Zum ersten Mal in seiner langen Formel-E-Karriere wird Daniel Abt nicht für Audi an den Start gehen. Stattdessen nimmt der Kemptener seine Rennen 64 bis 69 mit dem hierzulande eher unbekannten Team NIO 333 in Angriff. Beim großen Saisonfinale in Berlin mit drei Doppel-Rennen zwischen dem 05. und 13. August debütiert Abt für den chinesischen Rennstall, in dem nicht mehr das drinsteckt, was draufsteht.

Genau wie der 27-Jährige zählt auch das Team zu den Pionieren der Elektro-Rennserie. Während Abt seinem Namen jedoch treu blieb, erlebte NIO seit 2014 einige Veränderungen. Die Mannschaft firmierte seit dem Einstieg unter den Bezeichnungen China Racing, NextEV TCR, NextEV Nio, NIO Formula E Team und zuletzt NIO 333 FE Team.

Namenswechsel im Motorsport lassen nicht selten auf die Leistungsfähigkeit schließen. So auch bei NIO 333, das in der Debütsaison der Formel E 2014/15 völlig überraschend die Meisterschaft gewann. Der frühere Formel-1-Fahrer Nelson Piquet Junior führte die damals als NextEV bekannte Truppe beim Finale im Londoner Battersea Park zum Titelgewinn.

Was in dieser Konstellation heute gern einmal übersehen wird: In der ersten Saison der Formel E traten alle teilnehmenden Teams mit komplett identischem Material an. Erst ab Saison 2 (2015/16) ließ das Reglement immer mehr Freiheiten bei der Entwicklung der Autos mit einheitlichen Chassis und Batterien zu.

Es geht bergab mit NIO

Als Teams wie Abt-Audi und Renault bei den alten Gen1-Autos - damals noch mit Fahrzeugtausch zur Rennmitte - begannen, Komponenten wie den E-Motor, Inverter, Getriebe und Kühlsystem in Eigenregie aufzubauen, ging es mit NIO konsequent bergab. Mit Ausnahme der Saison 2016/17, als Piquet und Teamkollege Oliver Turvey den sechsten Platz in der Teamwertung erzielten, fand sich NIO konsequent auf den letzten Plätzen wieder.

Für das letzte Highlight sorgte am 03. März 2018 Abts baldiger Teamkollege Turvey, als er völlig überraschend den zweiten Platz in Mexiko-City eroberte - ausgerechnet hinter Abt, der an selber Stelle seinen ersten Sieg in der Formel E erzielte und im selben Jahr einen weiteren beim Heimrennen in Berlin folgen ließ.

In der vergangenen Saison 2018/19, der ersten mit dem leistungsstärkeren Gen2-Auto, landete NIO auf dem letzten Platz, Turvey rettete die Ehre mit zumindest drei Top-10-Ergebnissen. Seine wechselnden Teamkollegen Luca Filippi, Tom Dillmann und Abt-Vorgänger Ma Qinghua gingen mit einer Ausnahme (Platz 10 beim Saisonstart im Dezember 2017 in Hongkong) komplett aus.

NIO mit Penske-Motor: So sieht Daniel Abts Auto in Berlin aus, Foto: LAT Images
NIO mit Penske-Motor: So sieht Daniel Abts Auto in Berlin aus, Foto: LAT Images

Abt: Berlin wird keine einfache Kaffeefahrt

"NIO hat sich in den vergangenen Jahren schwergetan und ich erwarte auch in Berlin keine einfache Kaffeefahrt", sagt Daniel Abt im Exklusiv-Interview mit Motorsport-Magazin.com. "Wenn ich dem Team aber dabei helfen kann, einen positiven Saisonabschluss zu erreichen, wäre das schön für mich."

Was Abt genau erwartet, wird er erstmals Mitte Juli 'erfahren'. Bei einem Test auf dem Rollfeld eines kleinen Flughafens in England - seit jeher beliebte Testplätze in der Formel E - kann er sich ein wenig mit dem NIO-Boliden vertraut machen. Einsätze im Simulator des Teams dienen der weiteren Vorbereitung für die sechs Rennen auf dem stillgelegten Flughafen Berlin-Tempelhof innerhalb von nur neun Tagen.

Alter Motor im NIO-Boliden

Vermutlich kann sich Abt schon jetzt vorstellen, was ihn bei NIO 333 erwartet: in erster Linie ein Antriebsstrang auf dem Niveau der Vor-Saison. Der chinesische E-Autohersteller NIO dient seit September 2019 nur noch als Namenssponsor, das Team wurde an das chinesische Motorsportmanagement-Unternehmen Lisheng Racing verkauft. Wo NIO draufsteht, steckt tatsächlich ein älterer, von Penske aufgebauter und zuletzt von Hinterherfahr-Team Dragon-Racing genutzter Motor drin.

Von NIO gestellte Mitarbeiter aus der Vergangenheit gibt es nur noch wenige in der Teamstruktur. Stattdessen hat Lisheng-Partner '333 Racing' die Zügel übernommen. Verantwortlich zeichnet Vincent Wang als CEO des Formel-E-Teams, der Abt mit dem östlichen Sprichwort: "Die Rückkehr eines verlorenen Sohnes ist wertvoller als Gold" willkommen hieß.

Der langjährige Formel-1-Ingenieur Christian Silk ist inzwischen vom Teammanager zum Teamchef aufgestiegen. Das Entwicklungsteam sitzt im britischen Oxford, Entscheidungen werden in China getroffen.

Formel-E-Finale Berlin: BMW-Titelanwärter Max Günther exklusiv: (16:55 Min.)

Statt 333: Null-Punkte-NIO

Der große interne Umbruch schuf Voraussetzungen, die sich in der laufenden Saison in Ergebnissen widerspiegeln. Als einziges der zwölf Formel-E-Teams hat NIO 333 in den bisherigen fünf Rennen keinen Punkt erzielt. Für das einzige Ausrufezeichen sorgte einmal mehr Turvey, der sich in Santiago de Chile als Fünfter qualifizierte und als Elfter knapp die Punkteränge verpasste. Teamkollege Ma fiel vor allem durch Unfälle - sicherlich nicht zuletzt der anfälligen Software und Elektronik geschuldet - auf.

So macht sich Abt keine Illusionen auf weitere Top-Ergebnisse, die ihm in der Vergangenheit mit Top-Team Audi gelungen sind. "Es geht jetzt nicht darum, irgendjemandem etwas zu beweisen", blickt er voraus. "Wenn ein Team null Punkte hat, erwartet man keine riesigen Sprünge. Vielleicht kann ich ein Ausrufezeichen setzen. Es sind Ansporn und Motivation für mich, meine sechs Jahre Erfahrung in der Formel E dem Team als Input zu geben."

Abt und Turvey: Geballte Erfahrung

Immerhin: An Rennfahrer-Erfahrung mangelt es NIO 333 nicht in Berlin. Abt und Turvey blicken auf insgesamt 115 Rennen in der Formel E zurück. Nur das amtierende Meister-Team DS Techeetah samt Champion Jean-Eric Vergne und Neuzugang Antonio Felix da Costa hat mit addierten 120 Rennen mehr auf dem Buckel.

"Ich sehe das Ganze als eine coole Challenge", will Abt die Messlatte nicht zu hoch anlegen, wenn er in Berlin zum ersten Mal in seiner Rennfahrer-Karriere gegen Mitglieder der Firma seines Vaters Hans-Jürgen, Abt-Sportsline aus Kempten, antritt. Zumindest trifft er mit dem heutigen NIO-Teammanager Roberto Costa auf ein bekanntes Gesicht: Er arbeitete in der ersten Saison der Formel E als Ingenieur an Abts Auto.