Nach dem MotoGP-Rücktritt von Jorge Lorenzo ist plötzlich einer der attraktivsten Arbeitsplätze für die kommende Saison verfügbar. Weltmeister Marc Marquez braucht für 2020 einen neuen Teamkollegen, der im besten Fall bereits am Dienstag bei ersten Wintertest in Valencia auf der Honda Platz nimmt.

MotoGP - Jorge Lorenzo hört auf: Sein Honda-Debakel analysiert (08:49 Min.)

"Das war eine Überraschung für uns alle - auch für Albero (Puig; Teamchef)", sagte Marquez am Donnerstagnachmittag in Valencia. "Honda hat jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder jemanden mit Erfahrung verpflichten oder einem jungen Fahrer die Chance geben. Das ist nun die große Frage", analysierte der MotoGP-Champion.

Welche Fahrer kommen für die Lorenzo-Nachfolge in Frage? Eine Analyse der Optionen von Honda:

Option 1: Nakagami oder Crutchlow

HRC hat für 2020 bereits zwei Fahrer unter Vertrag, die ohne großen Aufwand ins Werksteam wechseln könnten: Taka Nakagami und Cal Crutchlow. Der Japaner und der Brite beziehen ihr Gehalt direkt bei Honda, sind als Leihgaben allerdings Lucio Checchinello und dessen LCR-Rennstall versprochen. Sollte einer dieser beiden Fahrer ins Werksteam transferiert werden, steht HRC Checchinello wohl in der Pflicht, einen Ersatzmann zu organisieren. Die Optionen 2 oder 4 (siehe unten) kämen hierfür freilich in Frage.

Crutchlow hat bewiesen, dass er die Honda trotz ihres aggressiven Fahrverhaltens auf das Podest bringen kann und erscheint wie eine logische erste Wahl. Doch es gibt mehrere Faktoren, die gegen den Briten sprechen. So hat er schon mehrfach angedeutet, dass er Ende 2020 seinen MotoGP-Abschied in Erwägung zieht. Somit wäre Crutchlow nicht mehr als ein Lückenfüller im Werksteam, der nach einem Jahr ohnehin wieder fort wäre. Verkraftbar, wenn man parallel im Winter bereits mit Piloten für 2021 verhandeln will.

Schwerer wiegen aber zwei andere Eigenschaften des Briten. Zunächst wäre da sein öffentliches Auftreten und die markigen Aussagen, die er regelmäßig in Schlagzeilen-Qualität an Journalisten liefert. Nicht gerade eine Tugend, mit der man bei den auf politische Korrektheit achtenden Japanern punkten kann. Die zweite Eigenschaft betrifft Crutchlows Kappe und Helm: Dort prangt das grüne Monster-Logo, das er im von Red Bull gesponserten Honda-Werksteam ablegen müsste. Ein Umstand, der in der Vergangenheit schon den einen oder anderen Wechsel platzen ließ.

Gegen Nakagami spricht einerseits der Umstand, dass er in zwei Jahren in der MotoGP noch nie auf dem Podest stand und andererseits, dass er mit Honda lang um die Zusage rang, 2020 eine aktuelle RC213V zu bekommen. Ein Zugeständnis, das aus Japan noch immer nicht offiziell verlautbart wurde. Wenn man an der Sinnhaftigkeit zweifelt, ihn auf ein aktuelles Bike zu setzen, warum sollte man ihn dann ins Werksteam transferieren?

Option 2: Johann Zarco

Seit Phillip Island ist Johann Zarco für LCR-Honda auf Nakagamis 2018er-Honda unterwegs und wusste bislang zu überzeugen. Dass Honda-Teamchef Alberto Puig an diesen beiden Rennwochenenden mehrfach die Box des Franzosen aufsuchte, ließ die Gerüchteküche brodeln. Zarco ist mit Sicherheit der beste Motorrad-Pilot, der für 2020 noch keinen Vertrag unterschrieben hat und wäre aufgrund seiner Arbeitslosigkeit wohl auch ein finanzielles Schnäppchen für Honda, die sich bereits 2017 für eine Verpflichtung des Franzosen interessiert haben.

Zarco hat bei Tech3 bewiesen, dass er in der MotoGP podestfähig ist, bei KTM hat er aber ebenso bewiesen, dass er in Krisensituationen weder die nötige Geduld noch die nötige Ruhe mitbringt. Will Honda so einen Heißsporn neben seinem Platzhirschen Marc Marquez in der Box sehen? Oder parkt man Zarco für ein Jahr bei LCR, um ihn für einen möglichen Aufstieg ins Werksteam für 2021 zu testen? Letzteres wäre eine gute Nachricht für Crutchlow oder Nakagami.

Zarco selbst meinte am Donnerstag in Valencia: "Ich selbst gebe im letzten Rennen nun alles und dann muss ich abwarten, ob ich dieses Factory-Bike eventuell verdiene. Wir haben aber noch nicht darüber gesprochen."

Option 3: Stefan Bradl

Während der Liveübertragung des Australien-GP bei ServusTV ließ Stefan Bradl auf die Frage nach seiner sportlichen Zukunft mit folgender Aussage aufhorchen: "Ich lasse hier jetzt sicher keine Bombe platzen." Das sorgte schon damals für Spekulationen, ob er vielleicht aus der Testfahrerrolle ins Werksteam aufrücken könnte. Vom Lorenzo-Rücktritt kann Bradl auf Phillip Island aber noch nichts gewusst haben, denn Honda wurde darüber laut Aussagen von Alberto Puig erst in den vergangenen Tagen informiert.

Ein Aufstieg von Bradl wäre für HRC die einfachste Option, da keinerlei neue Verträge geschlossen werden müssten. Marc Marquez lobte die Entwicklungsarbeit des Deutschen immer wieder und auch bei Honda zeigte man sich mehrfach zufrieden. In der Honda-Box würde es mit dem Deutschen an der Seite des Weltmeisters harmonischer zugehen als mit Zarco oder Crutchlow. Ob aus dem Testfahrer Bradl aber noch ein Podestfahrer wie Crutchlow (oder Zarco) werden könnte, darf angezweifelt werden. In den internationalen Medien fällt der Name Stefan Bradl in den Spekulationen über die Lorenzo-Nachfolge übrigens nicht.

Option 4: Alex Marquez

Alex Marquez ist der erste Moto2-Weltmeister seit Johann Zarco 2015, der nicht direkt in die MotoGP aufsteigt. Das könnte sich nun schlagartig ändern. Für die Marketing-Abteilung von Honda muss ein Szenario mit beiden Marquez-Brüdern im Werksteam den Idealfall darstellen, doch die sportliche Realität sieht etwas anders aus. Alex hatte in seinen siebeneinhalb Jahren in der Motorrad-WM immer wieder Aussetzer und brauchte in der Moto2 fünf Jahre bis zum Titel.

Er gilt daher nicht als der nervenstärkste Fahrer. Würde er sofort an die Seite seines Bruders zu Repsol-Honda wechseln, wäre der Druck von Beginn an enorm. Würde Honda Marquez aber bei LCR parken und stattdessen Nakagami oder Crutchlow für ein Übergangsjahr ins Werksteam transferieren, würde Honda diesen Druck umgehen. Unter den Fittichen von Checchinello könnte sich Alex Marquez entwickeln und für einen Aufstieg ab 2021 vorbereitet werden. Das könnte sich im Vertragspoker mit Bruder Marc zu einem zusätzlichen Argument für einen Verbleib entwickeln.

Die vertragliche Situation sollte für Alex Marquez keinen Stolperstein darstelllen: Er hat zwar für 2020 im Marc-VDS-Team unterschrieben, doch dort ist Emilio Alzamora federführend beteiligt - und der ist Fahrer-Manager der beiden Marquez-Brüder und somit an einem MotoGP-Deal interessiert.

Was sagt Honda zur aktuellen Situation?

Honda-Teamchef Alberto Puig äußerte sich am Donnerstagabend folgendermaßen zur Fahrersuche für 2020: "Dieser Rücktritt ist erst vor wenigen Stunden geschehen und wir unterhalten uns aktuell noch mit niemandem. Aber natürlich haben wir begonnen, uns den Kopf darüber zu zerbrechen. Im Moment habe ich aber noch keine klare Antwort gefunden. Viele Lösungen sind möglich und es gibt einige Möglichkeiten. Ich will aber keine Namen nennen."