Was einst als Strategie-Werkzeug gedacht war, entwickelt sich zum großen Risiko-Faktor in der Formel E: der Attack Mode. Beim Sonntags-Rennen in Rom sorgten die Regeln einmal mehr für nachträglich veränderte Ergebnisse. Virgin-Pilot Robin Frijns und Alex Lynn, Mahindra-Teamkollege von Podestfahrer Alex Sims, fielen nach dem Rennende aus den Punkterängen heraus.

Lynn und Frijns, die die Ziellinie auf den Plätzen neun und zehn überquert hatten, erhielten im Nachgang Durchfahrtsstrafen, die in 30-Sekunden-Zeitstrafen umgewandelt wurden. Während das Duo auf die letzten Plätze zurückfiel, erbten Nico Müller (Dragon/Penske) und Sebastien Buemi (Nissan) die letzten beiden Punkteränge in den Top-10.

Grund für die Strafen, die in der laufenden Saison Überhand zu nehmen drohen: Lynn und Frijns hatten es während des Rennens versäumt, alle verpflichtenden Attack Modes zu benutzen. Am Sonntag in Rom mussten alle Fahrer die Zusatz-Leistung von 35 kW mit einer Dauer von je vier Minuten dreimal aktivieren. Als vier Runden vor dem Rennende (Runde 20-22) das Safety Car zum zweiten Mal ausrückte, hatten Lynn und Frijns den Attack Mode erst zweimal genutzt. Nachdem das Rennen für eine letzte Runde freigegeben wurde, nutzten die beiden Fahrer diese Gelegenheit nicht für die dritte Aktivierung.

Hatten die beiden Fahrer den eher unüblichen dritten Attack Mode (zuletzt 3x beim New-York-Finale 2019) schlichtweg vergessen oder verzichteten sie bewusst darauf, ihn in der letzten Runde per Fahrt über die Aktivierungsschleifen weit abseits der Ideallinie zu aktivieren? Auch in diesem Fall wären sie höchstwahrscheinlich leer ausgegangen, weil sie durch die verlorene Zeit für die Aktivierung durchgereicht worden wären.

Das Thema kam schon beim Saisonauftakt in Saudi-Arabien auf, als Jean-Eric Vergne (DS Techeetah) seinen Podestplatz und Rene Rast (Audi) Platz zehn nachträglich verloren, weil sie nicht die beiden verpflichtenden Attack Modes bis zum Rennende genutzt hatten. Das Rennen wurde in Folge des schweren Unfalls von Alex Lynn hinter dem Safety Car beendet, sodass die beiden gar nicht erst die Gelegenheit erhielten, die Zusatz-Leistung von 35 kW (235 kW statt 200 kW im Renn-Modus) zu aktivieren.

Der Attack Mode wurde bereits zur Saison 2018/19 mit dem Debüt der Gen2-Autos eingeführt, in dessen Zuge die Autowechsel während eines Rennens wegfielen. Neu allerdings seit der Saison 2021: Der Attack Mode darf per Reglement nicht mehr während einer Full-Course-Yellow- oder Safety-Car-Phase aktiviert werden. So kann es passieren, dass - wie in Saudi-Arabien - die Fahrer verbleibende Attack Modes gar nicht mehr aktivieren können, sofern das Rennen hinter dem Safety Car endet.

Die Attack-Mode-Zone war in Rom rund um den Obelisk angesiedelt, Foto: LAT Images
Die Attack-Mode-Zone war in Rom rund um den Obelisk angesiedelt, Foto: LAT Images

Die neue Strategie der Teams sieht deshalb vor, die Attack Modes so früh wie möglich einzusetzen, um einer SC- oder FCY-Phase vorzubeugen. Im besten Fall überfährt ein Pilot die in den Boden eingelassenen Aktivierungsschleifen abseits der Ideallinie, sobald er einen gewissen Vorsprung zum Hintermann hat. Dadurch lässt sich im besten Fall ein Positionsverlust vermeiden.

Der Attack Mode, der einst als strategisches Überhol-Werkzeug gedacht war, ist inzwischen zur tickenden Zeitbombe verkommen. In den bisherigen vier Saisonrennen gab es aufgrund der auffallenden Härte in den Zweikämpfen bereits sieben Safety-Car-Phasen, dazu weitere Full Course Yellows.

Das Safety Car ist ein ständiger Begleiter in der Formel E, Foto: LAT Images
Das Safety Car ist ein ständiger Begleiter in der Formel E, Foto: LAT Images

"Ich konnte meinen Vorsprung ausbauen und die Attack-Mode-Aktivierungen nutzen, um sie aus dem Weg zu bekommen", beschrieb Rom-Sonntagssieger Stoffel Vandoorne seine Strategie. Der Mercedes-Pilot profitierte zudem von einer Full Course Yellow während des Rennens, die Verfolger Pascal Wehrlein daran hinderte, seinen Attack Mode über die vollen vier Minuten zu nutzen.

"Wir alle wollen die Attack Modes aus dem Weg bekommen, damit wir keine Strafe riskieren, wenn am Ende noch ein Safety Car kommt", bestätigte Wehrlein, der seinem neuen Arbeitgeber Porsche den ersten Podestplatz in der laufenden Saison bescherte.

Am Sonntag in Rom gab es nur wenige Attack-Mode-Ausreißer. Die meisten Fahrer aktivierten ihren ersten Boost ab der sechsten oder siebten Runde und verfeuerten die weiteren Attack Modes unmittelbar darauf.

"Für die Rennen hier war es nicht ideal", sagte Wehrlein mit Blick auf die drei statt der meist üblichen zwei Attack Modes. "In den Rennen gab es nicht so viele Runden, weil die Strecke ziemlich lang ist. Es passierte oft, dass viele Fahrer den Attack Mode in der gleichen Runde nutzten. Deshalb konnten wir ihn nicht so sehr als Strategie-Werkzeug nutzen wie bei anderen Rennen."

In Rom hielt sich die Begeisterung über die Attack Modes allgemein in Grenzen. "Wenn du in den ersten zehn bis 15 Runden nicht genügend Vorsprung aufbaust und deine Attack Modes hinauszögerst, riskierst du, dass das Rennen hinter dem Safety Car endet, bevor du alle genutzt hast", erklärte der Zweitplatzierte Mahindra-Pilot Sims. "Das ist die einzige Herausforderung, ansonsten macht der Attack Mode keinen großen Unterschied in den Rennen."

Angesichts der derzeitigen Flut an Safety Cars ist es auch bei den nächsten Rennen auf der permanenten Strecke in Valencia (24./25. April 2021) durchaus vorstellbar, dass einige Fahrer nicht die Gelegenheit bekommen, die jeweils von der FIA angegebene Anzahl der Attack Modes zu aktivieren, und im Nachgang eine Strafe erhalten.

Beschweren dürfen sich die Teams der Formel E allerdings nicht: Nach Informationen von Motorsport-Magazin.com haben sie die von der FIA vorgeschlagene Regeländerung, dass Attack Modes während Safety-Car- und Full-Course-Yellow-Phasen nicht mehr eingesetzt werden dürfen, sogar befürwortet!