Der Artikel wurde in der 78. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 12. Mai 2021 veröffentlicht.

Wir leben in bewegten Zeiten. Nicht erst, seit Corona unser aller Leben innerhalb weniger Tage auf den Kopf gestellt hat. Schon davor machten wir als Menschheit im Laufe einiger Jahre Veränderungen durch, die sich davor über Jahrzehnte oder Jahrhunderte gestreckt hätten. Neue Technologien treiben Entwicklungen mit Rekordgeschwindigkeit voran. Wer nicht Schritt halten kann, bleibt auf der Strecke. Das gilt für einzelne Menschen. Das gilt für Unternehmen. Und das gilt auch für sportliche Institutionen wie die MotoGP. Seit 1949 besteht die Motorrad-Weltmeisterschaft in der aktuellen Form. Will sie auch die kommenden Jahrzehnte Millionen von Fans rund um die Welt begeistern und ökonomisch profitabel bleiben, sind Veränderungen unumgänglich. Motorsport-Magazin.com zeigt die fünf Schlüsselthemen in der Zukunft der MotoGP.

Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit - ein Begriff, bei dem sich so manchem Motorsportfan der Magen umdreht, auch wenn den vom Menschen gemachten Klimawandel niemand mehr ernsthaft leugnen kann. Das Problem: Nachhaltigkeit im Motorsport ist oft nicht mehr als Etikettenschwindel und eine Chance für involvierte Unternehmen, sich ein grünes Mäntelchen umzuhängen. Das durchschaut der Fan schnell und fühlt sich an der Nase herumgeführt. Der Rennsport kann sich aber nicht von der Außenwelt abkapseln und so tun, als würde ihn all das nichts angehen. Das gilt besonders für die Motorradbranche und ihr Aushängeschild MotoGP, wo man bei umweltfreundlichen Technologien der Konkurrenz auf vier Rädern noch deutlich hinterherhinkt. Ja, die aktuellen 1000ccm-Vierzylinder der Königsklasse sind die effizientesten Triebwerke, welche die großen Hersteller aktuell bauen. Mit rund 18 Litern Benzin auf 100 Kilometer kommen die modernen MotoGP-Bikes aus. Bei 300 Pferdestärken und jeder Menge Vollgas ein Wert, der sich absolut sehen lassen kann. Dennoch bleiben es Verbrennungsmotoren, die im Automotive-Sektor ein Auslaufmodell darstellen. "Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir uns in der Zukunft von Verbrennern entfernen müssen", erklärt Lin Jarvis, Managing Director von Yamaha Motor Racing. "Die Frage ist nur, wo es für Moto3, Moto2 und MotoGP genau hingeht. Das wird davon abhängen, wo die Hersteller ihr Investment hin verlagern." Nachgedacht wird über unterschiedliche Technologien. Elektromotoren, Hybrid-Lösungen oder auch ein Wechsel zu synthetischen Kraftstoffen wären gangbare Wege. Bis es dazu kommt, werden aber noch einige MotoGP-Saisons mit Verbrennern vergehen. "Ich rechne damit, dass in etwa fünf Jahren die Entwicklung neuer Power-Units beginnt", so Jarvis. "Wir liegen da noch deutlich hinter der Automobilindustrie zurück. Meiner Meinung nach gibt es aktuell noch zu wenige Motorräder mit Elektro- oder Hybridantrieben." Die MotoGP befindet sich hier aber auf einer Gratwanderung. Denn nachhaltige Antriebskonzepte können für die Serie nur dann eine sinnvolle Lösung sein, wenn damit weiterhin dieselbe Begeisterung für den Sport ausgelöst werden kann. "Emotionen sind wahnsinnig wichtig für uns", gibt Jarvis zu bedenken. "Die entstehen aber durch einen Klang und eine Geschwindigkeit, die wir aktuell etwa durch die MotoE noch nicht erreichen können." Pau Serracanta, Managing Director bei MotoGP-Promoter Dorna, signalisiert völlige Gesprächsbereitschaft im Hinblick auf neue Technologien. "Das ist eine Entscheidung, welche die Dorna nicht treffen kann. Wir lassen uns da von der Industrie leiten. Sie werden uns den richtigen Weg zeigen. Ich sage immer: Motorsport ist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung", so Serracanta, der damit auf die Vorreiterrolle des Sports bei der Entwicklung neuer Technologien wie etwa der Hybridtechnik verweist. "Nachhaltigkeit ist für die Dorna und unsere Partner ein wichtiges Thema. Unsere Trucks fahren mit Biosprit, unser Logistikpartner DHL hat sich diesbezüglich selbst strenge Vorschriften auferlegt, Michelin liefert für die MotoE Reifen aus recyceltem Gummi." Auch im Paddock werden bereits erste Schritte gesetzt. Mit der KISS-Kampagne (Keep It Shiny and Sustainable), promotet der Motorradweltverband FIM saubere Events, bei denen etwa unnötiges Müllaufkommen vermieden werden soll. Kann die MotoGP hier in Zukunft eine Vorreiterrolle einnehmen, stärkt sie ihre Position nach außen hin. Denn angreifbar wird der Motorsport für Kritiker nur dann, wenn er in Selbstherrlichkeit verharrt.

Michelin setzt teilweise auf recycelte Reifen, Foto: Motorsport-Magazin.com
Michelin setzt teilweise auf recycelte Reifen, Foto: Motorsport-Magazin.com

E-Sports

Der nächste Nemesis für Motorsportpuristen. E-Sports, also das professionelle Ausüben von Videospielen, ist in den vergangenen Jahren zu einer millionenschweren Branche angewachsen. Vom Fußball bis zur MotoGP sind unterschiedliche Sportarten nach und nach auf den E-Sports-Zug aufgesprungen. In der Zweiradszene waren hitzige Diskussionen die Folge. Alteingesessene Fans sahen ihren Sport durch Computerspiele verwässert, während Fans der virtuellen Rennen einen ernsthaften Wettbewerb erkannten. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Die E-Sportler sind an der Konsole in der Lage, Dinge zu leisten, welche sogar für die besten MotoGP-Fahrer unmachbar sind. Sie deshalb aber auf eine Ebene mit Fahrern zu heben, die auf realen Rennstrecken ihr Leben riskieren, scheint doch unpassend. E-Sports sollte aber auch gar nicht als Konkurrent zum echten Geschehen gesehen werden, sondern viel mehr als Ergänzung. Tatsächlich waren es lokale Veranstalter, Sponsoren oder TV-Stationen, die auf MotoGP-Promoter Dorna zukamen und mehr Aktivität in diesem Bereich forderten. Die Dorna reagierte prompt und startete 2017 mit einer eigenen E-Sports-Serie durch. "Wir haben in der MotoGP im Vergleich zu anderen Rennserien ohnehin ein sehr junges Publikum, aber bei den E-Sports-Events sind die Zuseher noch einmal deutlich jünger", so Dorna-Mann Serracanta. "Für uns ist es das perfekte Tool, um mit der Generation-Z zu interagieren." Das haben mittlerweile auch die Teams erkannt und eigene E-Sports-Fahrer unter Vertrag genommen. Im neuen Segment konnten viele Rennställe neue Sponsoren an Land ziehen. "Diese Unternehmen können dann auch ein Teil des echten Sports werden", erklärt Serracanta. Die MotoGP gibt hier deshalb nun Vollgas. Neben der seit 2017 als oberste Liga agierenden eSport Championship wurden Kontinentalserien eingeführt, 2021 gibt es auch erstmals eine nationale Liga in Indonesien. Bis Ende des Jahres sollen drei bis vier weitere Länder folgen. Der Plan der Dorna: Wie auf den realen Rennstrecken mit Projekten wie dem Northern Talent Cup oder Red Bull Rookies Cup sollen sich auch in der virtuellen Welt über Nachwuchsserien Stars entwickeln.

Täuschend echt: Virtuelle Rennen wirken beinahe real, Foto: MotoGP.com/Screenshot
Täuschend echt: Virtuelle Rennen wirken beinahe real, Foto: MotoGP.com/Screenshot

Social Media

Fernsehquoten und die damit verbundenen Gelder waren über Jahrzehnte hinweg der bestimmende Faktor für den kommerziellen Erfolg einer Rennserie. Das gilt nach wie vor, aber lineares Fernsehen bekommt zunehmend Konkurrenz in Form der Sozialen Medien. Das Yamaha-Werksteam ist in beiden Bereichen Marktführer unter den MotoGP-Rennställen und generierte im Schnitt der vergangenen fünf Jahre über TV 99 Millionen Euro Werbewert jährlich. Auf Social Media schaffte man 2020 bereits 24,4 Millionen Euro. Das bedeutete ein Plus von mehr als 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Kein Wunder, denn die Follower-Zahlen der MotoGP sind gewaltig. Fast 13,95 Millionen begeistern sich auf Facebook für die Königsklasse auf zwei Rädern, 10,7 auf Instagram, 4,11 auf YouTube und 2,8 auf Twitter. Insgesamt kommt die MotoGP auf 31,56 Millionen Fans in den Sozialen Netzwerken und muss sich damit der Formel 1, die sich über 33,48 Millionen Anhänger freuen darf, nur knapp geschlagen geben. Die Gründe für den Erfolg von Social Media liegen auf der Hand. Der Medienkonsum unserer Gesellschaft hat sich verändert, vor allem unter jungen Leuten. Immer weniger von ihnen wollen ganze Sessions oder Rennen verfolgen. Stattdessen gibt es kurze Häppchen auf Instagram & Co. Ein großer Vorteil: Die MotoGP bleibt damit auch dann präsent, wenn gerade kein Rennwochenende auf dem Programm steht. Kommt man im linearen Fernsehen nicht vor, können den Fans dennoch Inhalte in den Sozialen Medien geliefert werden - seien es nun Bilder, Videos oder Artikel. Eine gewaltige Präsenz, die Fahrer, Teams und Hersteller potentiellen Sponsoren teuer verkaufen können.

Für die Fahrer gehört Social Media zum Job, Foto: LAT Images
Für die Fahrer gehört Social Media zum Job, Foto: LAT Images

Storytelling

In die gleiche Kerbe schlägt auch die Streaming-Branche. Unterschiedliche Portale bieten dem Zuseher 365 Tage im Jahr und 24 Stunden am Tag seine liebsten Filme oder Serien an - und laufen damit dem linearen Fernsehen zunehmend den Rang ab. Eine Entwicklung, welche die F1-Bosse von Liberty Media bereits 2018 erkannten. Damals produzierte man zusammen mit Streaming-Krösus Netflix die ersten Folgen von 'Drive to Survive'. Die Show gibt einen Blick hinter die Kulissen des Formel-1-Zirkus und ermöglicht eine neue Sichtweise auf das Geschehen. Mittlerweile ist die dritte Staffel online - mit überragendem Erfolg. Die neuesten Folgen schafften es auf Platz eins der Netflix-Charts. Massen an Zusehern, die zuvor mit der Formel 1 wenig bis gar nichts anfangen konnten, begeistern sich plötzlich für den Sport. Ein Feld, das die MotoGP nicht länger brachliegen lassen will. Zwar produzierte man in der Vergangenheit ähnliche Formate über Stars wie Marc Marquez oder Joan Mir, allerdings waren die über den Videopass der eigenen Website nur einem vergleichsweise kleinen Publikum zugänglich. Nun startet man nach Vorbild der Formel 1 durch. Schon in der laufenden Saison wird eine Serie produziert, die dann bei einem Streaming-Anbieter zu sehen sein soll. "Das ist ein weiterer Weg, um Fans ins Boot zu holen", ist Serracanta überzeugt. "Mir macht das Angst", scherzt Yamaha-Boss Jarvis. "Im Ernst: Ich habe alle Folgen von 'Drive to Survive' gesehen und finde es extrem unterhaltsam. Man sieht dort Dinge, die in der normalen TV-Übertragung einfach nicht abbildbar sind. Aus Fan-Sicht ist es faszinierend, so hinter die Kulissen blicken zu können. Menschen, die mit dem Sport nicht so vertraut sind, finden dann etwa gewisse Charaktere spannend. Wie in einer Seifenoper! Die MotoGP kann von so einer Plattform mit Sicherheit massiv profitieren, denn auch wir haben unter den Fahrer ein paar ganz besondere Typen. Außerdem sind wir vielleicht ein bisschen weniger politisch korrekt als die Leute in der Formel 1."

Sicher einer der Stars der MotoGP-Doku: Marc Marquez, Foto: LAT Images
Sicher einer der Stars der MotoGP-Doku: Marc Marquez, Foto: LAT Images

Neue Märkte

Abseits von Social-Media-Plattformen und Streaming-Portalen geht es für die MotoGP vor allem darum, den Fan direkt vor Ort abzuholen, also mit Grands Prix in seiner Nähe. Verglichen mit der Formel 1 ist die Motorrad-Weltmeisterschaft immer noch sehr auf Europa fixiert. 68 Prozent der Rennen 2021 finden hier statt, in der Formel 1 sind es lediglich 57 Prozent. Doch der Kernkontinent ist gesättigt, vor allem die Zweiradhersteller drängen auf neue Events in wachsenden Märkten wie Südamerika oder Südostasien. Der Erfolg des 2018 neu aufgenommenen Thailand-GP zeigt die Sinnhaftigkeit dieses Unterfangens. Gleichzeitig gilt es aber, Traditionsveranstaltungen nicht zu verlieren und somit das Herz des Sports zu wahren. "Das ist für uns sehr wichtig", bestätigt Serracanta im Namen von Promoter Dorna. "Davon abgesehen zählt für uns vor allem ein großer Motorradmarkt für die Hersteller in dem jeweiligen Land und eine starke Fanbase, denn wir wollen nicht vor leeren Tribünen fahren. Auch logistische Überlegungen spielen eine Rolle." Diese Anforderungen der Dorna werden aber von mehr Strecken erfüllt, als im Kalender Platz haben. Das Programm lässt sich nicht endlos aufblasen, im Bereich von 20 Rennen pro Jahr ist die Belastbarkeitsgrenze für Teams und Fahrer erreicht. In Zukunft soll deshalb ein Rotationsprinzip Abhilfe schaffen. "Ein Event wäre dann beispielsweise vier Jahre im Kalender und einmal nicht", rechnet Serracanta vor. "Das ist eine einfache und faire Lösung, um die MotoGP auf möglichst vielen Strecken zu haben."

Die MotoGP soll auch in Zukunft spannend und relevant bleiben, Foto: LAT Images
Die MotoGP soll auch in Zukunft spannend und relevant bleiben, Foto: LAT Images

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