Heute vor 100 Tagen sorgte eine schmucklose Mitteilung der Audi AG an ausgewählte Medienvertreter für einen wahren Aufschrei in der Motorsportwelt. 'Daniel Abt mit sofortiger Wirkung suspendiert', teilte der Autobauer aus Ingolstadt mit und verzichtete sogar auf die sonst übliche, offizielle Pressemitteilung.

Nicht zuletzt in dem Wissen, dass man sich soeben ein dickes Eigentor eingefangen hatte. Der Shitstorm ließ nicht lange auf sich warten, Audi wurde final zum Buh-Mann nach dem Rauswurf von Daniel Abt in Folge eines Eklats bei einem Formel-E-Computerspiel während der Corona-Zwangsrennpause.

Abt hingegen war rehabilitiert, auch wegen seiner ausführlichen Erklärung auf der Video-Plattform YouTube, die er erst nach der Suspendierung veröffentlichen durfte - und die zwischenzeitlich den ersten Platz in den heutzutage durchaus relevanten YouTube-Charts belegte. 964.000 Aufrufe bis heute erreichte Abts "Statement zum Formel E Skandal", wie er es selbst bezeichnete. Das wäre übrigens Platz 13 in der Liste der klickstärksten Formel-E-Videos seit 2013.

Auf eine öffentliche Verabschiedung durch Audi beim folgenden Berliner Saisonfinale im August - die vor dem Rauswurf geplant war - musste Abt verzichten. Ein böses Wort über seinen ehemaligen Arbeitgeber kam dem Sohn von Abt Sportsline-Chef Hans-Jürgen Abt bis heute nicht über die Lippen.

Nach 63 Rennen und 10 Podestplätzen musste Daniel Abt Audi verlassen, Foto: Audi Communications Motorsport
Nach 63 Rennen und 10 Podestplätzen musste Daniel Abt Audi verlassen, Foto: Audi Communications Motorsport

Guess who's back

Doch in den Vorstandsetagen in Wolfsburg und Ingolstadt dürfte der Eine oder Andere große Augen gemacht haben, als Abt plötzlich in der Startaufstellung auftauchte. Der Kemptener, der seit 2014 63 Rennen in Folge für Audi bestritten hatte, fand im letzten Moment beim Hinterbänkler-Team NIO ein freies Cockpit.

Dass Abt in der Anfang 2021 beginnenden Saison 7 der Formel E - erstmals mit FIA-Weltmeisterschaftsstatus - nicht mehr für Audi antreten würde, war schon vor dem Skandal klar. Einem geplanten Gespräch mit Audi Motorsport kam der Eklat kurz zuvor, bei dem Abt an seiner Stelle einen jungen Sim-Racer das Lenkrad überließ.

Audi und die Transparenz

Beim Online-Rennen im virtuellen Berlin am 23. Mai 2020 saß Abt zwar selbst vor der Videokamera, die eigentliche Lenkarbeit übernahm jedoch ein anderer Fahrer, den der 27-Jährige zuvor während eines Live-Streams kennengelernt hatte. Was als Scherz respektive Prank und höchst naiv geplant war, ging komplett in die Hose - und kostete Abt wegen aufkommender und harscher Betrugsvorwürfe schlaflose Nächte sowie letztendlich den Job bei Audi.

Szene-Kenner sind sich rückblickend einig: Der Audi-Konzern wäre durch das simple Auslaufen des Vertrages zum Saisonende wesentlich galanter weggekommen, als Abt sang- und klanglos vor die Tür zu setzen. Eine offizielle Pressemitteilung gibt es auch 100 Tage später nicht.

Ein gut versteckter Hinweis lediglich auf der allgemeinen Audi-Webseite, versehen mit Schlagworten wie "Transparenz", "Integrität" oder "Alternativlosigkeit" sorgte für weiteres Kopfschütteln. In Zeiten, in denen der 2015 aufgekommene Abgasskandal rund um den VW-Konzern erneut prominent durch die Medien ging, war die Zündschnur äußerst kurz bei den unter Druck stehenden Vorständen.

Von Audi zu NIO: Daniel Abt wechselt das Team in der Formel E, Foto: ATP/Mignot Vincent
Von Audi zu NIO: Daniel Abt wechselt das Team in der Formel E, Foto: ATP/Mignot Vincent

Abt: Größter Schmerz meines Lebens

Abt war für seinen Computerspiel-Eklat selbst verantwortlich, doch sein Schicksal - "der größte Schmerz meines Lebens" - beschäftigte die Motorsportwelt. Rennfahrer-Kollegen zeigten sich solidarisch und kündigten an, Distanz vom zu dieser Zeit boomenden Sim-Racing zu nehmen. Mercedes-Werksfahrer Stoffel Vandoorne, der Abts Aktion als Erster durchschaut hatte, gehörte zu den ersten Anrufern in Kempten und sprach später von "harten Konsequenzen".

Sein langjähriger Teamkollege Lucas di Grassi sprang Abt zur Seite und bekräftigte, dass der zehnfache Podestfahrer einen Platz in der Formel E verdient habe. So kam es schließlich auch, als bei NIO der eigentliche Stammfahrer Ma Qinghua einen Start in der TCR China dem Saisonfinale der Formel E bevorzugte. An seine Stelle trat Abt bei den sechs Rennen in der deutschen Hauptstadt, wo er 2018 mit dem Heimsieg den größten Erfolg seiner Rennfahrerkarriere erzielt hatte.

Dass Abt und sein erfahrener Teamkollege Oliver Turvey das Ruder nicht herumreißen konnten und NIO die Saison 2019/20 ohne einen einzigen Punktgewinn beendete, verkam in Deutschland zur Randnotiz. Nach dem kurzfristigen Absprung der Öffentlich-Rechtlichen blieb Eurosport als einzig verbliebener TV-Sender. Die lieblosen Übertragungen auch zur ungewohnten Zeit unter der Woche dürften dem Schnitt von rund 100.000 Zuschauern pro Rennen nicht zuträglich gewesen sein. Eurosport verzichtete auch auf Nachfrage auf eine Veröffentlichung der Zahlen.

Sat.1 hofft auf Abt-Fortsetzung

2021 weht mit dem neuen TV-Partner Sat.1 ein frischer und reichweitenstärkerer Formel-E-Wind in Deutschland - mit Daniel Abt am Bildschirm? Die Fortsetzung seiner Karriere ließ der Elektro-Pionier offen. NIO hat Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit, auch andere Teams mit freien Cockpits sollen angeklopft haben, um von seiner Erfahrung in der Formel E zu profitieren.

"Ich hoffe, in der Formel E zu bleiben", sagte Abt in Berlin. "Wir sprechen über die nächste Saison, das ist klar. Ich muss schauen, wo ich mich wohlfühle, was die Zukunft bringt und ob ich weiter hier im Grid bin oder nicht." Bei Sat.1 hofft man auf eine Fortsetzung - der Eklat vor 100 Tagen und seine Folgen haben ein weiteres Mal gezeigt, dass Abt zu den absoluten Aushängeschildern der noch jungen Rennserie zählt.