Acht Stunden vor Ablauf der Frist brach Mercedes am Donnerstagvormittag sein langes Schweigen nach dem höchst kontroversen Rennende des Formel-1-Saisonfinals 2021 in Abu Dhabi. Die Silberpfeile hatten sich nach einem abgelehnten Protest gegen das Rennergebnis am Sonntag das Recht vorbehalten, weitere Rechtsmittel einzulegen. Nun entschied sich das Team gegen einen Einspruch und den Gang zum Sportgericht..

Damit steht Max Verstappen final als neuer Formel-1-Weltmeister fest - gerade noch pünktlich vor der großen FIA-Preisverleihung am Donnerstagabend in Paris. Der alljährlichen Zeremonie nicht beiwohnen werden Lewis Hamilton und Toto Wolff. Auch seine Autos stellte Mercedes nicht für ein gemeinsames Foto alle Gewinner des Jahres in den größten Serien unter dem Dach der FIA nicht zur Verfügung, wie bereits am Mittwoch herauskam.

Hamilton & Wolff boykottieren FIA-Gala

Was dahintersteckte, schien offensichtlich - und das hat nun Toto Wolff mit einer Erklärung für sein und Hamiltons Fehlen indirekt unterstrichen. "Ich bin aus Loyalität zu Lewis und aus persönlicher Integrität nicht da", berichtete der Mercedes-Teamchef am Donnerstag in einer ausführlichen Medienrunde. Einzig James Allison werde in Paris zugegen sein, um den Pokal für den Konstrukteursweltmeister in Empfang zu nehmen, so Wolff.

Der Pressetermin war die erste Aussage seit Hamiltons knapper erster Reaktion direkt nach dem Rennen in Abu Dhabi aus dem Mercedes-Lager überhaupt. Seitdem hatte das Team geschwiegen, inklusive Presseabteilung und Social-Media-Auftritten. Im Klartext bedeutet das: Mercedes ist auch nach Rückzug des Einzugs und vier Tage später noch immer extrem verstimmt, was die Auflösung der Safety-Car-Phase durch Rennleiter Michael Masi am Rennende anbelangt.

Wolff: Hamilton und ich sind desillusioniert

Ganz besonders gilt das -neben Wolff - offenbar für Lewis Hamilton. Der Brite hat sich bislang noch immer nicht geäußert, war seit Abu Dhabi einzig am Mittwoch durch Bilder seines Ritterschlags wahrzunehmen. "Das Schweigen ist natürlich da, weil einfach die Worte fehlen", erklärt Wolff in langsamen Worten und ruhigem Ton stellvertretend für Hamilton die Gefühlswelt seines Starpiloten.

Bei Wolff selbst sieht das nicht sehr viel anders aus. Nach wie vor herrscht Fassungslosigkeit über die Abläufe in Abu Dhabi. "Lewis und ich sind momentan desillusioniert", schildert Wolff. "Wir sind nicht desillusioniert, was den Sport angeht. Wir lieben den Sport. Mit jedem Knochen in unseren Körper. Wir lieben ihn, denn die Stoppuhr lügt nie", sagt Wolff. "Was mir an diesem Sport gefällt, ist die Ehrlichkeit. Die Ehrlichkeit der Stoppuhr. Doch diese Ehrlichkeit war am Sonntag nicht gegeben."

Wolff: Unmöglich, darüber hinwegzukommen

Deshalb stelle man die Dinge nun natürlich in Frage, so Wolff. Nicht nur er selbst, auch Hamilton. "Wenn wir das fundamentale Prinzip von sportlicher Fairness und Authentizität brechen, dann ist die Stoppuhr plötzlich nicht mehr relevant. Dann sind wir beliebig getroffenen Entscheidungen ausgesetzt. Es ist klar, dass dir da die Liebe verloren geht und du hinterfragst, ob du all die Arbeit, die du da reingesteckt hast, all der Schweiß, all die Tränen und all das Blut, überhaupt mit Performance auf der Strecke zeigen kannst. Denn es kann dir beliebig weggenommen werden", klagt Wolff.

Wolff weiter: "Es wird eine lange Zeit brauchen, um das zu verdauen, was da am Sonntag passiert ist. Ich denke nicht, dass wir je darüber hinwegkommen. Das ist unmöglich. Ganz besonders nicht für ihn als Fahrer." Hat Lewis Hamilton also womöglich schon halb mit der Formel 1 abgeschlossen? Weil der Sport, dem er so viel gab, ihn im Stich ließ, wie Bruder Nicolas kürzlich formulierte?

Wolff: Hoffe, dass Lewis weiterfährt ...

So weit will Wolff abschließend nicht gehen. Doch ein gewisser Zweifel, eine gewisse Angst, Hamilton könne nun hinwerfen, schien bei dem Medientermin in allen Antworten bezüglich Hamilton omnipräsent. "Wir werden nie über den Schmerz und die Verzweiflung von Sonntag hinwegkommen. Ich kann nicht einmal verstehen, was da passiert ist. Es fühlt sich noch immer surreal an", sagt Wolff.

Und für Hamilton? "Ich hoffe sehr, dass Lewis weiterfährt", sagt Wolff. "Er ist der größte Rennfahrer aller Zeiten. Die letzten vier Rennen hat er dominiert. Es gab an den Sonntagen nicht einmal Zweifel, wer das Rennen gewonnen hat. Daher wäre er ein verdienter Weltmeister gewesen." Jetzt müsse man all das erst einmal auch mit dem seitens FIA aufgesetzten Gremium zur Aufarbeitung durchgehen, so Wolff.

Wolff: Hamilton als Mann klarer Werte besonders hart getroffen

"Aber auf menschlichem Level ist es extrem schwierig, weil es so enttäuschend ist. Wir lieben den Sport und müssen uns jetzt gleichzeitig diese Fragen stellen", ergänzt Wolff. Natürlich sei es am Ende noch immer nur ein Sport. "Da draußen passiert auf der Welt viel Schlimmeres", erinnert Wolff. "Aber das ist eben unser Mikrokosmos, dessen Teil wir waren und in dem wir Werte und Annahmen hatten. Und viele dieser Werte wurden am Sonntag mit Füßen getreten."

Für Hamilton gelte das ganz besonders. "Weil er ein Mann mit klaren Werten ist und schwierig verstehen kann, dass das passiert ist", sagt Wolff. Deshalb soll auch Hamilton den Rückzug des Einspruchs gewünscht haben. Er wolle nicht am grünen Tisch Weltmeister werden, hieß es in der britischen Presse. Wolff dagegen erklärte, man habe in allen Schritten gemeinsam so entschieden. Vom ersten Protest in Abu Dhabi, dem angekündigten Einspruch und dem Rückzug, so Wolff. Letzteres trotz Überzeugung, gewinnen zu können. wie nah an Berufung? "Wenn das vor Gericht gegangen wäre, wäre es fast eine Garantie gewesen, dass wir gewonnen hätten", meint Wolff.

Wolff: Gebe mein Maximum, um Hamilton zu helfen

Aber: "Weder er noch wir wollen eine WM im Gerichtssaal gewinnen." Dennoch sei es für Hamilton und Mercedes "unglaublich hart" gewesen, den Einspruch zurückzunehmen. "Denn uns wurde Unrecht getan", sagt Wolff. "In der Formel 1, der Königsklasse des Motorsports, eine der wichtigsten Sportarten der Welt, muss Gerechtigkeit gewahrt sein", poltert der Mercedes-Teamchef. "Meine Seele und mein Herz schreien mit jedem Knochen, dass es richtig hätte bewertet werden sollen und die gerichtliche Situation hätte uns Recht geben."

Nun gilt es, irgendwie damit klarzukommen. Für Wolff wie Hamilton. "Ich gebe das Maximum, was ich kann, um ihm zu helfen, darüber hinwegzukommen", sagt Wolff. "Damit er stark zurückkommt - mit Liebe für den Sport und Vertrauen in die Entscheidungsfindung." Letztlich erwartet Wolff also keine Abkehr Hamiltons von der Formel 1. "Als Racer wird sein Herz ihm sagen, weiterzumachen. Denn er ist auf der Höhe seines Schaffens", sagt Wolff. "Aber wir müssen eben über den Schmerz hinwegkommen, dem er am Sonntag ausgesetzt war."

Da fällst du vom Glauben ab

Leicht werde das nicht. Immerhin sei Hamilton der nahezu sichere WM-Titel nach einem überlegenen Rennen buchstäblich in der letzten Sekunde genommen worden. "Da fällst du natürlich vom Glauben ab, weil nicht nachvollziehbar ist, was gerade passiert ist", sagt Wolff. Hinzu komme das Gefühl der Hilflosigkeit. Wolff: "Ich werde niemals vergessen, was ich in dieser letzten Runde gefühlt habe. Nämlich die totale Exponiertheit, die Wehrlosigkeit. Ich war in meinem ganzen Leben nie wehrlos, außer als Kind. Und plötzlich bist du einer Situation ausgesetzt, die dich fassungslos macht, die du nicht ändern kannst, wie in einem totalitären System und das gegen jede Regel. Das auch für mich eine neue Erfahrung."

Hamilton selbst sei hin und hergerissen gewesen. Der Ritterschlag sei da genau richtig gekommen. "Erst der Frust am Montag, aber dann diese unglaubliche Anerkennung seiner Lebensleistung mit dem Ritterschlag. Ich habe ihm gesagt, er soll diese paar Stunden, in denen seinem Lebenswerk und seinen Leistungen gehuldigt wird, jetzt auch als positive Momente mitnehmen", sagt Wolff. "Und das hat er gemacht, denke ich. Man hat gesehen, wie toll das für ihn war."

Jetzt wolle Mercedes versuchen, sogar Motivation aus diesen Vorfällen zu ziehen. "Wir werden stärker zurückkommen nächstes Jahr, das motiviert uns als Team", sagt Wolff. "Und wir können es auch nutzen, um den Sport zu verbessern. Es ist nicht das Ende der Welt und wir verfallen nicht in eine kollektive Depression."