Blickt man nur auf die nackten Zahlen, haben sechs Rennen vor Ende der MotoGP-Saison 2020 immer noch etliche Fahrer eine realistische Chance auf den WM-Titel. Takaaki Nakagami liegt als Gesamt-Siebter gerade einmal 36 Punkte zurück. Zwischen ihm und Leader Fabio Quartararo haben sich Joan Mir, Maverick Vinales, Andrea Dovizioso, Franco Morbidelli und Jack Miller positioniert, die somit natürlich auch alle Hoffnungen auf einen Titelgewinn haben dürften.

Dürften, weil die Realität eben doch eine andere ist und die Zahlen nur die halbe Wahrheit erzählen. Fakt ist, dass in dieser Saison bislang nur zwei Fahrer regelmäßig mit starken Rennen überzeugen konnten: Quartararo und Mir. Während kein anderer Pilot bislang mehr als ein Rennen gewinnen konnte, hat Quartararo bereits drei Siege angehäuft und war auch in beiden Misano-GPs flott unterwegs. In Spielberg war er mit seiner Yamaha machtlos und holte nur elf Zähler, seinen drei Kollegen auf der M1 gelangen im Österreich-Doppel aber auch nur insgesamt 25 Punkte. Positiv für Quartararo: Keine Strecke im Kalender ist für die Yamaha so schwierig wie der Red-Bull-Ring. Enttäuschend war die Performance des Franzosen lediglich in Brünn, wo er über P7 nicht hinauskam, während Teamkollege Morbidelli auf das Treppchen fuhr.

Man darf davon ausgehen, dass Quartararo auch in den verbleibenden sechs Rennen Podium-Pace hat und regelmäßig um den Sieg kämpfen kann. Das lässt sich ansonsten nur noch über Joan Mir sagen. Sein Saisonstart war mit einem Sturz im ersten Jerez-Rennen, einem fünften Platz im zweiten und einer Kollision mit Iker Lecuona in wenig aussichtsreicher Position beim Tschechien-GP holprig, seither ist der Suzuki-Mann aber ein Musterbeispiel an Konstanz. In den fünf Rennen seither stand er vier Mal auf dem Podium. Schlechtestes Resultat war P4 im Steiermark-GP, den Mir wohl gewonnen hätte, wäre das Rennen nach dem Bremsdefekt von Vinales nicht unterbrochen worden.

Auch wenn Mir in der MotoGP bislang noch nicht gewinnen konnte, sorgt er in jedem Rennen dafür, dass Quartararo sich keine Fehler leisten darf. Oder, dass ihm solche teuer zu stehen kommen, wie etwa beim Crash in Misano. Damit nimmt Mir die Position ein, die man nach den ersten Saisonrennen Maverick Vinales oder Andrea Dovizioso zugeschrieben hätte. Doch die beiden Männer, die im Vorjahr noch Marc Marquez' erste Verfolger waren, straucheln in dessen Abwesenheit.

Dovizioso kann 2020 bislang auf zwei wirklich gute Rennen zurückblicken. Zum Saisonauftakt fuhr er erstmals in der MotoGP in Jerez aufs Podium, in Spielberg gewann er das erste Rennen standesgemäß. In den restlichen sechs Grand Prix blieb er konstant hinter den Erwartungen zurück. In Brünn und Barcelona lieferte er mit den Startplätzen 18 und 17 desaströse Qualifying-Leistungen, am Sonntag wurde er mit der Kollision in Turn 2 dafür bestraft. Dovizioso kann mit dem 2020 neuen Hinterreifen von Michelin seine Stärke im Bremsbereich nicht nutzen und ist konstant zu langsam. Findet er dafür keine Lösung, ist der Titel unerreichbar. Das stellte der Ducati-Star in Barcelona selbst klar.

Maverick Vinales ist die Wundertüte der MotoGP. Gute bis sehr gute Rennen wie bei den zweiten Plätzen in Jerez oder dem Sieg im Grand Prix der Emilia-Romagna wechseln sich mit teils schockierenden Darbietungen im Rennen ab. An schlechten Sonntagen kämpft Vinales darum, überhaupt in die Top-Ten zu kommen. Das kostet nicht nur extrem viele Punkte, sondern sorgt auch für eine psychische Negativspirale, aus der der Yamaha-Mann nur schwer entkommen kann. "Wenn du gewinnst und dann eine Woche später so ein Rennen ablieferst, ist das mental nur schwer zu verdauen", gestand er am Sonntag in Barcelona.

Fazit zum MotoGP-Titelkampf

Entschieden ist in dieser verrückten MotoGP-Saison 2020 noch gar nichts. Die Abstände in der Weltmeisterschaft sind weiterhin gering und eine plötzliche Leistungsexplosion von Fahrern wie Dovizioso oder Vinales ist nicht ausgeschlossen. Es wäre dennoch eine große Überraschung, könnten sie bis zum Ende um den Titel kämpfen. Viel deutet auf einen Showdown zwischen Quartararo und Mir hin. In diesem ist alles offen. Die Performance der beiden Youngsters ist ähnlich stark, Nuancen und vielleicht auch eine Prise Glück werden den Ausschlag geben.