Jorge Lorenzo lebt wohl in einer Welt des Konjunktivs. Wären die Reifenprobleme in Jerez nicht gewesen, hätte er das Rennen gegen Valentino Rossi gewonnen, meinte er. Hätte sich der Regenreifen in Brünn nicht aufgelöst, dann wäre er Zweiter geworden, spekulierte er. Nun lässt Lorenzo im Vorfeld des Großbritannien-GP der MotoGP in Silverstone erneut mit einer derartigen Aussage aufhorchen: "Wir hatten Pech auf einigen Strecken und waren im Regen sehr langsam, da habe ich viele Punkte auf Marc verloren. In einer Saison 2016, in der es nur Trockenrennen gegeben hätte, würde ich die WM jetzt anführen!" Dieser Satz steht erst einmal für sich. Motorsport-Magazin.com analysiert: Welcher der drei Spitzenfahrer hat, verursacht durch die Umstände oder eigene Fehler, bislang die meisten Punkte eingebüßt?

So stünde es in der MotoGP 2016 bei optimalem Verlauf für Lorenzo

Lorenzo und Valentino Rossi haben in der laufenden Saison jeweils drei Nuller angeschrieben, Marc Marquez noch gar keinen. Da ist es nur logisch, dass die Top-3 in der WM dichter beisammen liegen würden, hätten alle Drei in jedem Rennen das bestmögliche Resultat erzielt. Lorenzo schied in Argentinien durch Sturz und in Barcelona durch den Abschuss von Andrea Iannone aus. Den Tschechien-GP beendete er nicht in den Punkten. Beim Ausfall in Termas de Rio Hondo lag Lorenzo auf Platz sechs, doch die zu diesem Zeitpunkt schon vor ihm liegenden Andrea Dovizioso, Andrea Iannone und Maverick Vinales schieden später noch aus. Rang drei und 16 Punkte hätte Lorenzo einfahren können.

Bitter für Lorenzo: Der Iannone-Abschuss in Barcelona, Foto: Milagro
Bitter für Lorenzo: Der Iannone-Abschuss in Barcelona, Foto: Milagro

In Barcelona lag Lorenzo auf Platz fünf und wurde von Iannone gejagt. Lorenzos Zeiten wurden aber immer langsamer, sodass die Wahrscheinlichkeit, auch von Pol Espargaro eingeholt zu werden, zumindest ziemlich hoch ist. Maximal wären für den Champion also Platz sieben und neun Punkte drin gewesen. In den Regenrennen von Assen, Brünn und vom Sachsenring verlor Lorenzo zudem weitere 54 Punkte auf Marquez. Dass es unter trockenen Bedingungen wesentlich weniger gewesen wäre, dürfte auch den Nicht-MotoGP-Experten klar sein. Auf der anderen Seite: Ohne Rossis Ausfäll in Mugello und Assen hätte Lorenzo in Italien wiederum fünf Zähler weniger und in Holland einen Punkt weniger geholt.

Der Knackpunkt allerdings sind die von Lorenzo angesprochenen Regenrennen. Am Sachsenring wäre Lorenzo mit seiner Performance auch im Trockenen kaum weiter vorne gelandet. In Assen sah das Ganze auch nur bedingt anders aus. Lorenzo lag hier in den trockenen Sessions zwar auf den Plätzen sechs, fünf und zehn, doch so ganz überzeugend war er auch in Holland nicht unterwegs. Für die Top-5 sollte es bei einem trockenen Rennverlauf allerdings schon gereicht haben. Für Brünn lässt sich aber sagen, dass Lorenzo ein heißer Anwärter auf das Podium gewesen wäre. Unterm Strich hätten diese Punkte aber trotzdem nicht für die WM-Führung gereicht, wie unsere Rechnung zeigt.

Die Gewinn- und Verlustbilanz von Jorge Lorenzo 2016:

RennenZwischenfallErgebnis/Punktemögliches Ergebnis/PunkteDifferenz
Argentinien-GPAusfall (Sturz)DNF / 03. / 16+16
Italien-GP-1. / 252. / 20-5
Katalonien-GPAusfall (Kollision)DNF / 07. / 9+9
Holland-GP-10. / 611. / 5-1

Auch in Argentinien hat Lorenzo viele Punkte liegen gelassen, Foto: Milagro
Auch in Argentinien hat Lorenzo viele Punkte liegen gelassen, Foto: Milagro

So stünde es in der MotoGP 2016 bei optimalem Verlauf für Rossi

Denn zum einen wäre Marquez' Polster trotzdem noch groß genug gewesen. Zum anderen hat Valentino Rossi bei seinen Nullnummern noch wesentlich mehr Punkte als Lorenzo verloren. Rossi führte zum Zeitpunkt seines Ausfalls in Assen das Rennen an, auch in Mugello sah es so aus, als hätte Rossi das Geschehen unter Kontrolle. Das alleine macht schon 50 Punkte aus. Beim GP in Austin lässt sich Rossis bestmögliche Ergebnis jedoch nur erahnen, da der Doktor von Anfang an durch die am Start verheizte Kupplung auf der Verliererstraße war. Womöglich hätte es nicht für das Podium gereicht, aber wenigstens, um als Vierter vor den Suzukis ins Ziel zu kommen, was 13 Punkte ausmachen würde.

Die Gewinn- und Verlustbilanz von Valentino Rossi 2016:

RennenZwischenfallErgebnis/Punktemögliches Ergebnis/PunkteDifferenz
Americas-GPAusfall (Sturz)DNF / 04. / 13+13
Italien-GPAusfall (Motorschaden)DNF / 01. / 25+25
Holland-GPAusfall (Sturz)DNF / 01. / 25+25

Valentino Rossi würde die MotoGP 2016 anführen, wenn alles optimal gelaufen wäre, Foto: Milagro
Valentino Rossi würde die MotoGP 2016 anführen, wenn alles optimal gelaufen wäre, Foto: Milagro

So stünde es in der MotoGP 2016 bei optimalem Verlauf für Marquez

Aber auch Marquez musste in einem Rennen federn lassen: Nämlich beim Frankreich-GP in Le Mans, als er sich auf Platz vier liegend den Synchronsturz mit Andrea Dovizioso leistete. Marquez raffte sich zwar nochmal auf und rettete mit Platz 13 drei Zähler. Es hätten aber auch 16 Punkte sein können, unterm Strich hat Marquez dort also 13 Punkte verloren. Bedenken muss man aber auch, dass Marquez bei einer Rossi-Zielankunft in Mugello und Assen jeweils vier Punkte weniger geholt hätte. Über die gesamte Saison gerechnet hätte Marquez bis jetzt bei für ihn optimalem Verlauf lediglich fünf Zählerchen mehr gemacht.

Die Gewinn- und Verlustbilanz von Marc Marquez 2016:

RennenZwischenfallErgebnis/Punktemögliches Ergebnis/PunkteDifferenz
Frankreich-GPSturz13. / 33. / 16+13
Italien-GP-2. / 203. / 16-4
Holland-GP-2. / 203. / 16-4

Rossi und Lorenzo: Die Parallele "Misslungene WM-Aufholjagden"

Doch diese ganze Rechnerei entspicht nun einmal nicht den Tatsachen. Fakt ist: Nach elf von 18 Rennen in der MotoGP-Saison 2016 liegt Marc Marquez mit 197 Zählern vor Rossi mit 144 und Lorenzo mit 138 Zählern. Das bedeutet im Klartext: Das Yamaha-Duo liegt 53 bzw. 59 Punkte hinter dem Repsol-Honda-Fahrer. Diesen Abstand in sieben noch ausstehenden Rennen auf einen Piloten aufzuholen, der kaum Fehler macht, ist ein mehr als schwieriges Unterfangen. Doch Rossi und Lorenzo wissen aus eigener Erfahrung, dass nichts unmöglich ist. Beide holten in ihrer Karriere schon ähnliche Rückstände bis zum Saisonfinale in Valencia auf. Allerdings scheiterten Beide dann auch mit ihrer WM-Mission beim alles entscheidenden Rennen.

Rossi-Fans wissen natürlich: Hier ist das Jahr 2006 gemeint, als der Doktor mit Pleiten, Pech und Pannen zu kämpfen hatte. Nach dem elften Lauf in Laguna Seca lag er damals bereits 51 Punkte hinter Nicky Hayden auf der Repsol Honda. Daher ist Aufgeben für Rossi keine Option: "Solch einen großen Rückstand auf Marquez aufzuholen wird sehr hart. Ich muss mich auf mich selbst, die Arbeit am Rennwochenende, das Bike und das Team konzentrieren. Ich muss versuchen, gute Rennen zu fahren und viele Punkte zu holen. Es sind noch sieben Rennen ausständig, da müssen wir so stark sein wie in der ersten Saisonhälfte, aber mit weniger Fehlern."

2006 schaffte Rossi fast noch den Turnaround gegen Nicky Hayden, Foto: Yamaha
2006 schaffte Rossi fast noch den Turnaround gegen Nicky Hayden, Foto: Yamaha

Lorenzo hingegen fühlt sich an das Jahr 2013 zurückerinnert. 43 Punkte betrug damals sein Rückstand auf Marquez bei noch drei ausstehenden Rennen. Trotzdem hielt Lorenzo das Rennen bis zum Schluss offen. Das verleiht ihm Hoffnung: "Ich habe 2013 viele Punkte aufgeholt, hatte aber auch Glück, dass sie diesen Fehler in Australien begangen haben. Dort habe ich gleich 25 Zähler gut gemacht, also war ich in Valencia nahe dran." Einen Unterschied zu 2013 gibt es aber: Damals war die Honda das Maß der MotoGP-Dinge, nun sitzt Lorenzo auf dem vermeintlich überlegenen Bike. Dessen ist sich auch der Weltmeister bewusst: "2013 war mein Motorrad nicht so gut wie die Honda."

Hoffnung für Lorenzo da, solange die mathematische Chance lebt

Die eigene Vergangenheit lehrt also: Aufgegeben wird erst, wenn der Titel auch mathematisch nicht mehr zu holen ist. Dem stimmt auch Lorenzo zu: "Mit den Reifen, der Elektronik und so weiter kann noch alles passieren. Der Titel ist erst dann verloren, wenn ich ihn auch rechnerisch nicht mehr holen kann." Und bis dies der Fall ist, tut Lorenzo gut daran, nach vorne zu blicken und aus jedem Rennen das Maximum herauszuholen. Sollte es dann im Finale knapp nicht reichen, ist ein Nachtrauern der verpassten Gelegenheiten auch legitim.