Nicht nur Zuschauer hatten ihre liebe Mühe, die beiden Rennen der Formel E in Rom mit Positionswechseln am laufenden Band, mehreren Safety-Car-Phasen und einigen Ausfällen zu verstehen. Am deutlichsten brachte es wohl Jean-Eric Vergne auf den Punkt, der das Sonntagsrennen hinter Doppelsieger Mitch Evans (Jaguar) auf dem zweiten Platz abschloss. "Sagen wir mal so", holte der zweifache Formel-E-Meister von DS Techeetah aus: "So ein Rennen möchte ich nicht noch mal erleben. Das war ein völliges Durcheinander."

Vergnes Verwirrung in Zahlen ausgedrückt: Im Sonntagsrennen gab es allein auf den ersten sechs Plätzen ganze 41 Positionswechsel. Die Führung wechselte insgesamt sechsmal zwischen den vier Fahrern Vergne (Pole-Setter), Robin Frijns, Andre Lotterer und Sieger Evans. Im Samstagsrennen sah es kaum anders aus: 30 Positionsveränderungen in den Top-6, dazu vier Führungswechsel (Evans, Stoffel Vandoorne, Frijns).

Vergne verwirrt: "Ich hatte keine Ahnung..."

Dass es in der Formel E aufgrund unterschiedlicher Energie-Strategien und der Überhol-Hilfe namens Attack Mode (250 kW statt 220 kW Power für eine bestimmte Dauer - Sonntag in Rom: 1x 8 Minuten) gerne einmal turbulent zur Sache geht, dürfte inzwischen kein Geheimnis mehr sein. Was sich in Rom abspielte, war für den einen oder anderen Fan und Fahrer dann aber doch eine Spur zu viel.

"Das Rennen hat mich wirklich auf die Probe gestellt", räumte Vergne ein, der am Teamfunk mehr als nur einmal ausflippte. "An gewissen Punkten habe ich die Ruhe verloren. Ich hatte keine Ahnung, was bei der Strategie vor sich ging. Ich war ein bisschen im Dunkeln." So ging es nicht nur dem Franzosen, der mit 87 Rennen zu den erfahrensten Piloten in der Geschichte der Formel E zählt. Vielerorts herrschte Konfusion nach dem fünften Rennen der Saison 2022, das Jaguar-Ass Evans vom vierten Startplatz mit einer halben Sekunde Vorsprung auf Frijns gewann.

Formel E Rom 2022: Highlights und Zusammenfassung zum Rennen (04:58 Min.)

Ziel in der Formel E: Null verbleibende Energie

Dazu muss man wissen: Alle Fahrer erhalten vor und während eines Rennens sogenannte Energy-Targets: Rundenzeiten-Vorgaben vom Team, die sie im besten Fall erfüllen, um bis zum Zieleinlauf die gesamte zur Verfügung stehende Energie zu nutzen.

Ein Beispiel: Überquert ein Fahrer den Zielstrich mit 2 Prozent Rest-Energie in einem Rennen ohne Zwischenfälle, hat er nicht das volle Potenzial ausgeschöpft. Selbstredend wird das Energie-Management von den Ingenieuren und Strategen stets bis ans absolute Limit getrieben, um sich im Feld der mehr oder weniger baugleichen Autos einen Vorteil zu verschaffen.

Neue Formel-E-Regel 2022: Nachspielzeit statt Energie-Abzug

Knifflig wird es, wenn vor und während des Rennens nicht permanent klar ist, wie viele Runden während der 45 Minuten Renndauer (plus 1 Runde) zurückgelegt werden. Beim Sonntagsrennen in Rom sorgten drei Safety-Car-Phasen für eine zusätzliche Herausforderung, denn: Seit dieser Saison gibt eine im Reglement verankerte 'Nachspielzeit'. Pro Minute hinter dem Safety Car oder während einer Full Course Yellow werden 45 Sekunden auf die Gesamtzeit addiert. Die Zusatzzeit (+5:15 Minuten am Sonntag) wird fünf Minuten vor dem Rennende durch die FIA kommuniziert. Kommt es dann zu weiteren Neutralisationsphasen, gibt es keine zusätzliche Zeit obendrauf.

Diese Regel ersetzt seit 2022 den bisherigen Abzug von Energie nach dem letztjährigen Debakel in Valencia. Die 'Nachspielzeit' soll das Geschehen auch für Zuschauer nachvollziehbarer machen als ein rein virtueller Abzug von Energie. Für die Teams wird die Kalkulation allerdings nicht einfacher. Gerade in den bisherigen Saisonrennen war mehrfach zu beobachten, dass Energy-Targets auffällig häufig verändert wurden, die Fahrer deshalb immer wieder ihre Pace anpassen und andere Piloten überholen lassen mussten.

Herausforderung: Rennen zwischen zwei Runden

"Was für Zuschauer so schwer nachzuvollziehen ist und für uns gleichzeitig die größte Herausforderung: wenn ein Rennen zwischen zwei Runden liegt", erklärte Nissan-Pilot Maximilian Günther bei Motorsport-Magazin.com. "Heißt: Du beginnst ein Rennen und denkst, dass es wahrscheinlich 28 Runden werden. Es könnten aber auch 29 sein, wenn die Pace etwas schneller ist, weil die Strecke über das Wochenende hinweg immer schneller wird."

Der Allgäuer weiter: "Im Rennen kann es passieren, dass wir vom Team die Info bekommen, dass das Rennen vielleicht länger ist. Dann musst du natürlich viel mehr Energie sparen. Je früher du dich dazu entscheidest, desto mehr Runden hast du übrig, um die Energie auf diese Runden zu verteilen. Wenn du erst fünf Runden vor dem Ende damit anfängst, kannst du das Rennen eigentlich schon abhaken."

Bei diesen höchst komplexen Berechnungen orientieren sich die Teams auch an der unmittelbaren Konkurrenz im Rennen. So wie im Fall von Andre Lotterer, der von Runde 18 bis 21 das Rennen im Porsche anführte und am Ende Vierter wurde.

"Nach dem ersten Safety Car war das Rennen zwischen zwei Runden", sagte Lotterer zu Motorsport-Magazin.com. "Wir haben uns am Speed von Evans orientiert. Der hätte eigentlich vier, fünf Sekunden langsamer fahren sollen, weil er nicht so viel Abstand hatte, um das locker zu meistern. Dann musste ich mehr mit der Energie haushalten. Jev (Vergne) und Frijns sind vorbei, obwohl sie eigentlich ein bisschen weniger Energie hatten. Dann kam das letzte Safety Car, und weil das Rennen nicht mehr verlängert wurde, war die letzte Runde Vollgas ohne Energie-Management. Da konnte ich nix mehr machen."

Foto: LAT Images
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Frijns gegen Sieger Evans: Kein Grund zu kämpfen

Durch ständige Veränderungen der Energy-Targets und Rundenzeiten-Vorgaben ist immer wieder zu sehen, wie sich Fahrer ohne größere Gegenwehr von anderen Piloten überholen lassen, wenn sie nicht direkt um die Position kämpfen, denn: Jeder Zweikampf kostet Energie.

So erging es etwa Frijns, der in Rom beide Rennen auf dem Podium beendete. Der Envision-Pilot führte das Sonntagsrennen von der 14. bis zum Ende der 18. Runde an, bevor er zuerst Vergne und dann auch Evans passieren ließ. Frijns zu Motorsport-Magazin.com: "Evans hatte 1 Prozent mehr Energie und Attack Mode. Es gab keinen Grund, gegen ihn zu kämpfen. Dann wäre ich weiter zurückgefallen, weil ich Energie verschwende gegen einen Fahrer, der mich eh überholt hätte."

Vergne: "So ein Rennen möchte ich nicht noch mal"

All diese Strategie-Komponenten machen es dem durchschnittlichen Motorsport-Zuschauer nicht immer einfach, das turbulente Treiben auf der Rennstrecke in Gänze nachzuvollziehen. Einen Hinweis geben nur die Energie-Mengen, die nach einer Weile als Grafik im TV angezeigt werden.

Für die Fahrer kann die Formel E zur mentalen Herkulesaufgabe werden, wie Vergne nach dem Rom-Rennen erklärte: "In einer Kurve sagte mir ein Ingenieur die Renn-Strategie. In der nächsten Kurve hieß es dann, dass eine Runde mehr gefahren wird. Und dann wieder eine Runde weniger! Ich war komplett verwirrt. So ein Rennen möchte ich nicht noch mal - es war konfus."