Der Artikel wurde in der 81. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 28. Oktober 2021 veröffentlicht.

Alejandro Agag kennt inzwischen jeder Motorsport-Fan. Doch verantwortlich für die aktuellen Geschicke der Formel E ist nicht ihr Gründer, sondern der aktuelle Geschäftsführer. CEO Jamie Reigle gibt nur selten Interviews, Motorsport-Magazin.com erhielt aber am Rande des Saisonfinales in Berlin die Gelegenheit für ein ausführliches Gespräch. Und wir waren nicht nur überrascht davon, dass der gebürtige Kanadier und langjährige Marketing-Führungskraft von Manchester United sogar ein wenig Deutsch spricht. Opa aus Karlsruhe, Oma aus Köln und ein Deutschkurs auf einer Ski-Akademie in den USA lassen grüßen. "Um ein Bier zu bestellen, reicht es", gab uns Mister Reigle zur besseren Einordnung mit auf den Weg.

MSM: Jamie, das hat es in einer offiziellen FIA-Weltmeisterschaft nie zuvor gegeben: Vor dem Saisonfinale in Berlin hatten 18 von 24 Fahrern Chancen auf den Titelgewinn. Hätten Sie so etwas vor der Saison erwartet und sich auch gewünscht?

JAMIE REIGLE: Nein, um es ganz klar zu sagen. Eines der Attribute der Formel E, auf das wir stolz sind, ist die Unvorhersehbarkeit. Die Meisterschaft wurde zu ihrem Beginn so aufgesetzt, dass alle Fahrer und Teams die Möglichkeit haben, zu gewinnen. In anderen Rennserien gibt es das nicht. Wir wollten nicht, dass das Team gewinnt, welches am meisten Geld ausgibt. Langfristig ist das nicht gut. Schauen Sie sich den Fußball an. Wenn Bayern zehnmal gegen Stuttgart spielt, werden sie wahrscheinlich sieben Spiele gewinnen. Aber zu Beginn einer jeden Partie kann niemand vorhersehen, wie es ausgeht. Das ist die Schönheit des Sports. Die Performance-Unterschiede zwischen den Teams waren in dieser Saison aber so gering, dass bei unserem Format eine sehr hohe Streuung herrschte. Wahrscheinlich zu hoch, um ehrlich zu sein. Unvorhersehbarkeit ist gut, Zufälligkeit nicht.

In der Formel 1 entsteht ein Spannungsbogen über die Saison hinweg durch den Zweikampf zwischen Lewis Hamilton und Max Verstappen. Wäre das auch für die Formel E wünschenswert?

Das Duell zwischen Max und Lewis ist toll, es ist eng und wir wissen nicht, wie es ausgeht. Allerdings erleben wir diesen Fall in der Formel 1 zum ersten Mal seit neun Jahren. In der Netflix-Doku 'Drive to Survive' sehen wir viele spannende Narrative, wie den Kampf von Jung gegen Alt zwischen Esteban Ocon und Fernando Alonso. Aber aus sportlicher Sicht spielt das überhaupt keine Rolle. Ich finde das traurig. In der Formel E wollen wir ein System, in dem jeder Fahrer eine Chance hat, wenn hinter ihm ein gutes Team steht. Niemals würde ich ein System wie in der Formel 1 wollen, in dem nur zwei oder vier Fahrer Titelchancen haben. Aber...

Ja, bitte?

Wir hatten in dieser Saison in der Formel E ein Problem, das wir ändern wollen. Wir sagen, dass wir ein großer Sport sein wollen. Wir wollen viele Fans auf der ganzen Welt haben. Wir wollen die aus anderen Sportarten bekannten Rivalitäten. Wir müssen uns selbst die Frage stellen, ob wir die Bedingungen und sportlichen Regeln haben, um das zu erlauben. Wir müssen da ehrlich uns selbst gegenüber sein und sagen, dass das mit dem aktuellen Reglement nicht möglich ist. Das müssen wir in den Griff bekommen. Manche Fahrer waren an einem Wochenende top, beim nächsten abgeschlagen hinten. Das ist hart und wir müssen schauen, wie wir derartige Performance-Unterschiede angehen. Es geht aber nicht darum, eine bestimmte Anzahl an Titelanwärtern zu kreieren, sondern darum, faire Regeln zu erstellen.

Jamie Reigle ist seit 2019 Geschäftsführer der Formel E, Foto: Formel E
Jamie Reigle ist seit 2019 Geschäftsführer der Formel E, Foto: Formel E

Der Knackpunkt liegt bekanntermaßen im Qualifying-Format, bei dem die bestplatzierten Fahrer in der Gesamtwertung fast immer einen Nachteil haben. Wird es zur kommenden Saison 2022 eine Änderung geben?

Ja, das Format wird sich definitiv ändern. Wir wollen die Regeln für Jedermann fair gestalten, nicht für die besten Fahrer. Aktuell sind die Regeln nicht fair für alle. Wir schauen uns zwei Szenarien an. Eines ist weniger radikal, es könnten etwa die zwei bestplatzierten Fahrer einer jeden Qualifying-Gruppe in die dann größere Superpole-Runde mit acht statt den bisherigen sechs Slots einziehen. Das wäre eine simple Lösung ohne größere Kontroversen. Die bereits angesprochenen, gewollten Rivalitäten würde das allerdings nicht fördern. Beim zweiten Szenario müssen wir uns von anderen Sportarten inspirieren lassen. Etwa vom Bahnrad-Fahren, wo ein Fahrer nach dem anderen rausfliegt. Oder von Sportarten, die ihre Formate in Gruppen, Halbfinals und Finals aufteilen. Ideen also, die es so bislang im Motorsport nicht gibt. So etwas könnte es in den Qualifyings der Formel E geben, vielleicht sogar in den Rennen. Das wäre ein radikaler Ansatz und ich weiß nicht, ob es soweit kommen wird. Wir diskutieren aber über alles.

Wäre nicht einfach ein Qualifying-Format wie in der Formel 1 mit unterschiedlichen Quali-Abschnitten möglich?

Aus Sicherheitsgründen wäre es auf Stadtkursen schwierig, anfangs das gesamte Feld auf Zeitenjagd zu schicken. Wir müssten es in Gruppen aufteilen und hätten wieder das Problem mit den unterschiedlichen Streckenbedingungen. Wichtiger ist aber: Wenn wir die Formel 1 kopieren, dann wären wir nur eine kleine, elektrische F1. Das ist nicht unser Ziel. Wir wollen ein Produkt erschaffen, mit dem wir uns von allen anderen Rennserien unterscheiden.

Die Formel E steuert 2022 in ihre achte Saison, Foto: LAT Images
Die Formel E steuert 2022 in ihre achte Saison, Foto: LAT Images

Es gibt immer wieder Spekulationen über einen Zusammenschluss der Formel E mit der Formel 1. Auch Gerüchte über gemeinsame Rennwochenenden kamen auf. Ihre Meinung dazu?

Ich glaube fest daran, dass die besten Produkte für sich selbst stehen können. Wenn wir das Ziel verfolgen würden, eine Rahmenrennserie zu sein, dann wäre das okay. Das ist aber kein hochgestecktes Ziel. Wir wollen ein eigenes Produkt, das Fans unterstützen, weil es speziell ist. Nicht, weil sie zur Strecke kommen und dann zwei Stunden später etwas anderes anschauen. Das gibt es schon, es nennt sich Formel 2 und Formel 3. Und noch etwas zum Thema Formel 1 und Formel E...

Fahren Sie fort.

Wie Sie wissen, fahren wir ab der kommenden Saison sogar jährlich in Monaco, erneut auf dem Grand-Prix-Kurs. Vor dem diesjährigen Rennen haben alle über Rundenzeiten gesprochen. "Oh, die Formel E wird so langsam sein!", hieß es. Übrigens hatten wir nie behauptet, dass wir schneller sind als die Formel 1. Das weiß doch jeder. Und was war nach unserem Rennen? Niemand hat mehr über Rundenzeiten gesprochen! Und warum nicht?

Weil das Rennen spannend war mit vielen für Monaco unüblichen Überholmanövern.

Wir hatten sechs Führungswechsel, das Rennen wurde in der letzten Runde entschieden und insgesamt gab es über 60 Positionswechsel. Beim Formel-1-Rennen zwei Wochen später gab es ein Überholmanöver. Und ich sage nicht, dass das schlecht ist. Die Formel 1 in Monaco ist ein unglaubliches Produkt. Unseres ist eben anders. Und das ist wichtig. Bezüglich der Spekulationen mit der Formel 1 sage ich nicht, dass das niemals geschehen wird. Aber die Formel E muss selbst ein sehr starkes und eigenständiges Produkt sein.

Allerdings sind Audi und BMW nach dem diesjährigen Saisonfinale aus der Formel E ausgestiegen. Wie will die Formel E den Verlust von großen Herstellern kompensieren?

Der Motorsport hat keine tolle Geschichte darin, mittelfristig finanziell attraktiv für Anteilseigner zu sein. Einfach ausgedrückt: Jeder verliert Geld. Überall heißt es, dass wir wie die NBA, NHL oder NFL sein sollten. Aber diese Ligen sind ganz anders strukturiert. Die Teams sind die Helden und Besitzer haben ein profitables Business. Das müssen und können wir als Formel E auch erreichen. Mit Dingen wie einer Kostenobergrenze, Media-Rechten und Sponsorings müssen wir uns die Frage stellen, wie Teams - ob privat oder Hersteller - einen guten Return on Invest erreichen können. Aktuell haben wir das nicht. Die Story der Formel E begann klein, wurde größer, dann kamen die Hersteller und gaben noch mehr Geld aus - und dann kam Corona. Wobei Audi und BMW ihre Entscheidung sicherlich nicht nur deshalb getroffen haben. Wir nutzen diese Erfahrung, um der Formel E ein besseres Rahmenwerk zu verpassen.

Das Starterfeld muss künftig ohne Audi, BMW und Mercedes auskommen, Foto: LAT Images
Das Starterfeld muss künftig ohne Audi, BMW und Mercedes auskommen, Foto: LAT Images

Okay, aber wie sehr schmerzt der Verlust dieser beiden Autobauer?

Natürlich hätten wir Audi und BMW gerne behalten, das ist nicht gut. Ob das mehr über sie oder über uns aussagt, darüber kann man streiten. Aber wir haben mit Porsche, Jaguar, DS, Nissan, Mahindra und NIO sechs riesige Hersteller, die sich für die nächsten fünf Jahre verpflichtet haben. Mit McLaren haben wir eine Option und dann sprechen wir noch über Hersteller, die nicht in der Formel E sind: Honda, Toyota, sechs Hersteller aus China, deren Namen Sie noch nie gehört haben. Ford, General Motors. Es gibt mehr Hersteller, die elektrisch werden wollen, egal, ob mit oder ohne Motorsport-Vergangenheit.

Ist die Formel E zu schnell gewachsen?

Eher könnte man sagen, dass wir nicht schnell genug gewachsen sind. Die Formel E ist eine tolle Entrepreneur-Wachstumsgeschichte im Motorsport. Irgendwann wird es in der Havard Business School Fallstudien darüber geben, was Alejandro Agag innerhalb sehr kurzer Zeit aufgebaut hat. Wenn wir die Formel E in den nächsten fünf Jahren deutlich vergrößern wollen, können wir das aber nicht so machen wie zu ihren Anfangszeiten. Wir müssen erwachsen genug sein, um die Bedürfnisse unserer Kunden, der Teams, zu erfüllen. Ist der Sport groß genug? Fahren wir in ausreichend vielen Städten? Ist die Formel E ein gutes Investment? Diese Themen müssen wir angehen.

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