932 Tausendstel. Fast eine ganze Sekunde war Mercedes im 1. Freien Training zum US GP in Austin schneller als Max Verstappen im Red Bull. Für viele war der Verlauf des Wochenendes schon klar. Der Bestzeit von Sergio Perez im 2. Training wurde nicht mehr viel Beachtung geschenkt, weil Lewis Hamiltons Bestzeit aufgrund von Tracklimits gestrichen wurde.

Selbst nach der Perez-Bestzeit im 3. Freien Training war man im Mercedes-Lager noch einigermaßen guter Laune. Das sollte sich aber schnell ändern. Am Samstagnachmittag holte Max Verstappen Pole, am Sonntag siegte der Red-Bull-Pilot auch noch. Wie konnte das passieren?

Viele führten nach der 180-Grad-Wendung die Bodenwellen als Erklärung heran. Mercedes gab zu, nach dem 1. Training am Setup gebastelt zu haben. Der F1 W12 saß zu stark auf dem welligen Circuit of the Americas auf. "Es gab kein großes Problem", meint Hamilton. "Wir sind bei dem Setup rausgekommen, mit dem wir auch angefangen haben. Da lag das Problem nicht."

Wo aber dann? Wie konnte Mercedes binnen eines Tages mehr als eine Sekunde auf Red Bull verlieren? "Wir haben das Ruder rumgerissen, wir haben von Freitag auf Sonntag ein besseres Setup gefunden", meint Verstappen.

Mercedes dreht Motoren im 1. Training auf

Das allein ist aber nur die halbe Wahrheit. "Ich glaube, Mercedes hat die Motoren im 1. Training schon relativ hart rangenommen und aufgedreht", mutmaßt Red Bull Teamchef Christian Horner. Mercedes bestätigt diese These. Trotzdem sah man sich noch gut gerüstet. "Auch wenn wir wussten, dass wir die Motoren schon aufgedreht hatten, dachten wir, dass wir in guter Verfassung wären", gesteht Mercedes' leitender Streckeningenieur Andrew Shovlin.

Red Bull machte Schritte beim Setup, Verstappen bekam seine Runden zusammen, die Strecke und die Bedingungen veränderten sich leicht. Plötzlich war Mercedes im Hintertreffen. Trotzdem stellte Hamilton den Benz im Qualifying noch auf Platz zwei. Ein starker Start brachte ihm sogar die Führung.

Verstappen hing Hamilton im 1. Stint im Getriebe, Foto: LAT Images
Verstappen hing Hamilton im 1. Stint im Getriebe, Foto: LAT Images

Im ersten Stint sah es aber stark danach aus, als hätte Red Bull das klar bessere Rennauto. Verstappen konnte Hamilton rundenlang im Getriebe hängen, ohne sich die Reifen zu ruinieren. In Runde zehn dann Red Bulls Geniestreich: Überraschend früh kommt Verstappen zum Boxenstopp, wechselt von Medium auf Hard.

Dass der Undercut Erfolg hat, war sofort klar. Schon die ersten Sektoren zeigten, dass Hamilton die Führung nun verlieren würde, wenn er an die Box kommt. Verstappen musste auf den frischen harten Reifen sofort Gas geben: Nur eine schnelle Outlap würde garantieren, dass der Undercut funktioniert. Dabei musste er auch noch Daniel Ricciardo im McLaren überholen.

Perez zwingt Hamilton zu früherem Stopp

Mercedes sah das Unheil kommen und versuchte, das beste aus der Situation zu machen. Konkret bedeutet das: Die Position ist ohnehin verloren. Indem man Hamilton noch länger draußen lässt, kann man ein größeres Reifen-Delta kreieren. Verstappens Stopp war extrem früh. Wenn der Niederländer am Ende mit den Reifen zu kämpfen hat, kann Hamilton seine deutlich frischeren Pneus möglicherweise nutzen, so die Denkweise der Mercedes-Strategen.

Der Plan ging nur bedingt auf. Denn Sergio Perez erwischte sein stärkstes Wochenende des Jahres. Weil Red Bull Perez in Runde zwölf ebenfalls zum Reifenwechsel holte, musste Mercedes nachziehen. Die Gefahr, dass Hamilton nach seinem Stopp hinter Perez fällt, war zu groß.

Drei Runden Reifen-Offset hatte sich Mercedes nun mit der Führung und knapp sieben Sekunden Rückstand erkauft. Ein teurer Tausch. Doch schnell wurde klar, dass Hamilton auf den harten Reifen deutlich konkurrenzfähiger war als auf den Mediums. Nach und nach knabberte er am Rückstand, fuhr bis auf gut zweieinhalb Sekunden an Verstappen ran.

Dann reagierte Red Bull, holte Verstappen in Runde 29 erneut, um einen Undercut von Hamilton zu vermeiden. Die nächsten Runden sollten für den WM-Leader entscheidend werden. Diesmal ging es nicht darum, sofort schnell zu fahren. Auf den frischen Hards ging es darum, den Vorsprung auf Hamilton eher konstant zu halten.

Verstappen streichelt harte Pirelli-Reifen

Verstappen fuhr zu Beginn des dritten Stints langsamer als zu Beginn des zweiten Stints. Obwohl das Auto bereits deutlich leichter war. "Man konnte sehen, dass er aus dem vorherigen Stint gelernt hat und seine Reifen nicht zu früh rangenommen hat", meint Mercedes Motorsportchef Toto Wolff.

Das war auch nötig. Perez war inzwischen abgeschlagen und konnte strategisch keinen Druck mehr auf Hamilton ausüben. Der Brite konnte somit das Reifen-Delta größer gestalten. In Runde 37, acht Runden nach Verstappen, holte sich Hamilton frische C2-Reifen ab.

Als Hamilton in Riesenschritten näher kam, konnte Verstappen nachlegen. Er hatte sich genügend Reifen für den Schlusssprint aufgehoben. Durch die Überrundung von Mick Schumacher wurde es am Ende zwar noch richtig eng, dafür bekam Verstappen vom Haas-Piloten DRS spendiert, während Hamilton mit zugeklapptem Flügel auf die letzte Runde gehen musste.

Hätte, wäre, wenn: Hätten Hamilton ein paar mehr Runden gereicht? Schwer zu sagen. Überholen stellte sich in diesem Jahr auf dem Circuit of the Americas doch als schwerer heraus, als zunächst angenommen. Heranfahren ist das eine, vorbeifahren das andere.

Wie hätte Mercedes in Austin gewinnen können?

Trotzdem ärgerte sich Wolff nach dem Rennen: "Wir hätten dieses Rennen gewinnen können." Aber wie? "Wir hätten eine realistische Chance gehabt, wenn wir die Führung nach dem ersten Stopp behalten hätten. Das hätte bedeutet, das wir vielleicht schon in Runde acht hätten kommen müssen", rechnet Shovlin vor.

"Dafür hätten wir aber eine Glaskugel gebraucht. Denn wir hätten wissen müssen, dass wir auf den harten Reifen so viel besser sind. Wir wären niemals mutig genug gewesen", gesteht der Ingenieur.

Kurios: Hätte Mercedes vielleicht sogar bessere Chancen gehabt, hätte Hamilton den Start nicht gewonnen? Dann wären es wohl die Silberpfeile gewesen, die den Undercut getriggert hätten. "Max konnte direkt an uns dran bleiben auf den Mediums. Es wäre nicht klar gewesen, ob wir überhaupt im Undercut-Fenster bleiben hätten können", schränkt Shovlin ein.