Zum ersten Mal seit 1986 kann Porsche wieder einen Weltmeistertitel erringen. Mathematisch ist es möglich, dass die beiden Porsche 919 Hybrid den Herstellertitel in der FIA Langstrecken-Weltmeisterschaft 2015 bereits im vorletzten Lauf am 1. November in Shanghai gewinnen. Ebenso ist es möglich, den Titel im Endspurt der Saison noch gegen die zuletzt wieder erstarkte Konkurrenz zu verlieren. Es herrscht Hochspannung vor dem Sechsstundenrennen auf der von einzigartigen Kurven geprägten Formel-1-Rennstrecke in China.

Das Porsche Team reist mit 264 Punkten in der Herstellerwertung zum siebten von acht WM-Läufen. Audi hat 211 Zähler, Toyota 119. Die maximale Beute pro Sechs-stundenrennen sind 44 Punkte – 25 und 18 für einen Doppelsieg plus einen für die Poleposition.

In der Fahrerwertung liegen Timo Bernhard (DE), Brendon Hartley (NZ) und Mark Webber mit 129 Punkten an der Spitze. Nur einen Punkt weniger hat das beste Audi-Trio. Die zweite Porsche-Crew mit Romain Dumas (FR), Neel Jani (CH) und Marc Lieb (DE) liegt mit 95,5 WM-Zählern auf Platz drei.

31 Rennwagen mit 86 Fahrern aus 19 Nationen sind in der WEC eingeteilt in vier Leistungsklassen. Der Porsche 919 Hybrid tritt in der Spitzenkategorie LMP1 (Le-Mans-Prototypen der Klasse 1) an und fungiert dabei auch als Entwicklungsträger für zukünftige Sportwagentechnologie. Den Antrieb übernehmen ein Downsizing-Vierzylinder-Turbobenziner mit zwei Litern Hubraum und ein Elektromotor, der von zwei verschiedenen Energierückgewinnungssystemen (Bremsenergie von der Vor-derachse und Abgasenergie) gespeist wird. In Kombination ergibt das wegweisende und in der WEC einzigartige Antriebskonzept eine Systemleistung von rund 1000 PS.

Fünf Rennen konnte der Porsche 919 Hybrid seit seinem Renndebüt 2014 gewinnen: Das Finale der ersten Saison in Interlagos und 2015 gleich vier Rennen in Folge: erst das 24-Stunden-Rennen von Le Mans, dann die Sechsstundenrennen auf dem Nürburgring, in Austin und in Fuji. Drei Mal gelang dabei ein Doppelsieg (Le Mans, Nürburgring und Fuji), und in allen sechs 2015 bislang ausgetragenen WM-Läufen gehörte die erste Startreihe komplett Porsche. Dabei stehen 2015 für jede Crew derzeit drei Polepositions zu Buche.

2014 hatten Dumas/Jani/Lieb in Shanghai die Poleposition und im Rennen den damals dritten Podestplatz für den Porsche 919 Hybrid geholt. Bernhard/Hartley/Webber waren von Platz drei gestartet und nach einem Reifenschaden als Sechste ins Ziel gekommen. Zuvor hatte es in Shanghai die erste Doppelführung für die beiden 919 gegeben.

Stimmen vor dem Rennen

Fritz Enzinger, Leiter LMP1: "Im zweiten Jahr schon um den WM-Titel kämpfen zu können, ist eine starke Leistung von allen im Team. Diese Situation ist deutlich früher eingetreten, als man erwarten konnte. In Fuji sind wir mit dem daraus resultierenden Druck gut umgegangen, auch die Fahrer haben sich als Mannschaftsspieler bewiesen. In Shanghai spitzt sich die Situation jetzt noch einmal mehr zu. Der Kurs ist nicht unbedingt eine Paradestrecke für unseren Porsche 919 Hybrid, und die Konkurrenz von Audi hat noch einmal nachgelegt. Gerade weil viel auf dem Spiel steht, müssen wir alle Ruhe bewahren. Wenn wir trotz der Anspannung wieder so konzentriert arbeiten wie zuletzt in Japan, dann haben wir die besten Chancen."

Andreas Seidl, Teamchef: "Da der Reifenverschleiß aufgrund der Streckencharak-teristik in Shanghai immer sehr hoch ist, stehen uns per Reglement acht Sätze Tro-ckenreifen für das Rennen zur Verfügung. Wir müssen also keine Doppelstints fah-ren. Aber auch über ein Tankintervall wird es nicht leicht, die Reifenperformance hochzuhalten, um permanent im Verkehr attackieren zu können. Das Reifenma-nagement und die generelle Standfestigkeit werden entscheidende Faktoren für den Rennsieg und den Titelkampf mit Audi. Wir haben viel über die Abstimmung des 919 mit dem Aerodynamikpaket für hohen Abtrieb gelernt und sollten gut gerüstet sein."

Alexander Hitzinger, Technischer Direktor LMP1: "Mit vier Siegen in Folge auf Strecken mit völlig unterschiedlicher Charakteristik haben wir gezeigt, dass der 919 Hybrid überall schnell ist. Wir werden in Shanghai ein ähnliches Abtriebsniveau wie in Fuji fahren. Dieses gegenüber Shanghai 2014 deutlich höhere Niveau wirkt sich positiv auf die Fahrzeugbalance und den Reifenverschleiß aus, was eine große Verbesserung darstellen sollte. Allerdings sind wir uns der Weiterentwicklung der Konkurrenz sehr bewusst und wissen, dass sie in Lauerstellung liegt."

Fahrer Porsche 919 Hybrid (Nummer 17)

Timo Bernhard (34, Bruchmühlbach-Miesau): "Bislang waren wir nur Jäger, jetzt sind wir auch Gejagte und wollen gerne vorn bleiben – in der Herstellerwertung so-wieso, aber auch bei den Fahrern. Wir müssen so konzentriert weiter arbeiten wie bisher. Die hervorstechende Eigenheit der Strecke in Shanghai ist die Kurve eins. Sie ist gefühlt endlos und wird immer enger. Eine andere entscheidende Stelle ist die langgezogene Rechtskurve vor der Gegengeraden. Da muss man früh aufs Gas. Wegen des aggressiven Belags sollte man sich die Reifen gut einteilen."

Brendon Hartley (25, Neuseeland): "Die Rennstrecke in Shanghai hat einige sehr spezielle Kurven. Wenn ich mir die zurückliegenden Rennen anschaue, dann dürften wir auch in China wieder ein richtig spannendes Rennen erleben. Wir führen nun mit einem Punkt in der Fahrer-WM, aber das ändert gar nichts an unserer Herangehensweise. Audi hatte in Fuji Fortschritte gezeigt. Es wird garantiert wieder ein harter Wettkampf, und ich kann den vorletzten Lauf kaum erwarten."

Mark Webber (39, Australien): "In den langen und schnellen Kurven der Rennstre-cke in Shanghai wird der linke Vorderreifen besonders stark beansprucht. Die lange Gerade wird unserem 919 sehr gut liegen. In der Vergangenheit hätte uns eine komplexe Strecke wie diese Kopfzerbrechen bereitet, aber mit unserem gegenüber 2014 stark weiterentwickelten Auto können wir dort mit Zuversicht antreten."

Fahrer Porsche 919 Hybrid (Nummer 18)

Romain Dumas (37, Frankreich): "In Shanghai sollten wir einen großen Unter-schied gegenüber unserer Leistungsfähigkeit vom Vorjahr sehen. Unser 2015er Auto hat viel mehr Abtrieb. Insgesamt ist die Strecke schön und bietet alles – schnelle und langsame Kurven, eine lange Gerade. Die Vorderachse wird stark beansprucht, aber unsere Basis stimmt."

Neel Jani (31, Schweiz): "Shanghai und Fuji waren im vergangenen Jahr sehr ähn-lich für uns und so denke ich, dass wir grundsätzlich auch in diesem Jahr eine ver-gleichbare Performance auf diesen Strecken sehen werden. In Fuji waren wir gut, aber nicht so überlegen wie zuvor auf dem Nürburgring oder in Austin. Hinzu kommt, dass die Strecke von Shanghai ein ausgesprochen reifenmordender Kurs ist und Audi einen Schritt nach vorn gemacht hat. Es wird spannend."

Marc Lieb (35, Ludwigsburg): "Die Strecke in Shanghai ist relativ untypisch, sowohl vom Belag her als auch in ihrem Kurvenverlauf. Es gibt bemerkenswert viele Kurven, die in ihrem Radius enger werden. Das ist für die Fahrzeugabstimmung eine Herausforderung, weil die Autos dort eine starke Tendenz zum Untersteuern entwickeln."