Gesamtsieger des 24h-Rennen Nürburgring 2017 und 2022, ADAC-GT-Masters-Champion 2014 und 2019 sowie viermaliger DTM-Rennsieger: Kelvin van der Linde kann man getrost zu den talentiertesten Rennfahrern der Welt zählen. Dass dem Südafrikaner genau wie seinem jüngeren Bruder und amtierenden DTM-Meister Sheldon das fahrerische Können in die Wiege gelegt worden ist und er mehr ist als 'nur' ein GT3-Spezialist, beweist Kelvin in diesen Wochen in der Formel E.

Als Ersatzmann für den verletzten Stammfahrer Robin Frijns sprang van der Linde kurzzeitig bei Abt-Cupra ins Cockpit und ging zuletzt in Saudi-Arabien und Hyderabad an den Start. Am kommenden Samstag bestreitet der 26-Jährige in der Elektro-Rennserie nicht nur sein Heimrennen in Kapstadt, sondern auch das erst vierte Formel-Rennen seiner Karriere.

Und es klingt schon ein wenig wahnsinnig, wenn man bedenkt, dass van der Linde zuvor in seiner kompletten Laufbahn kein einziges Rennen in einem Single-Seater bestritten hat! Während andere Piloten ihr Rüstzeug in den diversen Formel-Nachwuchsserien erlernten, fuhr van der Linde ausschließlich Autos mit Dach und Kotflügeln. Das Formel-Debüt dann gleich in einer FIA-Weltmeisterschaft zu geben, verdient gehörigen Respekt.

Und obendrein noch in der Formel E! Seit Jahren erzählen etablierte Profi-Rennfahrer, dass sie nie zuvor ein Fahrzeug mit derartigen Anforderungen und Eigenschaften gesteuert hätten und es die größte Herausforderung ihrer Karriere darstelle. Einige Motorsport-Fans zweifeln an solchen Aussagen, wenn sie die reinen Leistungsdaten eines Formel-E-Boliden betrachten. Die aktuelle Gen3-Generation bringt es auf bis zu 350 kW, was 476 PS bei einem Mindestgewicht von 854 Kilogramm entspricht. Sicherlich kein Auto für Amateure, aber mit alles andere als Angst einflößenden Werten.

Foto: LAT Images
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Van der Linde: "Was zur Hölle mache ich hier?!"

"Ich hatte mich vorher auch gefragt, wie schwer das wohl sein kann. Du hast vier Räder, ein Gas- und ein Bremspedal, musst halt ein bisschen Energie-Management machen und das war's...", blickt van der Linde im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com auf seine anfängliche Annahme zurück.

Verständlich bei einem Profi-Fahrer, der seit Jahren 580 PS starke GT3-Autos über die Nordschleife jagt. Nach den ersten Erfahrungen sieht die Sache allerdings etwas anders aus, und van der Linde spricht offen und ehrlich aus: "Formel E ist brutal schwer, ich hatte es wirklich unterschätzt. Das war echt krank! Ich saß in Saudi-Arabien zum allerersten Mal in so einem Auto, habe meinen Mechaniker angeschaut und nur mit dem Kopf geschüttelt: "Was zur Hölle mache ich hier?!"

Dass es trotz mehr oder weniger baugleicher Autos - nur den Antriebsstrang und die Software dürfen Hersteller selbst entwickeln - große Performance-Unterschiede im Feld gibt, muss einen Grund haben. Wobei sich in der Formel E am Grundgedanken des Motorsports nichts ändert: Es gilt wie in allen anderen Rennserien auch, das Auto so schnell wie möglich durch die Ecken zu bewegen.

Wem das gelingt, der fährt gleichzeitig effizienter und kann seine vorhandene Energie vorteilhafter einsetzen. Aber jetzt kommt die Besonderheit der Formel-E-Boliden ins Spiel: Deutlich erschwert wird diese Aufgabe dadurch, dass die Autos von Haus aus und gewollt über eine sehr geringe Aerodynamik verfügen und wegen der Allwetterreifen der übliche Grip in den Kurven fehlt. Dieser Umstand gemixt mit ständig wechselnden Bremspunkten und zu erreichenden Energie-Zielen, stellt die Piloten vor eine große fahrerische Herausforderung.

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Fahrer mit natürlichem Talent tun sich leichter

"Ich denke, dass die Fahrer mit einem natürlichen Talent besser zurechtkommen, weil du dich auf jede Runde neu einstellen musst", sagt van der Linde. "Mit jeder Session wird die Strecke besser, die Bremspunkte verschieben sich um 10 bis 15 Meter. Und in jeder Runde erhältst du ein anderes Feedback von den Systemen. Du musst also komplett nach deinem natürlichen Gefühl fahren. Das ist in der DTM nicht so. Da baust du auf, hast dann Referenzpunkte, und die musst du ausführen können. Das ist in der Formel E komplett anders."

Neben der fehlenden Erfahrung mit Formel-Autos und praktisch keiner Vorbereitungszeit kommt für van der Linde erschwerend dazu, dass das Abt-Paket mit dem neuen Mahindra-Kundenmotor noch längst nicht ausgereift ist. Er und Teamkollege Nico Müller, zweifacher DTM-Vizemeister und heute Peugeot-Werksfahrer, verloren in den Sessions immer wieder wichtige Streckenzeit wegen technischer Schwierigkeiten.

Dass den Äbten nach einem Jahr Auszeit in der Formel E zudem Streckendaten fehlen, macht die Aufgabe für alle Beteiligten nicht einfacher. Abt Sportsline - einer erfolgreichsten Rennställe Europas und Formel-E-Teammeister von 2018 - ist aktuell das einzige Team in der Elektro-Rennserie, das noch keinen einzigen Punkt einfahren konnte.

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Van der Linde erklärt Herausforderungen der Formel E

Motorsport-Magazin.com hat vor der anstehenden Rennpremiere in Kapstadt (Samstag, 25. Februar, ab 15:00 Uhr live auf ProSieben) ausführlich mit Formel-Novize van der Linde über die fahrerischen Herausforderungen in der Formel E gesprochen und erklärt einige spezielle Eigenheiten der Serie.

1. - Kaum Vorbereitungszeit

Testfahrten sind in der Formel E während der laufenden Saison verboten. Mit den neuen Gen3-Autos konnten die Fahrer nur an knapp vier Tagen bei den offiziellen Tests in Valencia ihre Runden drehen. Schwierig ist auch das besondere Rennformat: In der Vergangenheit fanden 2. Freie Trainings, das Qualifying und das Rennen innerhalb eines Tages statt. Seit dieser Saison wurde das 1. Training auf den Vortag verlegt, doch die 'echte' Vorbereitungszeit bleibt sehr knapp bemessen.

Kelvin van der Linde: "Ich hätte mir ein bisschen mehr Zeit zwischen den Rennen gewünscht. Wir hatten eineinhalb Wochen Vorbereitung für jedes Rennen. Eine Nachbereitung hat eigentlich nie stattgefunden, dafür fehlte einfach die Zeit. Am Dienstag nach einem Rennen saß ich schon wieder im Simulator für das nächste Event. Und testen dürfen wir auch nicht, ich saß also immer nur an den Rennwochenenden im Auto. Seit meinem ersten Rennen habe ich gerade mal zwei Stunden in dem Auto gesessen. Das Auto ist extrem kompliziert und kein Vergleich zu einem GT3."

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2. - Unfallträchtige Stadtkurse

Den Fahrern steht nicht nur wenig Trainingszeit zur Verfügung, sie dürfen sich eigentlich auch keine gröberen Fahrfehler leisten. Es kann zeitlich sehr eng werden, ein beschädigtes Auto rechtzeitig zur nächsten Session zu reparieren. Eine seit Monaten höchst angespannte Ersatzteil-Versorgung hilft da ebenso wenig wie der Fakt, dass auf einem Stadtkurs üblicherweise die Mauer das Streckenlimit bildet...

Kelvin van der Linde: "Der allererste Satz war: Bitte nicht crashen! Alle Teams sind mit den Ersatzteilen aktuell an der Grenze. Das hast du dann auch noch im Kopf... Wenn du zum Beispiel zum ersten Mal ein GT3-Auto fährst, dann hast du eine Auslaufzone. Da kannst du auch mal später bremsen. In der Formel E funktioniert es anders herum: Du musst langsam aufbauen. Und wenn du mal das Limit erreichst oder ein bisschen zu weit gehst, landest du in sieben von zehn Malen in der Mauer. Das ist extrem! Und in der Formel E gibt es nur eine saubere Fahrlinie. Wenn du da runterkommst, bist du direkt weg und in der Mauer. Umso mehr hast du Angst, einen Fehler zu machen. Gerade für einen Anfänger ist das nicht ideal, weil du kaum etwas ausprobieren kannst und nichts kaputt machen darfst. Bis auf ein paar Frontflügel haben wir das ganz gut geschafft."

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3. - Vertrauen ins Auto

Um ans Limit zu gehen, müssen alle Fahrer ein gutes Vertrauen in ihr Material und vor allem die Bremsen haben. Das stößt in der Formel E auf einen Widerspruch: Die Gen3-Autos haben nur an der Vorderachse ein klassisches Hydraulik-Bremssystem. Die Verzögerung soll vor allem über die Energie-Rückgewinnung der beiden E-Maschinen erfolgen. Bei Testfahrten kam es wegen Systemfehlern zu mehreren Unfällen. Die FIA hat reagiert und seit dem zweiten Rennwochenende in Saudi-Arabien eine 'Notfall-Bremse' an der Hinterachse eingeführt, die aber nur bei Software-Aussetzern genutzt werden darf. Insgesamt also nicht die besten Voraussetzungen für Autos, die mit bis zu 250 km/h auf einen Bremspunkt zuschießen...

Kelvin van der Linde: "Ich habe mich nie mit dem Sicherheitsaspekt im Motorsport beschäftigt, das muss ich ehrlich sagen. Ich weiß nicht, ob das mit meinem Alter zusammenhängt. Als Rennfahrer denkst du immer: 'Mir kann nix passieren.' Dann ist mir doch zweimal was passiert in Indien. Da war mein Selbstvertrauen direkt weg. In den Daten haben wir gesehen, dass ich kein Vertrauen ins Bremspedal hatte. Und dieses Vertrauen ist in der Formel E sehr wichtig. In Saudi-Arabien hatte ich es schon, und ich hoffe, dass wir es in Kapstadt wieder haben werden. Dann können wir im Mittelfeld mitmischen."

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4. - Kaum Referenzpunkte

Bei anhaltenden Streckenbedingungen können sich Fahrer Referenzpunkte zurechtlegen, die sie in jeder Runde mehr oder weniger gleich ansteuern und durch die Daten-Analyse optimieren. Auch deshalb gibt es etwa im GT3-Sport keine himmelweiten Performance-Unterschiede zwischen Profis und Amateuren, wenngleich der Abbau der Reifen und abnehmendes Fahrzeuggewicht mit sich leerendem Tank eine Rolle spielen. In der Formel E ist es hingegen nur bedingt möglich, eine Runde zu reproduzieren.

Kelvin van der Linde: "In der Formel E bist du sehr abhängig von verschiedenen Systemen. Die Fahrweise hat nichts mit einem normalen Rennauto zu tun. Du hast ein Brake-by-Wire-System, durch das jede Bewegung am Bremspedal eine Auswirkung auf die Software hat. Und die reagiert jede Runde anders. Wenn du beispielsweise mit 100 bar Bremsdruck ankommst, reagiert die Software und regelt die Bremsbalance von vorne nach hinten, je nachdem, wie die Räder blockieren würden. In der nächsten Runde bremst du 10 Meter früher, dafür aber mit 80 bar Bremsdruck, und die Software regelt wieder komplett anders. Dann kann es sein, dass die Bremsverteilung völlig anders ist."

"Manchmal sieht es aus, als ob die Fahrer richtigen Blödsinn machen, aber das geht auch von den Systemen aus. Du kannst nix machen. Du bremst auf dem Punkt, aber das System sagt, dass die Räder blockieren. Und du lässt die Bremse frei. 'Ist der dumm? Kann der kein Auto fahren', denkt sich bei solchen Situationen sicherlich der eine oder andere Zuschauer. Wir haben aber keinen Einfluss, weil das System das regelt."

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5. - Unterschätzte Rennfahrer

Unter zahlreichen Motorsport-Fans gilt die Formel E abfällig noch immer als 'Auffangbecken für gescheiterte Formel-1-Fahrer'. Eine Fehlannahme, wie auch dieses Jahr ein Blick auf das Starterfeld zeigt. Sogenannte Pay-Driver sucht man vergebens, stattdessen treffen mehrfache Le-Mans-Sieger wie Sebastien Buemi oder Andre Lotterer auf DTM-Stars wie Rene Rast, Pascal Wehrlein, Nico Müller oder Edoardo Mortara. Aufstrebende Piloten wie Maximilian Günther, Jake Hughes oder Dan Ticktum nehmen es unterdessen mit Veteranen wie Stoffel Vandoorne, Jean-Eric Vergne oder Lucas di Grassi auf.

Es ist kein Geheimnis: In der öffentlichen Wahrnehmung tut sich die Formel E trotz so vieler namhafter Piloten und einer Fülle an Herstellern weiterhin schwer. Liegt das möglicherweise am kritischen Verhältnis vieler Motorsport-Fans zur Elektro-Mobilität, unter dem das faktisch stark besetzte Fahrerfeld der Serie leidet?

Kelvin van der Linde: "Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich stehe da und bin sehr stolz, immerhin ist das eine Weltmeisterschaft. Für mich ist das ein Schritt nach vorne in meiner Karriere. Aber bei manchen Fans kommt es an, als sei das ein Schritt rückwärts. Nachdem, was ich bisher erlebt habe, ist die Formel E die schwierigste Meisterschaft. Was den Performance-Aspekt betrifft, war sie für mich ein weiterer Fortschritt, obwohl ich immer in der DTM aktiv bleiben möchte. Die DTM ist wie mein Zuhause, sie war immer mein Kindheitstraum. Sheldon und ich haben eine grandiose Fanbase aufgebaut und sind glücklich über den ganzen Support. Dem wollen wir auch treu bleiben."