Es ist 08:05 Uhr am 24. August 2014. Die Sonne steigt langsam an den Himmel und kreiert ein glitzerndes und funkelndes Lichtspiel mit dem Tau, der sich über Nacht auf die Bäume und Gräser gelegt hat. Es herrscht gespannte Erwartung über den Moseltälern, denn heute fällt die Entscheidung. Wird Jari-Matti Latvala zum ersten Mal in seiner WRC-Karriere eine Asphalt-Rallye gewinnen und damit Volkswagen den so herbeigesehnten Heimsieg bei der Rallye Deutschland schenken?

Jari-Matti Latvalas Polo R WRC im Weinberg, Foto: Sutton
Jari-Matti Latvalas Polo R WRC im Weinberg, Foto: Sutton

Als in einer Linkskurve das Heck des Polo R WRC nach rechts ausbricht, der Wagen einen Schlenker macht und plötzlich nach rechts einlenkt, senkrecht durch den Weinberg nach unten rast und schließlich in einem Zaun hängen bleibt, ist klar: die Antwort lautet nein. 56,6 Sekunden Vorsprung, die sich der Finne über die vergangenen Tage aufgebaut hatte, verpufften in einem Auto, das von Weinreben umgeben vollkommen manövrierunfähig geworden war. Für Latvala einer der schlimmsten Momente seiner Karriere und das Ende des WM-Traums.

Teamkollege und WM-Leader Sebastien Ogier war nach zwei Unfällen bereits endgültig ausgeschieden. 44 Punkte Rückstand hätten plötzlich auf lediglich 16 Zähler reduziert werden können - und das bei einer Asphalt-Rallye, Ogiers Spezialgebiet.

Die falsche Herangehensweise

Einige Monate nach dieser für Latvala so schmerzlichen Niederlage erinnerte sich der Volkswagen-Pilot im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com an diesen einen verhängnisvollen Morgen in Deutschland. "Ich habe meine Gedanken bereits ans Ende der Rallye abschweifen lassen und an den Sieg gedacht", verriet Latvala. "Ich überlegte: Ich gewinne jetzt tatsächlich, es ist total einfach. Ich habe es zwei Tage geschafft und bin nun mehr als 50 Sekunden vorne. Es ist jetzt so einfach und ich muss nur noch ins Ziel kommen."

Noch nie zuvor war der Finne so nah an einem Sieg auf Asphalt. In 13 Jahren und insgesamt 138 Anläufen in der WRC holte er bis zu diesem Zeitpunkt elf Erfolge - doch nie auf geteertem Untergrund. In Deutschland sollte es soweit sein. Vom ersten Moment an duellierten sich die beiden Teamkollegen Ogier und Latvala. Keiner konnte sich absetzen, bis schließlich Ogier von der Strecke abkam und weit zurückfiel. Es war an Latvala. Das verbliebene Eisen im Volkswagen-Feuer musste den ersten Deutschland-Sieg holen und damit den einzigen weißen Fleck auf der WRC-Landkarte endlich auslöschen.

Und genau das tat er. Fehlerfrei setzte er Bestzeit um Bestzeit und fuhr dem Rest des Feldes schier uneinholbar davon - bis zur 15. Wertungsprüfung. "Ich erinnere mich noch genau an meine Gedanken an der Startlinie. Ich war überzeugt, dass mir keine Fehler passieren können. In einem solchen Moment sind Fehler schon fast vorprogrammiert", erklärte Latvala im Motorsport-Magazin.com-Exklusiv-Interview. "Fakt ist, dass es die falsche Herangehensweise war."

Keine Chance, die Rallye war zu Ende, Foto: Sutton
Keine Chance, die Rallye war zu Ende, Foto: Sutton

Die Analyse

Diese Einsicht folgte aber erst Stunden später. Der erste Moment nach Latvalas Aus war geprägt von Verzweiflung. Ohne Unterlass versuchte der Finne, seinen Polo von den Weinreben zu befreien, forderte die Zuschauer zur Hilfe auf. Aller Kampf war aussichtslos. Die Rallye war verloren. "Ich kann ohne Umschweife erzählen, dass ich geweint habe. Ich habe geweint, denn das war der zweitgrößte Fehler meiner Karriere. Die Emotionen sind übergekocht", erinnerte sich der Volkswagen-Pilot.

Die Rettung: sein Mentaltrainer Christoph Treier. Noch im Weinberg eilte ihm der Schweizer zu Hilfe und begann damit, den Finnen wieder aufzubauen. "Wir haben diskutiert, war passiert ist und was nun als nächstes kommt", so Latvala. Nur eine Stunde später - zurück im Service Park - zeigte die gemeinsame Arbeit erste Früchte und es ging ihm besser. Auch am Abend saßen der Mentaltrainer und Latvala zusammen. Alle Fehler wurden aufgelistet, genau analysiert, in welchen Bereichen die Probleme lagen. "Wir haben herausgefunden, dass die Herangehensweise an diesem Morgen komplett falsch war - sowohl von Christoph als auch von mir. Wir wollten beide diesen Sieg, aber wir haben vergessen, dass es um das hier und jetzt ging."

Eine harte Lektion und ein herber Rückschlag. "Noch bei der anschließenden Rallye Australien war mein Selbstbewusstsein im Keller. Wir mussten hart arbeiten, um es wieder aufzubauen", erinnerte sich Latvala. Doch genau diese harte Arbeit zeigte nur wenig später Erfolg. Am 5. Oktober 2014 siegte der Volkswagen-Pilot bei der Rallye Frankreich. Mit seinem ersten Sieg auf Asphalt beendete er gleichzeitig eine lange Durststrecke. Knappe 15 Jahre hatte vor seinem Triumph kein Finne mehr eine Asphalt-Rallye gewonnen.

Bereits Mitte August hat Latvala nun die nächste Gelegenheit, Geschichte zu schreiben: Er könnte der erste Finne werden, der einen Rallye-WM-Lauf in Deutschland gewinnt - und damit auch seine eigenen Erinnerungen besiegt.