Erste Rennen in der Heimat, Spanische Meisterschaft oder Red Bull Rookies Cup, Moto3, Moto2 und schließlich MotoGP. So sehen die Lebensläufe der meisten Piloten in der Königsklasse des Motorradsports aus. Einige wenige haben aber andere Wege eingeschlagen oder Abschnitte übersprungen. Im Fall des frischgebackenen Ducati-Werkspiloten Jack Miller zeigt sich, dass man auch so ans Ziel kommen kann.

Die Moto3-Weltmeisterschaft 2014: Jack Miller und Alex Marquez liefern sich bis zum letzten Rennen einen erbitterten Kampf um die Krone der kleinsten WM-Klasse. Das Duell der beiden ungleichen Piloten bietet Anlass zum Staunen, doch schlussendlich ist es eine andere Nachricht, die die MotoGP-Welt in Aufruhr versetzt. Denn einer der beiden wird in der darauffolgenden Saison in die Königsklasse aufsteigen, ganz gleich, ob er sich zum Weltmeister krönt oder nicht. Diese fast größenwahnsinnige Entscheidung kann eigentlich nur einer treffen. Zum eher verkopften und ruhigen Alex Marquez passt ein solcher Sprung nicht, der extrovertierte und für jede Schandtat zu habende Miller hingegen nimmt die Herausforderung gerne an.

Vom Outback auf die WM-Bühne

Schon vor seinem ungewöhnlichen Eintritt in die Königsklasse ist Miller nicht den Musterweg eines künftigen MotoGP-Piloten gegangen. Im Vergleich zu seinen europäischen Kollegen hat es Miller als gebürtiger Australier nämlich doppelt schwer. Er ist nicht einmal drei Jahre alt, als er sich die Honda QR 50 seines älteren Bruders unter den Nagel reißt. Damit beginnt Millers Leben auf zwei Rädern. Bevor er sich aber für den Asphalt entscheidet, startet er mit knapp acht Jahren im Offroad. Im Jahr 2003 wird er australischer Dirt-Bike-Meister, es folgen fünf weitere, australische Titel in den Jahren 2005 bis 2007 sowie zahlreiche Siege in lokalen Dirt-Bike- und Motocross-Serien. Kein Wunder, dass Millers Kollegen heute noch überzeugt sind, dass er auch dort Karriere machen könnte.

Aber so kommt es nicht. Stattdessen wagt Miller 2008 den Sprung in den Straßenrennsport - und das mit Erfolg. Bereits im darauffolgenden Jahr erkämpft er sich den australischen Meistertitel in der 125cc-Klasse. Damit hat er in seiner Heimat so ziemlich alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Um seine Karriere fortzusetzen, gibt es nur eine Möglichkeit: Europa. Ein riesiges Unterfangen, aber Millers Eltern wollen ihrem Sohn diese Chance nicht verwehren. Stattdessen nehmen sie eine Hypothek auf ihr Haus auf und bringen ihn nach Europa, damit er dort in den härter umkämpften Rennserien zeigen kann, was er draufhat. Das gelingt ihm ohne Zweifel. Im Jahr 2011 krönt er sich mit nur einem Punkt Vorsprung auf seinen deutschen Teamkollegen Luca Amato zum IDM-Champion der 125cc-Klasse. Im selben Jahr bestreitet Miller außerdem seine ersten Einsätze in der Weltmeisterschaft. Insgesamt sechs Rennen für zwei unterschiedliche Teams fährt der Australier in dieser Saison und ist damit Teil der letzten 125cc-Weltmeisterschaft, bevor diese zur Moto3 wird.

Miller in seiner Debütsaison 2011, Foto: Milagro
Miller in seiner Debütsaison 2011, Foto: Milagro

Miller vs. Marquez

Durch seinen Erfolg als IDM-Champion bietet ihm das Caretta-Team an, nach fünf Einsätzen im Jahr 2011 für die darauffolgende Saison einen festen Platz in ihrem Team einzunehmen. Damit ist Miller der Sprung vom australischen Outback in die WM geglückt. Beenden kann er seine erste vollständige Saison jedoch nur auf dem 23. Rang, obwohl er mit seinem vierten Platz beim Deutschland GP schon eine Kostprobe seines Könnens abliefert. In der Saison 2013 bleibt er dem Caretta-Team treu und steigert seine Leistungen gehörig. Zwar lässt ein erster WM-Sieg weiterhin auf sich warten, statt mit 17 Punkten geht er am Ende aber mit 110 Zählern nach Hause und sichert sich so den siebten Rang in der Gesamtwertung. Diese Leistungssteigerung in so kurzer Zeit ruft Aki Ajo auf den Plan. Der Finne hat ein untrügliches Gespür für starke Fahrer und hat schon vielen Shooting Stars zum Aufstieg in der WM verholfen. Jetzt ist es Miller, auf den sein Auge gefallen ist. Für die Saison 2014 holt er den Australier zu sich an Bord des KTM-Werksteams in der Moto3. Hier kann Miller wirklich zeigen, was in ihm steckt.

Er kämpft in dieser Saison gegen Alex Marquez, der für Estrella Galicia an den Start geht. Miller gegen Marquez, Australien gegen Spanien, KTM gegen Honda - die beiden Parteien könnten nicht unterschiedlicher sein. Und obwohl Miller in diesem Jahr gleich doppelt so viele Siege einfährt wie sein Rivale (Miller 6, Marquez 3), ist es der Spanier, der schlussendlich triumphiert. Gerade einmal zwei Punkte trennen die beiden Konkurrenten, als sie in Valencia auf dem Podium stehen. Und auch, wenn Millers Gesichtsausdruck zu diesem Zeitpunkt mehr als angesäuert ist, hat er Marquez in diesem Moment doch schon etwas voraus: Einen MotoGP-Vertrag mit dem größten Motorradhersteller der Welt - Honda. Die Japaner sind bereit, das Risiko einzugehen, einen Piloten von der Moto3 direkt in die MotoGP zu heben. Sogar gleich für drei Jahre nimmt Honda Miller unter Vertrag. Also feiert der Australier in der Saison 2015, mit nur 20 Jahren sein Debüt in der MotoGP, während sich sein ehemaliger Konkurrent in der Moto2 schwertut. Vor Miller hat den waghalsigen Schritt direkt in die Königsklasse zuletzt sein Landsmann Gary McCoy gewagt - im Jahr 1997.

Ohne Umwege in die MotoGP

Honda stellt Miller nun im LCR-Team von Lucio Cecchinello ab, wo der Youngster Teamkollege von Cal Crutchlow wird. Scheinbar eine Fügung des Schicksals, denn die beiden verbindet seit diesem Zeitpunkt eine enge Freundschaft. Auf der Rennstrecke sind Millers Leistungen mit seiner Open-Honda durchwachsen. Sein bestes Ergebnis fährt er beim Katalonien GP in Barcelona ein, dort schrammt er nur knapp an einem Top-10-Platz vorbei. Auch in Texas, Argentinien, am Sachsenring, in Aragon und Australien sammelt er Punkte. Im Gegensatz dazu stehen aber sieben Rennen, die der Rookie nicht beenden kann. Das größte Fiasko erlebt er beim Großbritannien GP in Silverstone. Dort kämpft sich Miller wacker durchs Feld, nur um dann seinen Teamkollegen Crutchlow auch noch bei dessen Heimrennen von der Strecke zu kegeln. Ihre Freundschaft übersteht auch diese Hürde und schließlich steht Miller am Ende seiner ersten MotoGP-Saison mit 17 WM-Punkten da. Damit landet er auf Rang 19 in der Gesamtwertung und wird nach Maverick Vinales und Loris Baz drittbester Rookie des Jahres.

In Silverstone räumte Miller 2015 Teamkollege Crutchlow ab, Foto: Milagro
In Silverstone räumte Miller 2015 Teamkollege Crutchlow ab, Foto: Milagro

JackAssen

Für seine zweite Saison in der Königsklasse steckt Honda Miller in sein zweites Kundenteam Marc VDS. Dort wird der Australier Teamkollege von Tito Rabat und muss erneut mit Kundenmaterial vorliebnehmen. Das macht sein Leben nicht leichter, denn gerade für einen MotoGP-Neuling ist die RC213V, noch dazu ohne Werksunterstützung, kein ideales Einsteiger-Bike. Trotzdem kann Miller seine Leistungen im Vergleich zu seiner Rookie-Saison steigern. In Barcelona fährt er sein erstes Top-10-Ergebnis in der Königsklasse ein, bevor er wenige Wochen später in Assen sein Glanzstück abliefert.

Die Dutch TT des Jahres 2016 ist verregnet. So sehr sogar, dass das Rennen wegen zu starker Regenfälle unterbrochen wird. Zu diesem Zeitpunkt liegt Miller bereits in den Top-10. Doch es soll noch besser für den 'JackAss' kommen. Wenig später wird das Rennen über zwölf Runden neu gestartet und der Australier hält schon früh mit den Führenden mit. Im Verlauf des verkürzten Rennens profitiert er von den Stürzen Andrea Doviziosos und Valentino Rossis, bevor er in der vierten Rennrunde an Marc Marquez vorbeizieht und damit in Führung geht. Der amtierende Weltmeister holt Miller bis Rennende nicht ein - der damit seinen ersten MotoGP-Sieg einfährt. Im Parc Ferme ist von dem sonstigen Spaßvogel Miller kaum noch etwas übrig, für markige Ansagen kochen die Emotionen zu hoch. Im Interview mit Dylan Gray kann der Australier kaum seine Tränen zurückhalten, mit brüchiger Stimme erklärt er: "Viele Leute haben gesagt, dass dieses Projekt nicht funktionieren würde. Ich hoffe nur, dass wir ihnen jetzt bewiesen haben, dass das nicht stimmt. Ich kann dieses Motorrad fahren und bin kein Idiot." Die Frage, ob Honda mit Millers vorzeitigem Aufstieg in die MotoGP nicht einen Fehler gemacht hat, stellt sich nun tatsächlich nicht mehr.

Außer Kontrolle

Es folgen noch drei weitere Top-10-Ergebnisse für Miller, aber auch vier Nuller aufgrund von Stürzen und fünf weitere Rennen, die er aufgrund von Verletzungen nicht antreten kann. Trotz einiger beachtlicher Ergebnisse mangelt es Miller an Konstanz - und es gibt noch ein weiteres Problem. Er nimmt seinen Job als MotoGP-Pilot scheinbar deutlich weniger ernst als seine Kollegen. Dazu zählt nicht nur seine eher laxe Herangehensweise an seinen Fitnessplan. Vor allem seine Vergnügungssucht macht seinem Umfeld Sorgen. Ganz klar, eine gute Party gehört für so gut wie jeden Piloten am Ende des Wochenendes dazu, aber Millers Partylaune läuft sichtlich aus dem Ruder. So sehr sogar, dass Hondas damaliger Teammanager Livio Suppo keine andere Wahl hat, als seinem Piloten eine hohe Geldstrafe aufzudrücken, nachdem er es mit dem Alkohol wieder einmal übertrieben hat. "Er war der einzige Fahrer, bei dem ich das jemals musste", erinnert sich Suppo. "Das ist in 22 Jahren sonst nie passiert." Sicher sind es auch diese Ausschweifungen, die konstante Ergebnisse für Miller unmöglich machen.

Wie viel diese Strafe tatsächlich gebracht hat, vermag am Ende niemand zu sagen. Zwar beendet Miller die Saison 2017, seine vorerst letzte als Honda-Pilot, als Gesamt-Elfter und steigert somit erneut seine Leistungen, aber als er im Jahr darauf zu Pramac Ducati wechselt, bietet sich den Italienern ein überraschendes Bild. Statt einem etablierten MotoGP-Piloten steht vor ihnen ein Fahrer, der noch immer wie ein Rookie wirkt. "Dort, wo er vorher war, haben sie ihn wohl ziemlich sich selbst überlassen", mutmaßt Pramac-Teamchef Francesco Guidotti rückblickend. "Er war sehr jung und hatte scheinbar niemanden, der ein Auge auf ihn hatte."

Miller ließ oft die nötige Disziplin vermissen, Foto: Marc VDS
Miller ließ oft die nötige Disziplin vermissen, Foto: Marc VDS

Mehr Disziplin

Genau das ändert sich bei Pramac jetzt. Zwar fährt Miller in seiner Debüt-Saison bei dem italienischen Team immer noch auf veraltetem Material, aber abseits der Strecke kehrt mehr Disziplin in das Leben des Australiers ein. Das geht natürlich nicht ohne die eine oder andere verbale Auseinandersetzung, aber letztendlich versteht Miller, dass sein Team es nur gut mit ihm meint. "Er hat eingesehen, dass wir darauf aus waren, gemeinsam zu wachsen und nicht darauf, ihn fertig zu machen", erinnert sich Guidotti. Mit Hilfe seines Managers Aki Ajo gelingt es Miller auch, Probleme in seinem Privatleben in den Griff zu bekommen. Seine erste Saison im Ducati-Lager beendet er als Gesamt-13., mit insgesamt zehn Top-10-Ergebnissen. In Argentinien kann er sich sogar über seine erste Pole in der Königsklasse freuen.

Diese Fortschritte bringen ihm in der Saison 2019 erstmals in seiner MotoGP-Karriere aktuelles Werksmaterial ein. Und das weiß Miller gut zu nutzen, denn er liefert prompt seine bis dahin beste Saison in der Königsklasse ab. In 19 Rennen landet er fünf Mal auf dem Podium, neun weitere Male fährt er in die Top-10. Außerhalb der Punkte landet Miller nur noch in den vier Rennen, die er nicht beenden kann. Und das schlägt auch in der Gesamtwertung zu Buche: 165 Zähler sammelt er 2019 und wird damit WM-Achter. Zu diesem Zeitpunkt macht er schon lange keinen Hehl mehr daraus, dass es sein erklärtes Ziel ist, so schnell wie möglich ins Ducati-Werksteam zu kommen.

Und diesen Gefallen tut ihm der italienische Hersteller. Dazu führen aber nicht nur Millers eigene, erstmals wirklich konstanten Leistungen und seine erwachsene Herangehensweise an seine Arbeit. Er profitiert ein Stück weit auch vom Unglück anderer. Danilo Petrucci, sein früherer Teamkollege bei Pramac und 2019 und 2020 Ducati-Werkspilot, liefert zwar in der ersten Saisonhälfte 2019 hervorragende Rennen und einen ersten Sieg in Mugello ab, in der zweiten Hälfte des Jahres schwächelt der Italiener jedoch. Miller hingegen legt vor und kann auch mit seinem selbstsicheren Auftreten im Vergleich zum von Selbstzweifeln geplagten Petrucci punkten. So hat es Miller sechs Jahre nach seinem waghalsigen Aufstieg in die Königsklasse geschafft, seinen Traum wahr werden zu lassen. Und hat bewiesen, dass es auch anders geht. Nicht nur der altbewehrte Weg kann zum Ziel führen. Ob viele seiner zukünftigen Rivalen allerdings so risikobereit und vielleicht schlichtweg größenwahnsinnig sind, diesen Weg wie Miller durchzuziehen, darf bezweifelt werden. Es kann eben nicht jeder ein 'JackAss' sein.

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