LeclercNein
2BottasJa6,81
3VerstappenJa11,624
4HamiltonNein14,505
5PerezJa32,378

In Runde 36 stoppte Verstappen, in Runde 37 kamen Bottas und Perez. Nun wollte Mercedes auch Hamilton zum Reifenwechsel holen. Doch der Weltmeister weigerte sich. "Warum?", fragte er am Funk und kam einfach nicht, obwohl die Crew schon in der Boxenstraße wartete und Renningenieur Peter Bonnington klar "Box, Box" ausgerufen hatte.

Hamilton & Mercedes verzetteln sich mit Warten auf Slick-Wechsel

Hamilton sah die Strecke abtrocknen und rechnete damit, dass gegen Rennende Slick-Bedingungen herrschen würden. Deshalb wollte er später direkt von Intermediates auf Slicks wechseln. "Wenn es abgetrocknet wäre, dann hätten wir mit Lewis um den Sieg gekämpft, weil er keinen Extra-Stopp einlegen musste", rechnet Shovlin vor.

Mercedes konnte die Bedenken des erfolgreichsten Formel-1-Piloten der Geschichte durchaus nachvollziehen. Als Hamilton einmal an der Box vorbeifuhr, waren die Strategen auf Hamiltons Seite. "Wir dachten: Abwarten", gesteht Shovlin. "Vielleicht würde er es auch auf dem alten Satz Intermediates schaffen und Platz drei einfahren."

Dass 'Abwarten' die schlechteste Entscheidung war, zeigen die Rückstände. In Runde 35 lag Hamilton 26 Sekunden hinter Spitze, im Ziel waren es 42 Sekunden. Perez, der im deutlich langsameren Auto saß, lag in Runde 35 noch gleichauf mit Hamilton. Die karierte Flagge sah der Mexikaner acht Sekunden vor ihm.

"Wir hätten die Entscheidung früher gebraucht", sieht Shovlin ein. "Es ist ein absoluter Fakt, dass wir früher auf Intermediates hätten wechseln müssen, um das Rennen mit Perez auf der Rennstrecke auszutragen." Mercedes wollte die Entscheidung früher, doch Hamilton kam einfach nicht zum Stopp - und verschenkte so die Chance auf Rang drei.

Hamilton gaukelt Teamplayer vor! Selbst WM-Titel weggeworfen? (18:23 Min.)