Es ist eine der großen Sensationen im Motorsport-Jahr 2018: Jean-Eric Vergne ist der neue Champion der Formel E. Beim Saisonfinale in New York machte der frühere Formel-1-Fahrer seinen ersten Titelgewinn im ersten von zwei Rennen vorzeitig perfekt.

Vergne hatte nach insgesamt 12 Saisonrennen 54 Punkte Vorsprung auf Vorjahres-Champion Lucas di Grassi, der sich im letzten Moment den Vize-Titel sicherte.

Kein Audi, kein Renault, kein Jaguar: Am Ende setzte sich ein Fahrer aus dem einzigen Privat-Team in der Formel E, dem kleinen Rennstall Techeetah, durch. Motorsport-Magazin.com erklärt, wie dem 28-jährigen Vergne dieses Kunststück gelingen konnte.

Faktor #1: Die Konstanz

Der Klassiker im Motorsport als Schlüssel zum Erfolg. Vergne trieb diesen Faktor in der Formel E allerdings bis auf die Spitze. Als einziger Fahrer im Feld aus insgesamt 25 Piloten sammelte der Franzose in jedem Rennen Punkte. Der einzige Titelrivale Sam Bird (Virgin) war ebenfalls stark und ging nur in Mexiko komplett leer aus.

Aber: Vergne zeigte unglaubliche Konstanz auf höchstem Niveau. In 11 von 12 Rennen fuhr er jeweils unter die Top-5, darunter 6 Podestplätze mit 4 Siegen. Selbst in Zürich rettete sich Vergne nach einem schwierigen Tag noch als Zehner in die Punkteränge. Da konnte Kontrahent Bird nicht ganz mithalten. Der Brite erzielte ebenfalls 6 Podiumsplätze, aber nur zwei Siege.

Techeetah im Siegesrausch beim Finale in New York, Foto: LAT Images
Techeetah im Siegesrausch beim Finale in New York, Foto: LAT Images

Faktor #2: Die Konkurrenz

Vor der Saison galt Audi mit Champion Lucas di Grassi als großer Titel-Favorit. Doch die Ingolstädter erlebten einen katastrophalen Saisonstart als Werksteam in der Formel E. Di Grassi holte in den ersten 4 Rennen 0 Punkte. Teamkollege Daniel Abt sammelte nach der kontroversen Disqualifikation in Hongkong ebenfalls nur 12 Punkte in den ersten vier Rennen.

Schlimmer hätte es für die Truppe um Teamchef Allan McNish nicht laufen können. Ein Problem mit dem Inverter, der aufgrund des Reglements erst nach langer Wartezeit getauscht werden durfte, und auch eigene Fehler warfen Audi früh komplett zurück. Da sich auch Dreifach-Meister Renault schwer tat, konnten Teams wie Techeetah und Mahindra glänzen und Punkt um Punkt sammeln.

Hätte Audi in den ersten Rennen nicht diese eklatanten Probleme gehabt, wäre die Meisterschaft höchstwahrscheinlich ganz anders verlaufen. Nachdem alle Schwierigkeiten behoben waren, fuhr di Grassi in den letzten sieben Rennen stets aufs Podium und erzielte dabei zwei Siege.

Daniel Abt war ebenfalls zweimal siegreich und stand insgesamt viermal auf dem Podest. So schnappte Audi in letzter Sekunde Techeetah die Team-Meisterschaft weg. Unter normalen Umständen hätte es vermutlich auch zum Fahrer-Titel gereicht.

Faktor #3: Andre Lotterer

Um selbst über lange Zeit erfolgreich zu sein, brauchte Vergne einen starken Teamkollegen. Den hatte er auf dem Papier mit Andre Lotterer. Der dreifache Le-Mans-Sieger tat sich als Rookie in der Formel E zunächst jedoch schwer. In vier der ersten fünf Rennen holte Lotterer keinen Punkt.

Eine Ausnahme war Platz 2 beim Techeetah-Doppelsieg in Santiago, der jedoch höchst kontrovers war. Bearbeitete Anschnallgurte hätten genauso gut zur Disqualifikation beider Fahrer führen können.

Doch mit der Zeit zeigte Lotterer sein Talent. Beim siebten Saisonrennen in Rom erzielte er seinen zweiten Podestplatz und war fortan stets einer der Sieg-Kandidaten. Lotterer fand sich schneller als die meisten Neueinsteiger in der komplexen Formel E zurecht und konnte sein Wissen beisteuern, um das Team zu verbessern.

Dass er ein echter Teamplayer ist und stets betonte, Vergne im Titelkampf gegebenenfalls zu unterstützen, war ein zusätzliches Plus. Zwischen Lotterer und Vergne entwickelte sich sogar eine enge Freundschaft wie man sie selten im Fahrerlager erlebt. Die beiden verbrachten viel Freizeit miteinander, erschufen dadurch sogar den beliebten Hashtag #JeAndre.

Formel E: Insider-Talk mit TV-Experte Jan Seyffarth: (30:23 Min.)

Faktor #4: Das Techeetah-Team

Techeetah ist das einzige der zehn Teams mit einem Kunden-Motor im Auto. Alle anderen bauen ihre Antriebsstränge selbst. Das vom chinesischen Investor SECA finanzierte Team, das vor zwei Jahren aus Pleite-Truppe Aguri hervorging, vertraut auf Renault-Power. Motor, Inverter und Getriebe stammen aus dem Hause des französischen Herstellers - dem Team, das dreimal in Folge die Team-Meisterschaft in der Formel E gewann.

Renault hatte neben Audi das beste Motoren-Paket im Feld - und musste es wegen des Reglements zu einem vertretbaren Preis an Techeetah abgeben. Die Rede ist von einer niedrigen sechsstelligen Summe. Aber: Weil Techeetah kein Hersteller ist, bekamen sie keinerlei Test-Tage während der Saison zugesprochen.

Nur den offiziellen Rookie-Test zu Beginn des Jahres durfte das Team des Formel 1 erfahrenen Teamchefs Mark Preston nutzen. Wie wichtig dieser Test für Techeetah war, zeigte schon das erfahrene "Rookie-Lineup" aus James Rossiter (34 Jahre alt) und Frederic Makowiecki (37). So konnte sich Techeetah voll auf das Auto statt auf die Fahrer konzentrieren.

Mangels Test-Tagen konzentrierte sich Techeetah voll auf die in der Formel E extrem wichtige Simulator-Arbeit. Vergne und Teamkollege Lotterer verbrachten unzählige Stunden am virtuellen Steuer. Es zahlte sich aus. Nicht umsonst wurde Renndirektor Leo Thomas für den Aufbau des effizienten Simulators als Formel-E-Ingenieur des Jahres ausgezeichnet.

Das beste Duell der Saison: Vergne gegen Di Grassi in Uruguay, Foto: LAT Images
Das beste Duell der Saison: Vergne gegen Di Grassi in Uruguay, Foto: LAT Images

Faktor #5: Qualifying-Stärke

Vergne gehört seit jeher zu den besten Qualifyern in der Formel E. Als er in Saison 1 im dritten Rennen bei Andretti anheuerte, startete er seine Elektro-Karriere direkt mit der Pole Position. Insgesamt startete Vergne acht Mal vom 1. Startplatz, nur Sebastien Buemi kommt auf noch mehr Poles (12). Allein in dieser Saison holte Vergne vier Pole Positions - die meisten aller Fahrer.

In der Formel E hat die Pole neben der optimalen Ausgangslage einen zusätzlichen Anreiz in Form von 3 Extra-Punkten. So holte Vergne in dieser Saison allein durchs Qualifying 12 zusätzliche Zähler. In Punta del Este erbte er die Pole von Lucas di Grassi wegen einer nachträglichen Strafe. Beim Finale in New York hatte Vergne gute Pole-Aussichten, bis er wegen eines fehlerhaften Software-Codes zu etwas zu viel Energie verbrauchte und auf den letzten Startplatz zurückfiel. Aus der letzten Reihe kämpfte er sich bis auf den fünften Platz nach vorne und machte dadurch den vorzeitigen Titelgewinn perfekt.

Fast schon legendär: Beim Saisonauftakt in Hongkong drehte sich Vergne kurz vor der Ziellinie und fuhr rückwärts zur ersten von vier Pole Positions.

Formel E New York: Video-Wiederholung des Finales 2018: (06:48 Min.)

Faktor #6: Der Hunger

Die Szene passte zu Vergnes Einstellung: Auf der abschließenden Pressekonferenz in New York musste er noch hastig etwas loswerden. "Nur, weil ich den Titel habe, heißt das noch lange nicht, dass ich mich zurücklehne", kündigte er an. "Ich bin noch hungriger und will noch mehr Siege holen."

Vergne gehört nicht nur zu den talentiertesten Fahrern der Formel E, sondern auch zu den akribischsten. Während der Saison pushte er sein Team zeitweise dermaßen, dass es intern sogar krachte. Dafür entschuldigte sich Vergne aus eigenem Antrieb später öffentlich. Nicht ohne Grund drängte er die Mitarbeiter: Vergne soll einige Anteile am Techeetah-Rennstall besitzen und deshalb mehr Mitspracherecht haben als andere Fahrer bei ihren Teams.

Vergne war nach seinem Aus in der Formel 1 zum Saisonende 2014 niedergeschlagen und enttäuscht. In der Formel E fand er eine neue Heimat, wechselte in den ersten drei Jahren aber auch dreimal das Team. Erst bei Techeetah kam er richtig an. Was fehlte, war ein Titel. Die letzte Meisterschaft hatte er 2010 in der britischen Formel 3 gewonnen. Die Durststrecke hat nun ein Ende gefunden.