Trügerisch ist die Sicherheit im modernen Motorradsport. Highsider mit Luftständen von mehreren Metern, Abflüge mit weit über 300km/h, dramatische Kollisionen - egal was auf den Rennstrecken passiert, wir haben uns daran gewöhnt, die Fahrer unverletzt wegmarschieren und oft wenige Minuten später schon wieder auf dem Motorrad sitzen zu sehen. Loris Baz' Horrorcrash nach einem Reifenplatzer bei den Testfahrten in Sepang Anfang Februar dient hier als perfektes Beispiel.

Ja, der Sport ist sicherer geworden. Vorbei sind die Zeiten, in denen Todesopfer an der Tagesordnung standen. Heutzutage sind derartige Tragödien glücklicherweise die Ausnahme, nicht mehr die Regel. Alle paar Jahre werden Piloten, Verantwortliche und Fans aber dennoch brutal daran erinnert, dass es die völlige Sicherheit bei diesen irren Schlachten auf zwei Rädern niemals geben kann.

Immer weniger Todesfälle in der MotoGP

Luis Salom starb Anfang Juni in Barcelona, Foto: Milagro
Luis Salom starb Anfang Juni in Barcelona, Foto: Milagro

Vier Fahrer mussten seit der Jahrtausendwende in der Motorrad-Weltmeisterschaft ihr Leben lassen. 2003 verunglückte Daijiro Kato in Suzuka. Sieben Jahre später ging Shoya Tomizawa viel zu früh von uns. In der Folgesaison kam der unvergessene Marco Simoncelli in Sepang zu Tode. 2016 verunglückte Luis Salom in Barcelona tödlich. Es war das bislang letzte fatale Unglück in der WM. Doch Todesfälle werden wieder passieren. 'Motorsport can be dangerous', warnt jeder Veranstalter alle Menschen vor dem Betreten des Streckengeländes. Eine alte Floskel, die heute aber ebenso Gültigkeit hat wie vor 50 Jahren.

Ziel kann es immer nur sein, das Risiko zu minimieren. Das geschieht mittels durchdachter Reglements und dem besseren Absichern der Strecken, vor allem aber durch den Schutz, den die Fahrer am Körper tragen. Die modernen Lederkombis, Helme und Protektoren bilden eine High-Tech-Rüstung, die die Piloten gegen fast jede Gefahr schützt. Bis hierhin war es aber ein langer Weg.

Notdürftige Ausrüstung in der Anfangsphase der Motorrad-WM

Als die Motorrad-Weltmeisterschaft 1949 aus der Taufe gehoben wurde, waren ihre Fahrer mit primitiven Lederjacken und den dazu passenden Hosen bekleidet. Keine Spur von Gelenkschützern an Ellbogen oder Knien, auch Hände und Füße mussten mit dünnen Lederschichten auskommen. Am Kopf trugen die wagemutigen Piloten Halbschalenhelme, die Gesicht und Kinnbereich völlig entblößt ließen.

Bis in die 70er-Jahre hinein wurde die Sicherheit praktisch vernachlässigt, Foto: Frank Bischoff
Bis in die 70er-Jahre hinein wurde die Sicherheit praktisch vernachlässigt, Foto: Frank Bischoff

Über zwei Jahrzehnte sollte sich an dieser Ausstattung nur wenig ändern. Erst im Laufe der 70er Jahre gab es erste ernsthafte Bestrebungen, den Rennsport sicherer zu machen. Damals wurden etwa die heute selbst im Straßenverkehr absolut üblichen Vollvisierhelme zum Standard. Beinahe zeitgleich wurde auch der Schutz des restlichen Körpers verbessert. Durch immer größere Schräglagen schliffen die Fahrer mittlerweile mit ihren Knien am Asphalt. Das dort verarbeitete Leder hielt selbst in doppelter Stärke dem nicht stand.

Zu Beginn dieser Ära waren die Fahrer aber noch auf sich selbst gestellt, um eine Lösung für das entstandene Problem zu finden. Mit Klebeband befestigte Teile von Helmvisieren erfüllten ihren Zweck notdürftig. Bald erkannten aber die Lederkombi-Hersteller die Zeichen der Zeit und machten sich an die Entwicklung von vollwertigen Knieschützern. Über unterschiedlichste Konstruktionen und Materialien kam man schließlich bei den heute verwendeten Modellen aus Kunststoff, die mit extrem haltbaren Klettverschlüsseln befestigt sind, an.

Neue Anforderungen an neue Gegebenheiten

Mehr als drei Jahrzehnte später sollten die Fahrer für weitere Kontaktpunkte zwischen ihrem Körper und dem Fahrbahnbelag sorgen. Das Schleifen mit den Knien war mittlerweile Standard, nun ging es darum, die Ellenbogen auf den Boden zu bringen. Auch hier erwies sich die Findung des richtigen Systems zum Schutz der Gelenke als nicht allzu einfach. Ein großer Schützer je Körperseite, der wie am Knie den gesamten Gelenksbereich sichert, schränkte die Bewegungsfreiheit der Fahrer zu sehr ein. Viele unterschiedliche Patente wurden getestet, ehe man zur nun bewährten Lösung kam.

Der 'Slider' wurde in zwei Elemente geteilt, eines aus Metall im unteren Bereich des Ellbogens und eines aus Plastik im oberen Teil, die beide mittels Inbusschrauben in der Lederkombi verankert und leicht austauschbar sind. Im Falle eines harten Aufschlags am Asphalt helfen Ellbogen und Knieschützer aber herzlich wenig. An Füßen und Händen werden die Schläge von den über die Jahre ebenfalls massiv weiterentwickelten Handschuhen und Motorradstiefeln abgefangen, die das Risiko von Brüchen in diesen Körperregionen massiv verringert haben.

Seit einigen Jahren schleifen auch die Ellenbogen am Boden, Foto: Gresini Honda
Seit einigen Jahren schleifen auch die Ellenbogen am Boden, Foto: Gresini Honda

Der wichtigste Schutzbereich einer Lederkombi liegt aber nicht in den Extremitäten, sondern im Rumpf des Fahrers. Der Zustand des Brustkorbs, der inneren Organe sowie des gesamten Rückenbereichs kann über Leben oder Tod nach einem Unfall entscheiden. Schon seit Längerem sind Protektoren und Höcker am Rücken Standard, doch auch sie bieten, vor allem bei einem Aufprall mit der Körpervorderseite, nur bedingten Schutz. Ein Problem, dass seit wenigen Jahren nun bestmöglich gelöst wurde. Und zwar mit einer vollkommen neuen Technologie.

D-Air heißt das vom italienischen Unternehmen Dainese, seit jeher Vorreiter in der Weiterentwicklung von Sicherheitsausrüstung für Motorradpiloten, entwickelte System, das schon viele schwerere Verletzungen verhindert hat. Dabei handelt es sich um einen Airbag, der wie eine Weste unter der Lederkombi getragen wird. Im Fall eines schweren Unfalls füllt sich der Airbag noch vor dem Aufprall mit Luft und wirkt so für den Fahrer als Schutzhülle. Die rechtzeitige Erkennung eines schweren Sturzes erfolgt mithilfe von drei Sensoren, die Lage und Beschleunigung des Fahrers bestimmen und so einen Highsider frühzeitig erahnen können. Rutscht der Pilot hingegen nur harmlos weg, löst der Airbag nicht aus.

Es dauerte Jahre, bis man bei Dainese dieses System so weit entwickelt hatte, dass es ohne zusätzliche Gefahren für die Athleten funktioniert. Mittlerweile hat auch das zu Dainese in Konkurrenz stehende Unternehmen Alpinestars eine vergleichbare Airbag-Lösung entwickelt, sogar unter Mithilfe der Pioniere von Dainese. Wenn es um die Sicherheit der Fahrer geht, werden sogar wirtschaftliche Interessen zurückgenommen. Aktuell wird auf Wunsch der MotoGP-Verantwortlichen das Know-how auch an weitere Firmen weitergegeben. "Es wäre toll, wenn bald kein Fahrer mehr ohne diese Airbags unterwegs wäre", meint Dorna-Sicherheitsberater Loris Capirossi im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com.

Schwachstelle Hals- und Nacken-Bereich

Marco Simoncelli wurde bei seinem Unfall am Hals-Bereich getroffen, Foto: Milagro
Marco Simoncelli wurde bei seinem Unfall am Hals-Bereich getroffen, Foto: Milagro

Bei all den Fortschritten bleibt jedoch weiterhin eine ganz große Schwachstelle in der Sicherheitsausrüstung eines Motorradpiloten bestehen - der Nacken. Es ist kein Zufall, dass mit Marco Simoncelli der bisher letzte Todesfall der MotoGP auch dadurch zu begründen ist, dass er bei seinem fatalen Sturz in Sepang 2011 von den nachkommenden Colin Edwards und Valentino Rossi am Hals getroffen wurde, wodurch der Helm weggerissen wurde und es zu den schweren Verletzungen kam, die schließlich zum Tod führten.

Nach wie vor trennt den Hals- und Nackenbereich bei einem Unfall absolut nichts von Streckenbegrenzungen, Motorrädern oder umherfliegenden Teilen. Viel wurde bereits experimentiert, um diese Körperstelle der Fahrer zu schützen, doch kein System funktionierte auch nur annähernd. Manche Vorrichtungen behinderten die Fahrer in ihrer Bewegungsfreiheit viel zu stark, andere stellten sich bei Crashtests sogar als zusätzliche Gefahr heraus. "Der Hals ist die große Lücke in unserer Ausrüstung", gesteht Fabio Muner von Dainese gegenüber Motorsport-Magazin.com. "Deshalb ist es momentan auch unser größtes Ziel, den Fahrern hier besseren Schutz zu bieten." Wird dieses Ziel erreicht, ist man der großen Vision von der absoluten Sicherheit wieder einem Schritt näher gekommen. Der Tod von Luis Salom hat aber erneut verdeutlicht: Derzeit bleibt diese ein Traum.

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