Vor 40 Jahren feierte ein 23-jähriger Brite mit langen Haaren, der gerne in der Startaufstellung noch rasch eine Zigarette qualmte, in Clermont-Ferrand sein Debüt in der Königsklasse der Motorrad-WM: Barry Sheene. Was die erfolgsverwöhnten britischen Fans damals noch nicht wussten: Sheene sollte der letzte große Motorrad-Star aus dem Königsreich werden. Auf sein Konto geht nicht nur der bis heute letzte WM-Titel (1977), sondern auch der letzte Sieg in der Königsklasse (1981) eines Briten. Zunächst die goldene Generation der US-Amerikaner, später die Italiener und zuletzt die Spanier lösten die einst so erfolgreiche Motorrad-Nation an der Spitze ab. Satte 135 Rennen und 17 500cc-Weltmeisterschaften hatten britische Piloten gewonnen, doch seit über 30 Jahren herrscht Flaute.

2010 war der Tiefpunkt erreicht, als es in der Königsklasse in den 18 Rennen des Jahres nicht einmal einen einzigen Wildcard-Start eines britischen Piloten gab. Doch die Talsohle hat die britische Motorradnation hinter sich. Superbike-Quereinsteiger Cal Crutchlow machte den Anfang, seither schafften es mit Bradley Smith (24) und Scott Redding (21) zwei vielversprechende Talente aus den unteren Klassen in die MotoGP. "Langsam geht es wieder bergauf", erklärte Smith im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. "Man hat schon in den letzten Jahren, als Cal den einen oder anderen Teilerfolg eingefahren hat, einen leichten Anstieg bei den TV-Quoten bemerkt. Dadurch kam unser Sport in der BBC und den großen nationalen Zeitungen wieder etwas prominenter vor. Diese Entwicklung lässt sich in den letzten vier Jahren deutlich erkennen", so Smith. "Ich sehe eine wachsende Aufmerksamkeit für unseren Sport. Wir haben endlich wieder mehr Fahrer, daher wird das auch in der Öffentlichkeit ein immer größeres Thema", pflichtet ihm sein Landsmann Redding bei. Allerdings habe man es als Motorradfahrer in den britischen Medien nicht leicht, denn längst dominieren König Fußball und die Berichterstattung rund um die millionenschweren Klubs der Premier League in Zeitungen und Fernsehen.

Auf Phillip Island durfte Smith über sein erstes MotoGP-Podium jubeln, Foto: Milagro
Auf Phillip Island durfte Smith über sein erstes MotoGP-Podium jubeln, Foto: Milagro

"Weil wir so lange keinen Weltmeister mehr hatten, denken manche Leute und viele der großen Zeitungen vielleicht, dass unser Sport nicht so wichtig ist. Aber auch mit einem WM-Titel wären wir noch immer um so viel kleiner als Fußball. Denn selbst die Formel 1 schafft es - obwohl wir dort mit Jenson Button und Lewis Hamilton in den letzten Jahren Weltmeister hatten - kaum einmal auf eine Titelseite", ärgert sich Smith. Hinzu kommt noch ein weiteres Problem, denn die MotoGP-Piloten sind nicht einmal die Herren im eigenen Haus bzw. in ihrem eigenen Sport. In der Superbike-WM stellt Großbritannien mit Weltmeister Tom Sykes, Jonathan Rea, Chaz Davies, Leon Haslam und Alex Lowes gleich fünf der Top-Fahrer mit Podiumspotenzial. "In der Superbike-WM gewinnt fast jedes Wochenende ein britischer Fahrer. Natürlich gehen die Fans dort dann mehr ab", beklagt Smith. Redding sieht ein anderes Problem: "Ich denke nicht, dass der normale Fan von seiner Couch aus einen großen Unterschied zwischen WSBK und MotoGP erkennt." Bedroht fühlt er sich von der britischen WSBK-Armada aber nicht. "Es ist keine Rivalität, weil wir uns auf unterschiedlichem Level bewegen. Manche MotoGP-Fahrer - wie früher Simoncelli - haben gezeigt, dass man als Gaststarter schon am ersten Rennwochenende ein Podium erreichen kann", so Redding, der noch nie mit einem Wechsel zu den Superbikes liebäugelte.

Seit seinem 15. Lebensjahr fährt der Mann aus Gloucestershire im WM-Zirkus. Seit damals hängt der Name Barry Sheene wie ein Damoklesschwert über ihm, wie über allen jungen britischen Piloten in der WM. "Jeder kennt diesen Namen. Er war so etwas wie der Valentino Rossi der damaligen Zeit und als Brite wirst du ständig mit ihm verglichen", sagt Redding. Der 21-Jährige weiß, wovon er spricht, denn auf seinem Weg in die Königsklasse konnte er bereits einige Rekorde aufstellen, womit aber auch die Hoffnungen von Fans und Journalisten stiegen. Er war der jüngste Fahrer, der die Marken von 50 und 100 Starts in der WM erreichte. Im Debütjahr 2008 gewann er im Alter von nur 15 Jahren und 170 Tagen sein erstes 125cc-Rennen und damit als jüngster Pilot der Geschichte einen WM-Lauf. Diesen Rekord konnte nicht einmal der gleichaltrige Marc Marquez knacken und es könnte ein Rekord für die Ewigkeit sein, denn mittlerweile wurde das Mindestalter für einen Start in der WM auf 16 Jahre hinaufgesetzt. Dass Redding diesen Sieg auch noch ausgerechnet vor heimischem Publikum in Donington einfuhr, machte die Euphorie um ihn nur noch größer. "Die britischen Fans sind bei den Heimrennen nahezu ekstatisch und ich liebe es, in Großbritannien zu fahren, weil dort immer so tolle Stimmung herrscht. Die Fans geben für ihre Fahrer auf jeden Fall alles", sieht Redding großes Fanpotenzial, das er schon oft entfesseln konnte.

Auf der Gresini-Honda prangte in Silverstone der Union Jack, Foto: Gresini
Auf der Gresini-Honda prangte in Silverstone der Union Jack, Foto: Gresini

Auch 2009 und 2012 stand er bei seinem Heimrennen auf dem Podium, im Vorjahr gelang ihm beim Moto2-Rennen in Silverstone sogar ein weiterer Heimsieg. "Ich fühle mich auf heimischem Boden einfach schneller - das ist merkwürdig", erklärte Redding. Als "God Save the Queen" für ihn erklang, der Union Jack gehisst wurde und tausende Fans ihm zujubelten und mitsangen, fühlte sich Redding wie im Olymp. 38 Punkte Vorsprung bei nur noch sechs ausständigen Rennen gaben Hoffnung, dass es zum ersten Titel seit den Siebzigerjahren reichen könnte. Wenn schon nicht in der Königsklasse, dann zumindest in der Moto2. Doch das schwere Erbe des Barry Sheene wurde zu einer zu großen Last für Redding. In den letzten Rennen stürzte er mehrfach, zog sich auf Phillip Island einen Bruch im Handgelenk zu und holte in den letzten drei Saisonrennen nur noch einen einzigen Zähler. Statt der Stunde des Triumphes folgte ein schwerer Gang durch das Tal der Tränen.

Doch Redding ist darüber hinweg und hat - endlich in der MotoGP angekommen - schon wieder hohe Ziele. "Ich will gute Resultate und Fortschritte erzielen. Dann sollte das alles von alleine kommen", sagt der Mann mit der Nummer 45, der 2015 erstmals eine Factory-Honda fahren wird. Für Smith geht es in dessen drittem MotoGP-Jahr bereits um mehr. Vor allem, da der 24-Jährige bei Tech 3 Yamaha auf ebenbürtigem Material wie Jorge Lorenzo und Valentino Rossi sitzt. 2014 macht er sich durch eigene Fehler das eine oder andere gute Ergebnis zunichte. "Ich hoffe, dass ich aus diesen Schwachstellen schnell lernen kann", sagte Smith. Die Aufstiege von Smith und Redding geben britischen Motorradfans wieder Hoffnung, doch dass Karrieren nicht immer nur bergauf führen müssen, zeigt ein weiteres Beispiel - jenes von Cal Crutchlow. Der 28-Jährige stand im Vorjahr als Teamkollege von Smith viermal auf dem Podium. In der abgelaufenen Saison fuhr er auf Ducati dem Feld allerdings hinterher, musste sich mit Verletzungen und vor allem einem zickigen Motorrad herumärgern. Von Podestplätzen war Crutchlow meist weit entfernt.

Dem Aufschwung im britischen MotoGP-Lager soll das aber keinen Abbruch tun. Redding etwa bleibt optimistisch: "Jetzt brauchen wir wieder einen britischen Fahrer, der an diese Leistungen herankommt und vielleicht irgendwann auch wieder einmal eine Weltmeisterschaft gewinnt." Smith hat auch noch einen Wunsch: "Ich hoffe, dass wir eines Tages so viel Aufmerksamkeit bekommen, wie die Fahrer in Spanien." Das zu erreichen, liegt an Redding und Smith. Doch die Latte liegt hoch, denn im kommenden Jahrzehnt wird die beiden der Name Marc Marquez wohl genauso oft begleiten wie das der Name Barry Sheene in den vergangenen Jahren tat.

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