Es steht 236 zu 224.Vorteil also für den König, Valentino Rossi kommt als WM-Führender in sein Wohnzimmer. Misano Adriatico, ausgerechnet jetzt! Mit zwölf Punkten Vorsprung auf Jorge Lorenzo. Teamkollegen im Psychokrieg. Denn jetzt wird es losgehen, jetzt wird nicht nur gefahren, jetzt wird auch das Nervenkostüm eine entscheidende Rolle spielen.

Misano ist nur 15 Kilometer von Tavullia entfernt. Mehr Heimspiel geht für Rossi also nicht. Dort im Dorf mit dem Speedlimit 46 Km/h hat Rossi auf seiner Ranch mit neuem Trainingseifer den Grundstein gelegt um mit den Youngstern mitzuhalten. Auf dem World Circuit Marco Simoncelli hat er etliche Trainingsrunden mit einer Yamaha R1 absolviert und das auch immer munter in den sozialen Medien verbreitet.

Heimspiel Rossi im Vorgarten Misano

So ganz nach dem Motto: Seht her, bei mir im Vorgarten schlägt mich keiner. Italien erwartet, in neuem Gelbfieber vereint, nicht weniger als den nächsten Sieg gegen den Teamkollegen. Ist das Druck? Ja! Aber der erfahrenste Fahrer im Feld kann mit Druck umgehen wie kein Zweiter. Siehe Silverstone.

Ausgerechnet auf der für Ihn schwierigsten Strecke hat der neunfache Champion gnadenlos zugeschlagen, Marquez in den Sturz getrieben und Lorenzo, dank eines Helmvisiers und des britischen Regens, vernichtend geschlagen. Aber das ist eben Rossi. Wenn es eine Chance gibt, schlägt er zu. Und jetzt Misano.

"Seine" Rennstrecke. Hier ist er aufgewachsen, hier lebt er, hier kann er einen Meilenstein setzen und alle Fans hinter sich vereinen. 2014 war schon ein guter Vorgeschmack. Emotionaler kann ein Sieg kaum sein. Wenn die 46 das 2015 wiederholen kann, wird es ein Gefühlsfeuerwerk an der Adria geben. Rossi weiß das genau.

Rossi und Lorenzo haben gute Misano-Bilanz

Seitdem Misano 2008 wieder zurück in den Kalender kam, hat er hier dreimal gewonnen. Sogar mit der von ihm gehassten Ducati schaffte er in Misano Platz zwei. Aber Rossi ist auch schlau genug zu wissen, dass die drei Siege von Jorge Lorenzo 2011,2012 und 2013 kein Zufall waren. Und Rossi weiß ganz genau, wie stark sein Teamkollege in diesem Jahr ist. Wahrscheinlich stärker als je zuvor. Rossi weiß auch, dass es sehr wahrscheinlich nicht regnen wird. Was wir dadurch wissen ist, dass uns ein faszinierendes Duell auf Augenhöhe bevorsteht. Mit der Garnitur von Marc Marquez, der nur noch auf Rennsiege aus sein wird. Was auch sonst?!

Valentino Rossi badete im Vorjahr als Sieger im Gelben Meer, Foto: Giandomenico Papello
Valentino Rossi badete im Vorjahr als Sieger im Gelben Meer, Foto: Giandomenico Papello

Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass sich MotoGP-Fans in der ganzen Welt vor Spannung zitternd am kommenden Sonntag um 14.00 Uhr vor den TV-Geräten versammeln werden. Es wird auf jedes kleine Detail ankommen. Es wird Nerven kosten. Uns Zuschauer steht ein vielleicht entscheidendes Wochenende bevor, denn freundlicherweise halten die Yamaha-Manager ihre beiden Rassepferde im Zaum. So soll, so muss Motorsport sein!

Der Beste wird gewinnen, auch Teamorder oder ähnlichen Quatsch wird es nicht geben. Das können die Langweiler in der Formel 1 machen. Natürlich weiß Rossi, dass er sich bei seinem Heimspiel einen vielleicht entscheidenden Vorsprung erarbeiten könnte. Und dass er sich in Italien mit einem Heimsieg endgültig unsterblich machen würde. Mal ganz abgesehen davon, dass er mit einem Sieg den Druck auf Boxennachbar Lorenzo nochmal erhöhen würde. Deshalb die vielen Kilometer auf Yamaha R1 auf der Strecke an der Adria und die vielen Trainingseinheiten auf der Ranch.

Der Beginn der Psychospielchen

Wie letztes Wochenende: Mit sofort folgender Dokumentation auf Instagram. Um Lorenzo und dem Rest der Welt zu zeigen, dass er es nochmal richtig wissen will. Sie werden sich belauern, aber Vorsicht Valentino! Jorge Lorenzo ist immer noch der Fahrer mit den meisten Siegen in dieser Saison. Und mental mittlerweile ebenfalls ungeheuer stark.

Rossi vs. Lorenzo: Ab Misano wird es im MotoGP-Titelduell richtig rund gehen, Foto: Milagro
Rossi vs. Lorenzo: Ab Misano wird es im MotoGP-Titelduell richtig rund gehen, Foto: Milagro

Ein gutes Beispiel dafür ist die veränderte Methodik des Mallorquiners in Sachen Trainingseinteilung. Zum Saisonbeginn war er immer der Erste, der auf die Strecke ging sobald die Ampel auf Grün schaltete. Bei den letzten Rennen dann ein völlig anderes Bild: Lorenzo ging einfach mal völlig tiefenentspannt als Letzter raus. Ganz seiner eigenen Stärke vertrauend und im Wissen, dass er auf eine gute Zeit kommt, wenn er eine freie Runde hat. Psychospielchen unter Teamkollegen. Vielleicht auch ein wenig vom Valentino-Style der Vergangenheit abgeguckt.

Das ist nur ein Beispiel. Denn auch Lorenzo weiß um die Macht des besonderen Moments. Was wäre, wenn er in Misano zurückschlägt und im Wohnzimmer des Großmeisters seinen Rückstand verringert? Zumal es danach nach Aragon geht, wo es heißt: Heimspiel Lorenzo. Also einmal alles umdrehen. Was bedeutet, dass es am kommenden Sonntag nicht nur um die schnöden Punkte geht, sondern auch um diese kleinen Nadelstiche.

Ab sofort wird jeder Fehler bestraft

Mentale Dinge, die am Ende den Ausschlag über den Titel geben könnten. Es wird für uns Zuschauer auf jeden Fall ein denkwürdiges Spektakel. Sie werden sich nichts schenken, zurückhaltende Strategien werden, je weiter die Saison fortschreitet, immer unwahrscheinlicher. Womit wir schon drei Fahrer im Feld hätten, die gnadenlos auf Sieg fahren werden. Rossi, Lorenzo und Marquez, dem im Kampf der beiden Yamaha-Helden eine ganz besondere Rolle zukommen könnte, denn ab sofort zählt jeder Punkt

Vergessen wollen wir auch nicht, dass Ducati ebenfalls ein Heimspiel hat und in Misano testen war. Nach dem Doppelpodest von Silverstone mit Danilo Petrucci und Andrea Dovizioso werden die Roten auch in Misano kaum Zurückhaltung an den Tag legen. Was es wiederum für die beiden Titelkandidaten noch etwas schwieriger machen dürfte. Eigentlich können alle bis auf Lorenzo und Rossi völlig unbeschwert am Kabel ziehen. Die beiden Titelkandidaten dagegen müssen ihr Risikomanagement im Griff haben. Denn beide wissen, dass der nächste kleinste Fehler entscheidend sein könnte.

Misano ist auf jeden Fall bereit und ausverkauft. Denn es wird eine Schlacht auf Biegen und Brechen. Vielleicht ein denkwürdiges MotoGP-Rennen und unter Umständen eines, das in die Geschichte eingehen wird. Die Vorzeichen dafür stehen mehr als gut und jeder, der sich MotoGP-Fan schimpft, sollte sich die Show am Sonntag nicht entgehen lassen. Italien wird auf jeden Fall geschlossen nach Misano Adriatico schauen. Matchball Rossi oder Break Lorenzo? Bei mir kribbelt es jetzt schon.