Spektakulär sind Flag-to-Flag-Rennen allemal. Daran gibt es keinen Zweifel? Wie weit aber darf man dafür gehen, wenn Gerechtigkeit und Sicherheit vielleicht auf der Strecke bleiben. Die MotoGP-Redakteure von Motorsport-Magazin.com diskutieren über Sinn und Unsinn der Regelung:

Pro: Das beste Spektakel

Wenn schwarze Wolken während eines Rennens über der Strecke aufziehen oder - wie am Sonntag - sich bereits in der Startaufstellung zeigen, dann keimt in mir ein ganz besonderes Kribbeln im Bauch auf. Kennt ihr dieses Gefühl auch? Flag-to-Flag-Rennen sind das Salz in der ohnehin schon vorzüglich gewürzten MotoGP-Suppe.

Zur Action auf der Strecke gesellt sich ein besonderes Spannungsmoment in der Boxengasse und sobald der erste Fahrer in die Pitlane abbiegt, halten viele vor dem Fernseher den Atem an. Es ist die Mischung aus Mut, Risikobereitschaft und Selbstvertrauen der Fahrer, die in solchen Momenten für das Knistern in den Wohnzimmern ihrer Bewunderer sorgt.

Der Grat zwischen Genie und Wahnsinn wird unter wechselhaften Wetterbedingungen noch schmaler als sonst und der Spruch "Pokal oder Hospital" ist in jeder Kurve Realität. Gefährlicher als bei herkömmlichen MotoGP-Rennen ist die Situation für die Fahrer nicht. Das Tempo ist deutlich geringer und viele Piloten agieren vorsichtiger, was sich klar in den plötzlich explodierenden Zeitunterschieden zwischen Spitze und Mittelfeld zeigt.

Mut und die richtige Strategie werden stärker belohnt als sonst - womit der Fahrer selbst zum entscheidenden Faktor wird. Dass Flag-to-Flag-Rennen am Ende keinesfalls ein Glücksspiel sind, zeigt unter anderem das Ergebnis vom Sonntag: Dort lagen jene Piloten auf den ersten vier Rängen, die bereits in den ersten vier (im trockenen gefahrenen) Rennen am meisten überzeugten. Auch wenn so mancher Fahrer die Flag-to-Flag-Regelung nicht mag, für den Zuschauer sind diese Rennen stets ein besonderes Spektakel, auf das ich nicht verzichten möchte.

Flag-to-Flag-Schlacht von Le Mans aus Sicht der MotoGP-Fahrer (09:20 Min.)

Contra: Ein unkontrollierbarer Höllenritt

"Das sind die besten Motorradfahrer der Welt. Die müssen damit klarkommen. Sollen sie eben Tempo rausnehmen." So oder so ähnlich klingen die Vorwürfe von manchen Fans, wenn die MotoGP-Piloten über Sicherheitsbedenken klagen. Ja, es handelt sich hier um die absolute Elite. Ja, diese Jungs verdienen damit Millionen. Und ja, man darf von ihnen auch erwarten, sich auf schwierigste Gegebenheiten einzustellen. Aber Mensch und Maschinen haben Grenzen. Das wurde an diesem Wochenende in Le Mans nur allzu deutlich.

Wenn ein Weltklassefahrer wie Alex Rins wenige Meter nach der Ausfahrt der Boxengasse zu Boden geht wie ein Anfänger in der ersten Fahrstunde, dann liegt das nicht an mangelnden Fähigkeiten. Die Fahrer sind unter dem Flag-to-Flag-Reglement gefangen in einem Teufelskreis: Fahren sie zu schnell, stürzen sie. Fahren sie zu langsam, kühlen die Reifen aus und sie stürzen - wahrscheinlich. Der Grat dazwischen ist dermaßen schmal, dass auch die besten Piloten eine gehörige Prise Glück brauchen, um ein Rennen wie das am Sonntag zu beenden.

Auf trockener Strecke gehört mit Slicks gefahren, auf nassem Asphalt mit Regenreifen. Selbst da ist die MotoGP ein Ritt auf der Rasierklinge. Alles was darüber hinausgeht, bedeutet eine reine Lotterie. Und am Ende wollen wir doch den besten Fahrer des Tages am obersten Treppchen sehen und nicht den glücklichsten. Manchmal kann das freilich auch ein und dieselbe Person sein, wie Jack Miller am Sonntag eindrucksvoll bewiesen hat.