Der Artikel wurde in der 81. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 28. Oktober 2021 veröffentlicht.

Shoey auf dem Podium. Ein über beide Ohren grinsender Daniel Ricciardo. Der Honey Badger ist zurück, wo er hingehört: Nämlich auf dem obersten Treppchen des Podiums. Dem ging ein Grand Prix im königlichen Park von Monza voraus, den die Königsklasse wohl lange nicht vergessen wird. Ricciardo gewann den Start gegen Max Verstappen und hielt seinen Ex-Teamkollegen den gesamten ersten Stint in Schach. Als Verstappen nach seinem Stopp dann auch noch mit Lewis Hamilton kollidierte, war die Bahn frei: Nach drei Jahren und einer erfolgsarmen Renault-Odyssee war der Sieg beim Großen Preis von Italien nicht nur für die Frohnatur des F1-Paddocks ein Befreiungsschlag, sondern auch Balsam auf die Seele vieler Fans der Königsklasse. Denn die Saison 2021 verlief für Ricciardo, der einer der beliebtesten Fahrer im Zirkus ist, bis zu dieser Sensation ganz und gar nicht nach Plan.

Ricciardo kam voller Hoffnungen nach zwei schwierigen Jahren bei einem von internen Querelen gezeichneten Renault-Team zu McLaren. Mit dem im Team voll integrierten Supertalent Lando Norris als Teamkollegen lag die Messlatte hoch - zu hoch wie sich herausstellen sollte. Die beiden Qualifying-Siege gegen den jungen Briten zu Beginn der Saison stellten ein trügerisches Bild dar. In Bahrain war Norris bei fast allen Sessions außer dem Qualifying schneller als Ricciardo, beim Grand Prix der Emilia Romagna kostete dem Briten ein Track-Limit-Vergehen im Zeitentraining ein deutlich besseres Ergebnis. Im Rennen hatte Norris beide Mal die Nase vorne, Ricciardo hingegen opferte sich für die Strategie. Grund zur Sorge gab es bei McLaren allerdings noch nicht. Denn aufgrund der verkürzten Testfahrten hatte man damit gerechnet, dass Ricciardo noch etwas Zeit brauchen würde, um sich in seiner ersten Saison mit dem Team auf seinen neuen Boliden einzustellen.

"Ich bin noch nicht zu 100 Prozent komfortabel in dem Auto und es macht noch nicht alles, was ich von ihm will", erklärte Ricciardo beim Saisonauftakt und wiederholte dieses Mantra an den darauffolgenden Wochenenden. Denn die erwartete Entwicklung kam nicht. Außer eines Ausreißers nach oben in Spanien, als er Norris im Griff hatte, schwächelte Ricciardo weiterhin. Vor allem das Ausscheiden in Q2 in Monaco und die damit einhergehende deutliche teaminterne Niederlage gegen den 21-jährigen Briten, der sogar unter die Top-3 fuhr, schmerzten ihn sehr. Nach dem Rennen auf seiner einstigen Fabelstrecke im Fürstentum war Ricciardo ratlos: "Ich weigere mich zu glauben, dass ich hier so langsam bin. Ich bin hier gegen Max [Verstappen] gefahren und ich bin sicher, dass Lando schnell ist. Aber ich weigere mich zu glauben, dass er eine Sekunde schneller ist als ich."

Der Honeybadger kann es doch noch!, Foto: LAT Images
Der Honeybadger kann es doch noch!, Foto: LAT Images

Es half aber alles nichts. In den nächsten Monaten ging es in einer ähnlichen Tonart weiter. Ricciardo blieb in Aserbaidschan, bei beiden Österreich-Rennen und in Ungarn bereits im zweiten Qualifying-Abschnitt hängen, während Norris teilweise um die ersten beiden Startreihen und Podien mitkämpfte. Dazwischen gab es ein paar Lichtblicke, als er in Frankeich und in Silverstone im teaminternen Duell auf Augenhöhe performte. Doch für das Kaliber eines Daniel Ricciardos reicht das nicht aus. Eine Spurensuche begann: Was läuft bei Daniel Ricciardo falsch? Der Australier selbst rätselte: "Es ist noch nicht einmal so lange her, da fuhr ich mit Renault auf das Podium. Letztes Jahr könnte sogar das beste Jahr meiner Formel-1-Karriere gewesen sein. Und das war vor acht Monaten. Ich möchte nur klarmachen, dass ich nicht innerhalb von ein paar Monaten das Fahrern verlernt habe."

Seine humorvolle Art hatte Ricciardo dennoch nicht eingebüßt. Trotz der dauernden Rückschläge und trotz seines kniffligen Verhältnisses mit seinem McLaren-Boliden blieb er seiner unaufgeregten Herangehensweise an den Grand-Prix-Sport treu. "Ich bin vielleicht schon 200 Rennen gefahren, aber ich weiß, dass ich keine weiteren 200 mehr haben werde, deshalb will ich es nicht als selbstverständlich ansehen und gehe voller Vorfreude in jedes Rennwochenende", erklärte Ricciardo seine Mentalität. Von Druck will er deshalb nichts wissen: "Ich bin nicht sauer auf die Personen, die mich schon abgeschrieben haben. Denn ich nehme das als Kompliment. Denn es bedeutet, dass sie von mir erwarten, dass ich an der Spitze mitkämpfe."

Auf der Strecke hatte er bis zur Sommerpause wenig zu lachen: Trotz zweier Chassis-Wechsel blieb ein Aufwärtstrend aus. Als Erklärung für die mangelnde Pace von Ricciardo wurde das Fahrverhalten seines Dienstwagens geliefert. Denn, wie sein Team nicht müde wurde zu betonen, verlangt der McLaren MCL35M eine sehr gewöhnungsbedürftige Fahrweise. "Daniel beschreibt es klar, es hat mit den Charakteristika das Autos zu tun", betonte Teamchef Andreas Seidl. McLaren-Renndirektor Andrea Stella erklärt die mangelnde Kompatibilität von Ricciardos Fahrstil mit dem McLaren folgendermaßen: "Unser Auto erfordert eine besondere Anpassung. Unser Auto ist in den Highspeed-Kurven gut, aber es mag nicht das beste sein, wenn du Speed in die Kurven rollen musst." Ricciardo sei es allerdings gewohnt, seinen Wagen genau auf diese Art und Weise zu fahren: Also viel Speed eingangs der Kurve mitzunehmen und das Fahrzeug rollen zu lassen.

Um den Boliden besser an Ricciardo anzupassen, müsste McLaren die Charakteristik des MCL35M von Grund auf ändern und sich vor allem an der aerodynamischen Effizienz zu schaffen machen. Die Prioritäten liegen aber schon längst auf 2022, mit nennenswerten größeren Updates ist deshalb kaum mehr zu rechnen und mit einer grundsätzlichen Änderung der Fahrzeugphilosophie schon gar nicht. Deshalb gab es für dieses Jahr nur eine Lösung: Ricciardo musste seinen Fahrstil weiterhin bestmöglich an seinen Boliden anpassen. Die zeitlichen Rahmenbedingungen um das zu schaffen, sind innerhalb der Formel-1-Saison aber eng gestrickt: Die Tests vor der Saison waren mit eineinhalb Tagen so kurz wie noch nie zuvor und die Trainingszeit an den Rennwochenenden ist mit drei Sessions zu je 60 Minuten ebenfalls knapp bemessen.

Ricciardo sicherte McLaren den ersten Sieg seit Jenson Button in Brasilien 2012, Foto: LAT Images
Ricciardo sicherte McLaren den ersten Sieg seit Jenson Button in Brasilien 2012, Foto: LAT Images

"Ich sehe das als Challenge. Wenn ich das überwinden kann und die ersten sechs Monate bei McLaren irgendwie vergessen machen kann, dann wäre das eine ziemlich coole Geschichte. Es wäre vielleicht sogar noch großartiger, als wenn ich vom ersten Rennen an stark gewesen wäre", motivierte sich Ricciardo vor dem Zandvoort-Wochenende für die zweite Saisonhälfte.

Gesagt, getan. Nachdem McLaren in den Niederlanden generell etwas an Pace fehlte, kam in Italien alles zusammen: Eine gute Pace des MCL35M, ein Daniel Ricciardo in Topform, gelungene Starts - sowohl im Sprint als auch im Grand Prix - gute Boxenstopps und letzten Endes mit der Kollision von Verstappen und Hamilton auch das nötige Quäntchen Glück. McLaren und Daniel Ricciardo mussten so gar nicht erst den Beweis antreten, ob man auch gegen die Dominatoren der F1-Saison in der Lage gewesen wäre, den Grand Prix zu gewinnen.

Es war allerdings nicht nur Monza. Auch sonst zeigte Ricciardo nach dem Ende der Sommerpause eine bessere Leistung als noch in der ersten Saisonhälfte. Im Q2 schied er seit Ungarn nicht mehr aus, der Zeit- und Positionsverlust auf Norris hielt sich in Grenzen und zeitweise konnte er den Spieß sogar umdrehen. Andreas Seidl glaubt, dass die Saisonunterbrechung in seinem Fahrer neue Kräfte freigesetzt hat: "Wir wissen nicht, was er in der Sommerpause gemacht hat. Er hat vor dem Sommer viel Energie investiert, aber die Ergebnisse kamen nicht. Vielleicht brauchte er die Pause."

"Ich fühle mich seit der Sommerpause besser, auch wenn sich noch nicht alles auf die Stoppuhr überträgt", bestätigte auch Ricciardo selbst. Der ganz große Wurf soll dann im kommenden Jahr kommen. Mit dem neuen Regelpaket wird der nächstjährige McLaren sowieso von Grund auf einen neuen Fahrstil verlangen. So wie praktisch alle Mittelfeld-Teams hofft auch McLaren, dass man mit der neuen Wagengeneration an die Spitze des Feldes gelangen kann. Ricciardo blickt mit der ihm eigenen Gelassenheit auf zukünftige Herausforderungen: "Ich bin hier, weil ich glaube, dass ich der Beste bin. Falls sich herausstellt, dass ich nicht der Beste bin, dann habe ich es wenigstens versucht." Nicht umsonst gelten Honigdachse doch als ausgesprochen furchtlos und aggressiv.

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