"Cinque!", schallt es, als der Mann mit der großen schwarzen Tasche in die Repsol-Honda-Box tritt. Herzlich wird er von den Mechanikern begrüßt. Einer von ihnen ist er aber nicht. In seinem Gepäck befinden sich keine Gabelschlüssel oder Schraubenzieher. Sein Werkzeug sind Kamera und Stativ. Eigentlich heißt der Mann, den sie nur 'Cinque' nennen, Motohiko Tono. Der liebenswerte Japaner ist seit 2019 Videoanalyst in Hondas MotoGP-Projekt und soll als solcher aus Marc Marquez, Joan Mir und Co. das fahrerische Maximum herausholen.

Vor seiner Zeit bei HRC war Tono in unterschiedlichsten Ingenieurspositionen im MotoGP-Projekt von Suzuki angestellt. Sein erstes Abenteuer auf der WM-Bühne bestritt der studierte Ökonom aber Anfang der 2000er-Jahre bei Suzukis italienischem Einsatzteam Alstare in der Superbike-Weltmeisterschaft. Aus dieser Zeit stammt auch sein Spitzname. Denn Tono entwickelte in der Team-Hospitality eine bemerkenswerte Begeisterung für die Spaghetti in der Stärke 5. Er verspeiste die geliebten Nudeln an jedem einzelnen Tag zum Mittag- und Abendessen. So trägt der Japaner nun das italienische Wort für die Zahl 5 als Spitzname.

Nicht nur auf der Strecke sind die Kameras auf die Piloten gerichtet, Foto: LAT Images
Nicht nur auf der Strecke sind die Kameras auf die Piloten gerichtet, Foto: LAT Images

Cinque ist Teil einer Handvoll Männer, die einen Beruf ausüben, den es so bis vor wenigen Jahren in der MotoGP noch nicht gab. Erst durch moderne, kompakte Kameratechnologie wurde die Videoanalyse überhaupt möglich und sinnvoll. Mittlerweile lassen sich die Kameras bequem in einem Koffer am Heck eines Scooters um die Rennstrecken der Königsklasse transportieren und in kürzester Zeit an den neuralgischen Punkten der Kurse positionieren. Auch die Auswertung des produzierten Materials hat sich in den vergangenen Jahren massiv vereinfacht. Mobile Endgeräte wie Tablets ermöglichen es den Videoanalysten, ihre Aufzeichnungen direkt zu den Fahrern und ihren Crews in die Box zu bringen. Die Vor- und Nachbesprechungen der Teams werden somit um eine Perspektive reicher.

Rückblick: Früher standen kaum Hilfen zur Verfügung

Möglichkeiten, von denen man in der Vergangenheit nicht einmal zu träumen wagte. Ein Blick zurück: Lange Zeit war die Suche nach der idealen Abstimmung und dem perfekten Fahrstil gewissermaßen ein Fischen im Trüben. "Zu meiner Zeit gab es genau eine Informationsquelle - den Fahrer", erklärt Rekordweltmeister Giacomo Agostini, der in der Motorrad-Weltmeisterschaft von 1963 bis 1977 am Start war und in dieser Zeit 15 WM-Titel sammelte. "Der Fahrer hat sich nach den Sessions mit den Ingenieuren und den Mechanikern unterhalten. Mehr hatten wir nicht zur Verfügung."

Die Videoanalyse ist ein wichtiger Bestandteil der Besprechungen, Foto: Repsol
Die Videoanalyse ist ein wichtiger Bestandteil der Besprechungen, Foto: Repsol

Die Karriere von Kenny Roberts Senior schloss an jene Agostinis an, er drehte zwischen 1978 und 1983 seine Runden in der Königsklasse. Seine Erinnerungen decken sich mit denen des großen Italieners: "Du konntest schon jemanden vom Team an die Strecke rausschicken, aber das Einzige, was dir der gesagt hat, war, dass du verrückt bist und er sich niemals auf dieses Motorrad setzen würde. Das Feedback des Fahrers war somit die einzige Informationsquelle.

Es ging nur darum, was der Fahrer fühlen und wie gut er dadurch zusammen mit den Ingenieuren das Motorrad abstimmen konnte. Die Ingenieure haben genau das gemacht, was ihnen der Fahrer gesagt hat. Es gab keine Widerreden. Sie wussten ja nicht, was am Motorrad passiert. Niemand außer den Fahrern wusste das."

90er Jahre bringen Onboard-Technik

Das änderte sich Anfang der 1990er-Jahre. Computertechnologie hielt in der Motorrad-Weltmeisterschaft Einzug und Kenny Roberts, mittlerweile Teamchef seines eigenen Rennstalls, war einer der Vorreiter. "Wir haben als erstes Team Onboard-Computer verwendet und mit ihnen das abgeglichen, was uns die Fahrer gesagt haben. Zu dieser Zeit haben wir begonnen, die Motorräder wirklich zu verstehen. Wir haben verstanden, was passiert, wenn du eine Änderung am Bike vornimmst", erklärt Roberts. Wayne Rainey, damals Roberts Speerspitze im Yamaha-Lager und von 1990 bis 1992 drei Mal in Serie Weltmeister, vertraute schnell auf die neuen Analysewerkzeuge: "Für mich war das von Beginn an sehr interessant. Ich konnte sehen, dass sich gewisse Dinge in den Daten ganz anders darstellten, als ich das auf dem Motorrad empfunden hatte."

Kenny Roberts setzte als erstes auf Onboard-Computer , Foto: Milagro
Kenny Roberts setzte als erstes auf Onboard-Computer , Foto: Milagro

Die Möglichkeiten für Fahrer und Team waren damals aber noch beschränkt, die Instrumente langsam und schwer. "Mein letztes Grand-Prix-Motorrad im Jahr 1995 hatte je einen Sensor für die Gasstellung, die Gangauswahl, die Schräglage sowie die Einfederung vorne und hinten", erinnert sich Raineys großer Rivale Kevin Schwantz. "Das Setup entstand also in erster Linie durch die Kommunikation zwischen Fahrer und Crewchief."

Stoner: Auf Phillip Island eine Macht

In den Folgejahren nahm die technische Entwicklung aber mächtig an Fahrt auf, immer mehr und immer genauere Daten standen zur Verfügung und ließen das Feedback der Piloten zunehmend in den Hintergrund treten. "Manche Teams und Hersteller vergessen heutzutage, wie wichtig die Meinung des Fahrers ist", kritisierte Casey Stoner vor einigen Jahren. Der Australier war in seiner aktiven Zeit bekannt dafür, in puncto Setup und Fahrstil ungewöhnliche Wege zu gehen und mehr auf sein fahrerisches Talent als auf technische Hilfen zu vertrauen. Ein Beispiel: Stoners Paradekurve im MotoGP-Kalender war Turn 3 auf Phillip Island, die seit 2012 auch seinen Namen trägt. Er sorgte dort mit seinen Slides weit jenseits der 250-km/h-Marke regelmäßig für Staunen. Doch kaum jemand verstand was genau Stoner dort eigentlich machte.

Auf Phillip Island war Casey Stoner beinahe unschlagbar, Foto: Milagro
Auf Phillip Island war Casey Stoner beinahe unschlagbar, Foto: Milagro

Und seine Strategie war auch durch Daten nicht logisch zu erklären. "Du bekommst dort immer einen heftigen Windstoß ab, der vom Streckeninneren in Richtung des Ozeans weht. Du läufst also Gefahr, dass dir das Vorderrad wegrutscht und ich war ohnehin immer ein Fahrer, der verglichen mit der Konkurrenz kein besonders gutes Gefühl für die Front hatte. Was ich also gemacht habe, war kurz vor der Kurve vom Gas zu gehen, dann wieder voll aufzudrehen und das Motorrad so in einen Slide mit dem Hinterrad zu versetzen. Das Vorderrad zeigt dann also leicht in Richtung Kurvenaußenseite, ähnlich wie beim Dirt-Track. Sobald du das erreicht hast, kannst du nicht mehr über die Front wegrutschen."

"Bei meinen besten Versuchen bin ich mit 265 km/h in die Kurve eingefahren und mit 258 km/h herausgekommen. Ich habe also nur sieben km/h verloren. Solche Dinge sind nur möglich, wenn du etwas ausprobierst, Wissen aufbaust und dir auch andere Fahrer genau ansiehst. Natürlich kannst du über die Daten gewisse Details verfeinern und dir manche Dinge näher ansehen, aber am Ende zählt das, was der Fahrer auf dem Motorrad erlebt und was er von seinem Motorrad will. Das ist immer noch der wichtigste Faktor."

Genau hier kommt nun die Videoanalyse ins Spiel, welche einerseits die Eindrücke von Fahrern und die gesammelten Daten ergänzt und andererseits eine nachvollziehbare Informationsquelle abseits von Zahlen und Graphen liefert. Honda-Mann Cinque und seine Kollegen aus den MotoGP-Projekten der anderen Hersteller positionieren sich in jeder Session an wichtigen Punkten der Strecke, bauen dort ihre Stative auf und filmen mit hochauflösenden Kameras die Fahrer.

Teams filmen nicht nur ihre eigenen Fahrer

Nicht nur ihre eigenen, sondern auch die der Konkurrenz, um den Piloten einen direkten Vergleich mit ihren Rivalen zu ermöglichen. Das kann entweder in getrennt abgespielten Sequenzen oder durch direktes Übereinanderlegen der Aufnahme unterschiedlicher Fahrer passieren. "Das Problem ist, dass du in einem Projekt wie dem von HRC zwar eine Menge Daten hast und so deine eigenen Fahrer gut miteinander, aber nicht mit den Fahrern der Konkurrenz vergleichen kannst. So kam mir die Idee mit der Videoanalyse. Zu Beginn habe ich nur mit einem ganz simplen Camcorder gefilmt, aber schon da war die Reaktion der Fahrer sehr positiv und so habe ich einfach weitergemacht. Meine finalen Videos stellen heute mehrere Fahrer meinen eigenen Piloten gegenüber", erklärt Cinque. "Sie können ihre Linienwahl und ihre Körperposition vergleichen, diese analysieren und dann für die nächste Session umgehend dementsprechende Anpassungen vornehmen."

Marc Marquez verrät, dass die Beweismittel in Bewegtbildform für einen stolzen MotoGP-Fahrer wie ihn aber oft nicht leicht zu verdauen sind. Vor allem dann, wenn Cinque ihm mit seinem Tablet im Honda-Truck Schwachstellen offenbart: "Wir Fahrer entscheiden, in welcher Passage sich der Videoanalyst platziert. Du musst dabei natürlich deine Schwachpunkte wählen und auch akzeptieren, dass deine Problemzonen gefilmt werden. Es kann vorkommen, dass du positiv gestimmt zur Videoanalyse gehst und völlig zerstört wieder herauskommst."

Die Vorteile dieses Instruments stehen für den sechsfachen MotoGP-Champion aber außer Frage: "Du kannst dir Daten ansehen, aber am Ende sind das alles nur irgendwelche Linien. Da kannst du eine Stunde lang darüber reden und grübeln. Wenn du Bilder siehst, ist innerhalb von fünf Sekunden aber alles klar und du verstehst das Problem. Vielleicht kannst du es dennoch nicht lösen, weil ein anderer Fahrer in einem gewissen Abschnitt einfach besser ist, aber es ist trotzdem wichtig, dass du es gesehen hast."

Auch Marc Marquez nutzt die moderne Technik um Schwachstellen zu erkennen, Foto: LAT Images
Auch Marc Marquez nutzt die moderne Technik um Schwachstellen zu erkennen, Foto: LAT Images

Espargaro: Solche Dinge können den Unterschied machen!

Aprilia-Star Aleix Espargaro lieferte im vergangenen Jahr ein praktisches Beispiel für die Möglichkeiten, welche eine Videoanalyse bietet: "In Austin hat mir Baiocco (Aprilia-Entwicklungsfahrer und Riding-Coach Matteo Baiocco, Anm.) eine Menge Videos aus der Saison 2021 gezeigt. Da war zu sehen, dass Bagnaia als einziger Fahrer in Kurve vier den Kerb auf der Innenseite extrem ausgenützt hat. Ich habe das dann im 1. Freien Training nachgemacht und war direkt eine Zehntelsekunde schneller - nur dadurch! Solche Sachen können am Ende den Unterschied machen."

Espargaros Neo-Markenkollege Miguel Oliveira, im Vorjahr noch in Diensten von KTM, sieht im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com eine Symbiose der verschiedenen Analysemöglichkeiten als Schlüssel zum Erfolg: "Wir haben in den vergangenen Jahren mit der Videoanalyse ein weiteres Werkzeug hinzubekommen, dessen Anwendungsmöglichkeiten sich immer noch rasant verbessern. Jedes derartige Werkzeug kann helfen. Manchmal bringen die Daten mehr als das Video, manchmal das Video mehr als die Daten. Es ist nie nur eine Quelle entscheidend. Eine Analyse ergänzt die andere. Manchmal deckt sich dein Gefühl mit den Daten, manchmal nicht. Genau dann hilft dir das Video weiter."

Aleix Espargaro schätzt die Bedeutung der Videoanalyse hoch ein., Foto: LAT Images
Aleix Espargaro schätzt die Bedeutung der Videoanalyse hoch ein., Foto: LAT Images

Die Videoanalyse ersetzt beziehungsweise ergänzt damit auch zunehmend die Rolle der Riding-Coaches in der MotoGP. Diese verfolgen die Sessions im Normalfall auf der Service-Road und bringen anschließend in den Debriefs der Fahrer ihre Beobachtungen ein. Hochkarätige Ex-Piloten wie Randy Mamola, Luca Cadalora oder Sete Gibernau waren oder sind in dieser Position im Einsatz. Honda-Neuzugang Joan Mir sieht aber im direkten Vergleich mittels Video klare Vorteile: "Die Videoanalyse ist für mich ähnlich wie ein Coach, nur dass du die Unterschiede zwischen dir und den anderen Fahrern direkt vor dir siehst. So ist das Geschehene oftmals einfacher zu verstehen, als wenn es dir nur von jemandem erklärt wird. Dennoch sind beide Elemente wichtig. Sowohl für uns als auch für die Ingenieure."

Es ist klar: Die Videoanalyse ist in die MotoGP gekommen, um zu bleiben. Sie wird in Zukunft noch wichtiger werden, beginnend bereits mit der Saison 2023. Denn durch die Änderung des Wochenendformats und die Einführung der Sprintrennen haben Fahrer und Teams nun weniger Zeit in Trainings und Warm-Ups zur Verfügung, um Fahrstil und Setup ideal vorzubereiten. 30 Minuten pro Wochenende gehen hier im Vergleich zu den vergangenen Jahren verloren. Die verbliebene Zeit will also bestmöglich genützt werden. Und dafür ist jedes Hilfsmittel gerne gesehen.

Dieser Artikel stammt aus unserer Print-Ausgabe Nummer 90. Hier kannst du dir unser neues Heft sichern!