Der Artikel wurde in der 81. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 28. Oktober 2021 veröffentlicht.

Die MotoGP-Stars schossen sich im 4. Freien Training am Red Bull Ring gerade für das erste Qualifying nach der Sommerpause ein. Ein wichtiger Moment an jedem Rennwochenende, in dem jegliche Störfeuer von außen zu vermeiden sind. Dementsprechend groß war die Verwunderung, als gegen Halbzeit der Session plötzlich eine Pressemitteilung von KTM in den Posteingängen der MotoGP-Journalisten landete. "Raul Fernandez completes 2022 MotoGP Tech3 KTM Factory Racing roster", stand da geschrieben. Damit war an diesem 7. August auch die letzte RC16 für die kommende Saison vergeben. Brad Binder und Miguel Oliveira würden das Werksteam bilden, Remy Gardner und eben Fernandez die Fahrerpaarung im Rennstall von Herve Poncharal.

Damit stand auch fest, dass es für die diesjährigen Fahrer Danilo Petrucci und Iker Lecuona keine Zukunft im Projekt gibt. Eine Nachricht, die das Duo nach Ende des Trainings bei der Rückkehr an die Box erhalten musste. Keiner der beiden Piloten wurde vorab informiert, die Bestätigung kam mit der Pressemitteilung. Augenzeugen sprechen von einem wütenden Petrucci. Der junge Lecuona, der seine MotoGP-Karriere schon im Alter von 21 Jahren den Bach runtergehen sah, soll sogar mit den Tränen gekämpft haben. Für diese Art der Kündigung musste KTM im Fahrerlager eine Menge Kritik einstecken. "Es ist ein verrückter Zeitpunkt, um solche Neuigkeiten zu veröffentlichen", zeigte sich selbst Tech-3-Teamchef Herve Poncharal verärgert. "Die Art und das Timing sind alles andere als ideal. Danilo und Iker standen vor dem Qualifying. Es hätte sicher einen besseren Moment gegeben. Der Plan war, dass wir uns am Sonntag zusammensetzen und unsere Fahrer informieren." Die oft strapazierte Phrase von der 'orangen Familie' klang in dieser Situation nach billigem PR-Sprech, der eine wenig menschliche Vorgangsweise im Hintergrund kaschieren sollte. Die Vorwürfe schienen berechtigt, die Sachlage war aber deutlich komplizierter als man auf den ersten Blick vermuten konnte.

Fernandez ist der beste Moto2-Rookie seit Marc Marquez, Foto: LAT Images
Fernandez ist der beste Moto2-Rookie seit Marc Marquez, Foto: LAT Images

Was war passiert? Raul Fernandez sorgte bereits im Vorjahr mit zwei Siegen in den letzten drei Moto3-Rennen für Aufsehen. In seiner Moto2-Rookie-Saison zeigte er aber erstmals sein volles Talent. Als erster Rookie in der mittleren Klasse nach Marc Marquez konnte er sieben Grands Prix gewinnen und kämpft damit sogar um den Weltmeistertitel. Logisch, dass er so das Interesse der MotoGP-Hersteller weckte. Besonders angetan zeigte sich bald Yamaha, wo man spätestens nach dem Rauswurf von Maverick Vinales und der Rücktrittsbekanntgabe von Valentino Rossi dringend frisches Blut suchte. Und Yamaha hielt mit seinen Intentionen nicht hinter dem Berg. Eine halbe Million Euro wollte man an KTM überweisen, um Fernandez aus dem klassenübergreifenden Dreijahresvertrag herauszukaufen. Am Budget mangelte es den Japanern ja nicht, hatte man schließlich erst kurz davor mit Maverick Vinales den teuersten Mitarbeiter des Unternehmens von der Gehaltsliste streichen können. KTM lehnte dankend ab und soll sogar MotoGP-Promoter Dorna darum gebeten haben, die Konkurrenz daran zu erinnern, dass Verträge einzuhalten sind. Eine Botschaft, die bei Yamaha anscheinend auf taube Ohren stieß. Die Führungsebene rund um Lin Jarvis soll weiterhin an einem Fernandez-Transfer gearbeitet haben, am ersten Spielberg-Wochenende wurde das Management des jungen Spaniers zusammen mit Petronas-SRT-Teamchef Razlan Razali in einem Restaurant unweit der Strecke gesichtet. Die Parteien sollen sich zu diesem Zeitpunkt bereits einig gewesen sein. Deswegen sah sich KTM am Samstag zur Hauruckaktion mit der Bekanntgabe während des 4. Freien Trainings gezwungen. Ein versöhnliches Ende zumindest für die Mattighofener und Fernandez? Mitnichten. Denn der willensstarke Youngster hätte seine MotoGP-Karriere anscheinend lieber bei Yamaha als bei KTM begonnen. Auch er soll über die Bekanntgabe des Deals und das Beharren seines Arbeitgebers auf dem unterschriebenen Vertrag vorab nicht informiert gewesen sein. Auf die Frage, ob er 2022 nun dort fahren wird, wo er es will, antwortete er kurz nach der Verkündung nur: "Nein. Lassen wir das so stehen."

Für Iker Lecuona ist der MotoGP-Traum ausgeträumt, Foto: Credit gp-photo.de - Ronny Lekl
Für Iker Lecuona ist der MotoGP-Traum ausgeträumt, Foto: Credit gp-photo.de - Ronny Lekl

Auch wenn sich die Wogen in den vergangenen Wochen etwas geglättet haben - die Situation bleibt bizarr. Bislang kannte man derartige Dramen aus der MotoGP nicht, doch der Fall Fernandez könnte nur die erste zahlreicher solcher Episoden in den nächsten Jahren sein. Denn der Kampf um junge Talente hat in der aktuellen Ära völlig neue Dimensionen angenommen. Die Gründe hierfür sind klar: Vor einigen Jahren noch buhlten nur Honda, Yamaha und Ducati um die Youngsters aus den kleineren Klassen. Mittlerweile mischen auch Suzuki, Aprilia und vor allem KTM mit. Die Österreicher haben eine Menge Geld investiert, um ihre 'Road to MotoGP' anzulegen. Der Plan: Fahrer sollen von den Nachwuchsserien über die kleineren WM-Kategorien bis in die Königsklasse im KTM-Lager bleiben. In der Moto2 ist man dafür eine Partnerschaft mit dem Ajo-Team eingegangen, auch wenn die Piloten dort auf Maschinen von Kalex unterwegs sind. In der Moto3 ist man werksseitig engagiert, im Red Bull Rookies Cup gar exklusiver Motorradlieferant. Daran stört sich die Konkurrenz immer wieder, sieht man doch in der Monopolstellung von KTM in einem der wichtigsten Junioren-Cups der Zweiradwelt einen unfairen Wettbewerbsvorteil. Tatsächlich sucht der aktuelle Talente-Pool der Österreicher im Paddock der Motorrad-Weltmeisterschaft seinesgleichen. Mit Brad Binder, Miguel Oliveira, Remy Gardner und Raul Fernandez ist man in der MotoGP 2022 bereits bestens bestückt, mit Shooting-Star Pedro Acosta drängt bereits der nächste potenzielle Superstar nach. Mit Ausnahme Gardners haben auch all diese Fahrer die große Bühne unter dem KTM-Banner betreten. Dass eine Verbindung zwischen Hersteller und Youngster absolut kein Garant für eine langfristige Partnerschaft sein muss, zeigten die letzten Jahre in der MotoGP aber immer wieder. Fabio Quartararo wurde etwa mit 15 Jahren von Honda, das dafür sogar eine Anpassung des Alterslimits für den Moto3-Junioren-Weltmeister des Vorjahres bei der Dorna durchboxte, in die Motorrad-WM geholt. Nach mehreren erfolglosen Jahren ließ man ihn fallen. Heute eilt er für Yamaha von Erfolg zu Erfolg. Jack Miller stieg mit Honda in die MotoGP auf, glücklich wurde er dort aber erst mit Ducati. KTM muss wohl doch einiges richtig machen, wenn es gelingt, Fahrer über derart lange Zeiträume an sich zu binden - mit Ausnahme von Raul Fernandez auch durchwegs im gegenseitigen Einverständnis.

Klar ist: Der Transfermarkt der MotoGP ist heiß umkämpft. Und anstatt Millionen für etablierte Stars auszugeben, sichern sich die Hersteller lieber die Dienste von vielversprechenden Nachwuchshoffnungen. Zum einen, weil die Geldbeutel der Motorsportabteilungen in der aktuell angespannten wirtschaftlichen Situation nicht mehr so prall gefüllt sind wie noch vor einigen Jahren. Aber auch, weil der Trend zu immer jüngeren Fahrern in der MotoGP ungebrochen ist. Sehen wir uns etwa den eingangs erwähnten Iker Lecuona an. Mit der Erfahrung von gerade einmal 55 Grands Prix wurde er 2020 im Alter von nur 20 Jahren in die Königsklasse transferiert. Doch seine Leistungen blieben hinter den Erwartungen zurück. So muss er nun seine Zelte in der MotoGP wieder abbrechen und hat die Wahl: Entweder er geht zurück in die Moto2 oder er entscheidet sich für den Schritt in die Superbike-WM, welcher sich in der jüngsten Vergangenheit aber zunehmend als karrieretechnische Sackgasse erwiesen hat, wenn das große Ziel die MotoGP ist. Der Valencianer wurde in der härtesten Motorradrennserie des Planeten klassisch verheizt. Ein Mahnmal für junge Piloten und deren Manager, doch noch ist kein Ende des Jugendwahns in Sicht. Mit der Rücktrittswelle der vergangenen Jahre, im Zuge derer Legenden wie Jorge Lorenzo, Dani Pedrosa oder Valentino Rossi den Sport verließen beziehungsweise bald verlassen werden, fiel das Durchschnittalter im MotoGP-Starterfeld rapide. Nur fünf Fahrer sind zum Saisonstart 2022 über 30 Jahre alt. Dieses Faktum als etwas rein Negatives zu sehen, wäre aber falsch. Frische Gesichter sind für den Sport wichtig. Und an der Klasse der jüngsten MotoGP-Generation besteht definitiv kein Zweifel. Gesund ist der MotoGP-Transfermarkt dennoch nicht. Es besteht Handlungsbedarf. Das hat nicht erst der Zwist zwischen Yamaha und KTM um Raul Fernandez gezeigt. Verträge waren im Paddock der Motorrad-Weltmeisterschaft in den vergangenen Jahren oft nicht einmal das Papier wert, auf dem sie geschrieben standen. Fahrer mit bestehenden Kontrakten wurden von Teams etwa einfach vor die Tür gesetzt, wenn sich eine spannendere Option auftat. Wenn Verträge nicht mehr eingehalten werden, wozu sind sie dann gut?

Danilo Petrucci fährt nach dem MotoGP-Aus bei der Rallye Dakar, Foto: LAT Images
Danilo Petrucci fährt nach dem MotoGP-Aus bei der Rallye Dakar, Foto: LAT Images

Nicht verwerflich, aber auch alles andere als sinnvoll, ist die Tatsache, dass MotoGP-Deals immer früher und früher abgeschlossen werden. Es wurde zur Mode, dass neue Verträge bereits ein Jahr vor Ablauf der aktuellen Gültigkeitsdauer abgeschlossen wurden. Fahrer wollten sich ihrer Plätze sicher sein und Teams starke Piloten bloß nicht verlieren. Vor allem für die Fahrer hatte das aber oft bittere Folgen. Sie unterzeichneten etwa Verträge bei Herstellern, die sich in der Zwischenzeit doch nicht als so konkurrenzfähig herausstellten, wie man das vermutete hatte. Pol Espargaro kann nach seinem Wechsel von KTM zu Honda ein Lied davon singen. Der MotoGP-Transfermarkt ist zum Glücksspiel geworden. Pokert man richtig, darf man sich freuen. Geht das Wagnis aber nicht auf, kann das die Karriere in der Königsklasse massiv einbremsen und im schlimmsten Fall sogar beenden. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein. Auf den besten Motorrädern sollten immer noch die besten Fahrer sitzen, nicht die glücklichsten. Was all die beschriebenen Probleme gemeinsam haben: Sie wären lösbar. Die Motorrad-Weltmeisterschaft braucht am Transfermarkt strengere Regeln. Oder, um genauer zu sein: Sie bräuchte überhaupt einmal ein Reglement. Denn aktuell sind Fahrerwechsel nirgendwo geregelt. Dementsprechend herrscht diesbezüglich im MotoGP-Paddock das Recht des Stärkeren. Wer mehr Geld oder die bessere Rechtsabteilung hat, gewinnt. Das kann nicht im Sinne eines Sports sein, der in den letzten Jahren so viel dafür getan hat, die Leistungsdichte im Feld zu erhöhen. Mit festgelegten Transferperioden und Strafen für nicht eingehaltene Verträge würde man die MotoGP zumindest etwas fairer und sauberer machen.

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