Immer, wenn Lewis Hamilton mal wieder ein Rennen gewinnt, gibt es auf dem Podium nach dem Dauerbrenner 'God save the Queen' die deutsche Nationalhymne für den siegreichen Konstrukteur. Dabei kommen bei Mercedes nur Geld und Name aus Deutschland, Motor und Chassis werden in England entwickelt und gebaut. Als BMW noch in der Formel 1 fuhr, kamen immerhin die Triebwerke aus München. Das Chassis aber wurde bei Sauber in der Schweiz gebaut. Der letzte Formel-1-Rennstall, der sein komplettes Auto in Deutschland baute, war tatsächlich Toyota. Die Japaner unterhielten bereits seit 1979 die Tochtergesellschaft TMG. Die Toyota Motorsport GmbH war zunächst für den Einsatz und die Entwicklung von Rallye-Fahrzeugen zuständig.

Rob Leupen, Toyotas heutiger Teamdirektor und TMG-Vizepräsident stieß Mitte der 1990er Jahre als Personalchef zum Team hinzu. Zu einer Zeit, als Köln im Umbruch war. "Wir waren damals rund 200 Mitarbeiter hier und mussten das Team verkleinern, weil wir bei der Rallye Catalunya wegen eines illegalen Turbos disqualifiziert wurden", erinnert sich Leupen. Die Strafe war drakonisch: Toyota durfte 1996 nicht in der Rallye-WM an den Start gehen.

Rob Leupen ist Toyotas Teamdirektor und TMG-Vizepräsident, Foto: LAT Images
Rob Leupen ist Toyotas Teamdirektor und TMG-Vizepräsident, Foto: LAT Images

Das Rallye-Team erholte sich schnell und entwickelte bald am neuen Corolla, doch in der Zwischenzeit gab es auch ein neues Projekt: Den GT-One. Mit dem Sportwagen nahm Toyota 1998 und 1999 an den 24 Stunden von Le Mans teil. Zunächst war das Auto schnell, aber unzuverlässig, 1999 stimmten beide Faktoren - doch Unfälle trübten die Statistik. Trotzdem stand am Ende Platz zwei hinter dem BMW V12 LMR. Le Mans war aber noch nicht das Ende der Reise.

"Es sollte ein Testfall für die Formel 1 sein", so Leupen. Mit André de Cortanze holte Toyota einen erfahrenen Ingenieur von der Konkurrenz, der die richtigen Strukturen in Köln schaffen sollte. "Bis dahin hatten wir hauptsächlich Erfahrung mit mechanischen Komponenten", erklärt Leupen. "In der WRC hatten wir nicht so viel mit Karbon zu tun und hatten deshalb keine Erfahrung. Die hat André mit einer neuen Organisation zu Toyota gebracht." So wuchs der Standort rasant: Aus 180 Mitarbeitern wurden schnell 260.

Toyota wollte den Formel-1-Einstieg selbst vorbereiten

Im Januar 1999 gab Toyota schließlich den F1-Einstieg offiziell bekannt. In Japan stellte man zunächst auch Überlegungen an, ein bestehendes Team zu kaufen. Die Gedanken wurden schnell wieder verworfen. "Man wollte es organisch schaffen. Sobald klar war, dass wir es selbst machen, war klar, dass es in Köln passieren wird", erinnert sich Leupen und fügt an: "Die ersten zwei, drei Jahre waren dann sehr interessant."

Geleitet wurde die Operation Formel 1 von Ove Andersson. Der Ex-Rallyefahrer - Jean Todt war zeitweise Copilot des Schweden - war bereits von Anfang an dabei. Sein Rallyeteam Andersson Motorsport war es, das 1979 von Toyota übernommen wurde und den Grundstein für das Toyota Team Europe bildete, dem Vorgänger der Toyota Motorsport GmbH, die heute Toyota Gazoo Racing Europe ist.

Bereits ein Jahr vor der offiziellen Bekanntgabe hatte Leupen den ersten Mitarbeiter für das neue Projekt rekrutiert: Aerodynamiker Rene Hilhorst. Hilhost trat am 2. November 1998 seinen Dienst in Köln an. Seine erste Aufgabe: Ein Windkanal musste her. Den GT-One hatte Toyota gemeinsam mit Dallara entwickelt, war dort und in England im Windkanal. Für die Formel 1 war ein eigener Windkanal unabdingbar.

Die Japaner bauten nicht einen, sondern gleich zwei davon. Einer davon ist auf 60-Prozent-Modelle ausgelegt - größer darf in der Formel 1 heute nicht mehr getestet werden -, der andere kann sogar 1:1-Modelle auf Luftwiderstand, Abtrieb und Co. prüfen. Die Stahllaufbahnen können Geschwindigkeiten bis 250 Stundenkilometer realisieren. Ein, nein zwei Windkanäle, wie sie die Formel 1 bis dato noch nicht gesehen hatte.

Toyota baute in Köln für das Formel-1-Projekt eine umfangreiche Infrastruktur auf, Foto: LAT Images
Toyota baute in Köln für das Formel-1-Projekt eine umfangreiche Infrastruktur auf, Foto: LAT Images

Budgetobergrenze und Windkanalrestriktionen waren zur Jahrtausendwende noch ein Fremdwort in der Königsklasse des Motorsports. Der Automobilgigant machte beim Einstieg Nägel mit Köpfen und trieb das Wettrüsten auf ein völlig neues Level. Auf rund 30.000 Quadratmetern entstand in Köln-Marsdorf das lange Zeit teuerste Team der Formel-1-Geschichte. Gut 400 Millionen US-Dollar jährlich sollen zu Hochzeiten in die 2,3 Megawatt starken Rotoren des Windkanals, in den Bau von hochdrehenden Saugmotoren, Karbon-Monocoques, Fahrergehälter und Co. geflossen sein.

"Zu Beginn hatten wir viel Geld", gesteht Leupen. Zu viel? "Rückblickend glaube ich, dass alles zu schnell ging. Wir haben die Fabrik aufgebaut, ohne zu wissen, wie wir sie nutzen. Neueste Technologie bedeutet nicht, dass jemand von einem anderen Team weiß, wie man sie nutzt. Das ging sehr schnell und hat uns etwas zu sehr gefordert. Es gab zu viele Baustellen im Unternehmen."

Eigentlich wollte der Konzern zur Saison 2001 in die Formel 1 einsteigen. Dafür hatte er auch die stattliche Summe von elf Millionen Dollar als Sicherheit hinterlegt. Tatsächlich erfolgte der Einstieg aber erst ein Jahr später. Über die Gründe ranken sich verschiedene Gerüchte. Manch einer glaubt, die Japaner wollten von Anfang an erst 2002 einsteigen. Bei Toyota gibt man die Schuld für den verspäteten Einstieg dem Automobilweltverband, der im Jahr 2000 die Nutzung von 12-Zylinder-Motoren verbot. Toyota hatte zu diesem Zeitpunkt aber schon mit der Entwicklung eines 12-Zylinder-Motors begonnen.

"Ich glaube, das hatte politische Gründe", meint Leupen. Die Konkurrenz witterte beim neuen Giganten am F1-Himmel, der scheinbar aus den Vollen schöpfte, einen Trick. Angeblich würde der Rennstall je nach Strecke mal mit zehn, mal mit zwölf Zylindern fahren. "Das war zu dieser Zeit nicht so, wir haben uns nur auf den V12 fokussiert", stellt der heutige Teamdirektor klar und klagt: "Wir mussten dann einen V10 entwickeln, ein komplett neues Design. Wir haben ein Jahr verloren - was in der Formel 1 viel Geld bedeutet."

Vor dem Formel-1-Einstieg im Jahr 2002 bestritt Toyota ein umfangreiches Testprogramm, Foto: Sutton
Vor dem Formel-1-Einstieg im Jahr 2002 bestritt Toyota ein umfangreiches Testprogramm, Foto: Sutton

Aber Toyota hatte noch immer viel Geld. So viel, dass im fernen Le Castellet ein eigenes Testzentrum eingerichtet wurde. Der Circuit Paul Ricard wurde in Zeiten unbegrenzter Testfahrten zur Heimstrecke der deutsch-japanischen Allianz. Getestet wurde mit dem TF101 neben Le Castellet noch auf zehn weiteren Rennstrecken.

Trotzdem verlief der F1-Einstieg im Jahr 2002 nicht unbedingt nach Maß. In den ersten drei Jahren kam der Rennstall trotz enormer Ressourcen nicht über Konstrukteursrang acht hinaus. "Wir hatten verschiedene Gruppen innerhalb des Teams", erinnert sich Leupen. "Das war eine schwierige Zeit." Dabei gab es nicht nur sportliche Komplikationen: Ein Spionagefall beschäftigte sogar die Kölner Staatsanwaltschaft. Von Ferrari abgeworbene Mitarbeiter sollen die Aerodynamik-Software Elab von den Italienern mitgebracht haben. Toyota kam schadlos aus der Geschichte heraus, die Mitarbeiter wurden Jahre später von einem italienischen Gericht verurteilt.

Als Gustav Brunner 2004 als Technischer Direktor durch Mike Gascoyne ersetzt wurde, ging es bergauf. Der bis zum Wechsel von Adrian Newey zu Red Bull teuerste Technische Direktor der Formel 1 lieferte. "Als er kam, gab es auch nicht mehr so viele Inseln innerhalb des Teams", lobt Leupen. Lang hielt der Friede nicht: Nach Platz vier und 88 Punkten in der Saison 2005 ging es sukzessive wieder nach hinten. Dabei wuchs der Standort in Marsdorf weiterhin: Die Kosten waren in der gesamten Formel 1 bereits völlig eskaliert. Bei Toyota waren inzwischen bis zu 950 Mitarbeiter beschäftigt.

Mike Gascoyne verhalf Toyota als Technischer Direktor zum Erfolg, Foto: Sutton
Mike Gascoyne verhalf Toyota als Technischer Direktor zum Erfolg, Foto: Sutton

"Damit waren wir immer noch unter dem Level von McLaren und Ferrari zu dieser Zeit", verteidigt Leupen. Doch die Angestellten ließen sich gut bezahlen: Nicht nur technisches Top-Personal wurde deutlich über Branchen-üblichen Tarifen bezahlt, auch die Fahrer. Ralf Schumacher soll drei Jahre lang jeweils rund 20 Millionen erhalten haben.

Trotzdem lief es 2006 und 2007 nicht mehr und Gascoyne musste gehen. Auf ihn folgte der ehemalige Michelin-Mann Pascal Vasselon, der noch heute Technischer Direktor bei Toyota Gazoo Racing ist - und inzwischen wie Leupen Vizepräsident. Das kleine Zwischenhoch 2008 und 2009 reichte angesichts der globalen Finanzkrise nicht. Nach Honda und BMW zog auch Toyota den Stecker und beendete das Formel-1-Engagement nach der Saison 2009. Dabei hatten die Japaner gerade erst ein neues Concorde Agreement unterzeichnet. Auch beim Ausstieg musste Toyota deshalb noch einmal richtig Geld auf den Tisch legen: Mit 30 Millionen Dollar soll sich Bernie Ecclestone den Vertragsbruch bezahlen haben lassen.

Bernie Ecclestone und der damalige Toyota-Teamchef Tadashi Yamashina, Foto: Sutton
Bernie Ecclestone und der damalige Toyota-Teamchef Tadashi Yamashina, Foto: Sutton

"Toyota ist kein Unternehmen, das Verträge bricht. Als sie im Oktober 2009 den Stecker gezogen haben, hat mich das überrascht. Aber die Umstände waren so, dass sie es machen mussten", wirbt Leupen auch ein Jahrzehnt danach noch um Verständnis. Ähnlich wie in Deutschland gab es auch in Japan damals staatliche Kaufprämien. Das Formel-1-Engagement war nicht mehr vermittelbar.

Geheimes Toyota-Museum unter dem Windkanal

"Der TF110 war da fast fertig", trauert Leupen. "Das wäre der nächste Schritt gewesen", ist sich der Niederländer sicher. "Das ist der große Frust hier: Wir werden niemals wissen, ob er gut gewesen wäre oder nicht." Heute steht der Bolide - ganz in schwarz lackiert, lediglich mit einem kleinen TMG-Logo auf der Nase versehen - im hauseigenen Museum direkt unter dem Windkanal. Dort steht, der Öffentlichkeit nicht zugänglich, die gesamte Historie. Von den Rallye-Fahrzeugen der Anfänge, bis zum GT-One Le Mans-Boliden und allen zehn Formel-1-Autos. Damit ist die Geschichte von Toyota Motorsport in Köln aber nicht zu Ende erzählt.

Denn nach dem Aus in der Königsklasse erfand sich der Standort neu. Aus ehemals 950 Mitarbeitern wurden 2010 174. "Das war nicht einfach, aber Teil des Jobs", so Leupen rückblickend. "Es war aber auch ein Privileg, weil man die Organisation neu bilden kann." Aus dem Formel-1-Giganten wurde ein Dienstleister. Köln erledigte Forschungs- und Entwicklungsarbeit für den Mutterkonzern in Japan und für andere Unternehmen. Vor allem der Windkanal erfreute sich großer Beliebtheit. Fast die gesamte Formel 1 reiste nach Köln und buchte Windkanalzeit.

"Wir mussten manchen Teams schon absagen, weil es so voll war", sagt Leupen nicht ganz ohne Stolz. Heute ist der Fremdenverkehr weniger geworden. "Durch Begrenzung der Windkanalzeit und andere Limitierungen wird es weniger", erklärt der 56-Jährige. Andere meinen, der Windkanal wäre etwas in die Jahre gekommen. Leupen sieht auch politische Gründe: "Wenn du Motoren von einem Hersteller bekommst und sie dir sagen, dass sie Windkanalzeiten frei haben, ist das, als würde man dir die Pistole an den Kopf setzen..." McLaren ist der letzte verbliebene Formel-1-Rennstall, der in Köln seine Aerodynamik testet. Nicht mehr lange: In Woking soll demnächst ein neuer Windkanal entstehen.

Langweilig wird es den aktuell rund 300 Beschäftigten nicht, das Museum wird ständig weiter gefüllt. Nach dem Formel-1-Aus machte sich Toyota schnell auf den Weg nach Le Mans. 2012 gab es das große Comeback an der Sarthe. Für den Antriebsstrang war allerdings nicht Köln, sondern das japanische Entwicklungszentrum in Higashi-Fuji verantwortlich. Dort hatte man sich die ersten Jahre mit Superkondensatoren verrannt, erst mit dem TS050 im Jahr 2016 und Lithium-Ionen-Batterien war man richtig konkurrenzfähig. Zum großen Erfolg reichte es aber erst nach den Ausstiegen von Audi und Porsche. Mit dem einzig verbliebenen LMP1-Hybridfahrzeug schaffte Toyota 2018, 2019 und 2020 den Sieg-Hattrick in Le Mans. Damit endet die LMP1-Ära, die Hyperclass-Kategorie steht in den Startlöchern.

Köln-Marsdorf hat deshalb wieder Hochkonjunktur: Bis der neue LMH-Bolide homologiert wird, werden in der Spitze wieder bis zu 500 Mitarbeiter involviert sein. Gleichzeitig ist auch der Rallye-Sport wieder in Köln angekommen. Dafür wird auch der Motor in Deutschland entwickelt. Und wie sieht es in Zukunft aus? Es wird wohl erst einmal alles so bleiben. In der von Herstellern nur so boomenden Formel E ist Toyota nicht. "Sie ist nicht auf unserem Radar", so Leupen. "Wir haben es uns zu Beginn angesehen, aber das ist nicht aktuell."

Ein Fomel-1-Comeback steht ebenfalls nicht zur Diskussion: "Das wäre zwar eine strategische Konzern-Entscheidung, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Aus ökonomischer Sicht nicht und ich denke, es passt auch nicht mehr zu Toyota. Wir haben heute eine viel bodenständigere Herangehensweise an den Motorsport."

Alles zu Mick Schumachers Formel 1-Einstieg! MSM Ausgabe 76 (02:21 Min.)

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