Das Duell von Lewis Hamilton und Max Verstappen um die Formel-1-WM 2021 mündete in Monza in der zweiten großen Kollision, und resultierte diesmal im Ausfall beider Fahrer. Nachdem die Stewards beim ersten großen Crash in Silverstone noch Hamilton schuldig sprachen, muss diesmal Verstappen drei Strafplätze für das nächste Rennen einstecken.

Das löst einmal mehr große Debatten auf. Motorsport-Magazin.com bittet also Alexander Wurz, seines Zeichens Ex-F1-Pilot und Präsident der Fahrergewerkschaft GPDA, um seine Expertenmeinung.

Motorsport-Magazin.com: Die ganze Formel-1-Welt spricht natürlich nur über die eine Szene - wie hast du sie gesehen?
Alexander Wurz: Ich habe das die ganze Zeit schon gesagt, aber es ist offensichtlich: Wenn der Druck da ist, passieren auch Fehler. Wir haben bei den Boxenstopps Fehler gesehen, bei beiden Mannschaften. Und dann wollte es der Renngott irgendwie, dass die beiden immer zusammenkommen. Das haben wir in Silverstone schon gesehen. Und hier war einfach das Nadelöhr Schikane zu klein für die Brust und das Ego beider Piloten. Dann haben sie sich verhakt, und der Unfall ist passiert.

Wobei man auch anfügen muss, dass der Unfall nicht ungefährlich ist. Das ist oft der Fall bei diesem langsamen Tempo, wo das Auto dann von oben gerade herunterfällt. Das sieht ein bisschen komisch aus, ist aber nichtsdestotrotz sehr gefährlich. Aber jeder will natürlich wissen: Wer hat Schuld und wer hat nicht Schuld ...

Wurz beobachtet: Verstappen extrem aggressiv

Genau diese Frage hätte ich dir jetzt gestellt.
Wurz: Das habe ich gewusst, das sehe ich in deinen Augen, du brennst schon auf die Antwort! Ich muss sagen, ich habe bis jetzt die Onboard von Lewis noch nicht gesehen. Wenn ich im Stewards-Raum sitzen würde, dann würde ich mir das genau anschauen. Wie ist sein Augenwinkel, sein Gaspedal, sein Lenkrad? Wusste er, hat er es absichtlich gemacht oder nicht? Nichtsdestotrotz bin ich ein großer Fan von 'let them race'.

Sie hätten den Unfall eigentlich beide verhindern können. Ich würde ihn als Rennunfall abschreiben, würde aber, wenn ich mich prozentual festlegen müsste, Max mehr Schuld zuweisen. Mehr als 50 Prozent bei Max. Das war schon extrem aggressiv. Er war so einen Meter hinten, fast die ganze Rechtskurve lang. Du musst wissen, dass dieser Sausage-Kerb da ist, und dass du auf dem nicht einlenken kannst.

Der kritische Moment: Verstappen geht der Platz aus, er fährt auf den Kerb, Foto: LAT Images
Der kritische Moment: Verstappen geht der Platz aus, er fährt auf den Kerb, Foto: LAT Images

Der hat ihn ausgehebelt?
Wurz: Ganz genau. Mit einem Oldschool-Kerb wäre das gutgegangen, er hätte durchdrehende Räder gehabt. Durch diesen Wurst-Kerb hat es dann so unglücklich ausgesehen, und auch dramatischer, als der Rad-an-Rad-Kontakt eigentlich gewesen wäre. Aber der Kerb ist da, der war immer da, den musst du miteinkalkulieren.

Wurz bleibt bei Rennunfall: Hamilton & Verstappen beides Verlierer

Verstappen hätte den Unfall aber verhindern können? Er hat alles gesehen. Hamilton hatte, wahrscheinlich weil es ein bisschen hinter ihm passiert ist, keinen so guten Überblick. Hätte Verstappen nicht einfach geradeaus über den Kerb fahren können?
Wurz: Lewis wusste glaube ich schon, dass Max da ist. Aber jetzt kommt das absolut Interessante, und das ist ganz wichtig zur Beurteilung: Wie beurteilen die Stewards den Checo Perez? Weil Checo Perez gemeinsam mit Leclerc um die Kurve fährt, er ist rechts, und er sagt, ich verhindere einen Unfall, kürze ab, und er wurde dafür bestraft. Also gibt man eigentlich hier schon der Red-Bull-Mannschaft ein Argument, um zu sagen: He, wir wollten nicht bestraft werden, [Verstappen] versucht auf der Strecke zu bleiben, aber der andere hat ihm nicht genügend Platz gelassen.

Ich würde dieses Checo-Perez-Urteil - dass er bestraft worden ist - verwenden, wenn ich Red Bull wäre, um zu sagen: [Verstappen] versucht auf der Strecke zu bleiben. War er auch, weil das Reglement sagt, du musst mit mindestens einem Rad auf der weißen Linie sein. Das war er auch - okay, da war eben der Kerb - aber der andere hat keinen Platz gelassen. Das wäre jetzt meine Argumentation aus Red-Bull-Sicht.

Red Bull sagt das auch, aber kann man da nicht entgegenhalten, dass man den Unfall mit Abkürzen verhindern kann, und sich dann zurückfallen lassen kann?
Wurz: Hundertprozentig. Aus der Mercedes-Sicht sage ich, der Lewis war innen, rutscht raus - genauso wie Max Verstappen in der ersten Runde rausgerutscht ist und Lewis rausgedrückt hat, so war der Lewis innen. Er kämpfte gegen die Fliehkraft, das muss [Verstappen] wissen. [Hamilton] kann sich nicht in Luft auflösen und enger in die Rechts einlenken. Deswegen war so wenig Platz. Es ist dann aus Mercedes-Sicht die Schuld von Max. Unter dem Strich komme ich darauf zurück: Rennunfall, beide haben heute verloren dadurch.

Wurz warnt vor überregulierter Formel 1: Das ist Emotion pur

Du hast die erste Runde schon angesprochen: Hamilton hat nachgegeben, Verstappen nicht. Kann man das so sagen?
Wurz: Ah ... im Groben kannst du das so sagen, nur dann beginnst du das wieder millimetergenau zu analysieren. Das ist die Frage: Müssen wir, sollen wir als Formel 1 da überhaupt hin? Speziell wenn wir auch vom Dachverband diese Auflage haben: Let them race. Tun wir nicht überregulieren? Wo gehobelt wird, fallen Späne. Heute sind viele Karbonspäne gefallen, aber es ist natürlich auch diese Emotion und Stimmung, die hochkommt, wenn die Autos nahe zusammen sind, die Performance da ist, und das ist Sport und Emotion pur. Da brauchen wir nicht mehr viel ans Künsteln denken, wenn wir solche Rennen haben. Dann ist das sensationell.

Natürlich wird jeder die Schuldzuweisung anders sehen, aber unter dem Strich ist es extrem spannend. Du schaust in die Emotionen der Fahrer hinein, und die sind bei beiden irgendwie durchgegangen in den paar Rennen, die wir schon gesehen haben. Silverstone, hier - und wir werden noch mehr sehen.

Jetzt hast du auf der einen Seite 'let them race', aber auf der anderen Seite: Der Unfall war nicht ungefährlich. Silverstone war auch alles andere als ungefährlich. Wie sieht es jetzt mit der Zukunft aus? Ist es nicht klar, dass da keiner nachgeben will?
Wurz: Nein, natürlich. Und die Sicherheit geht immer vor, aber deshalb haben wir so tolle Sicherheits-Teams und fantastische Forscher im Hintergrund, die auch jetzt nicht warten und rasten, weil wir den Halo haben. Da kommt so viel mehr noch auf uns zu, und diese Schritte sind sehr wichtig, damit man eben rennfahren lassen kann. Um ein bisschen geschützter sein, wenn etwas passiert.

Aber die passive Sicherheit kann nicht die einzige Lösung sein? Irgendwo hat die auch ihre Grenzen.
Wurz: Natürlich. Aber das ist immer ein schmaler Grat, und der ist nicht immer einfach zu definieren.

Eskalationsgefahr? Wurz glaubt an Vernunft

Du hast keine Angst, dass das einmal komplett eskaliert?
Wurz: Na ja, du musst auf die Vernunft der Fahrer hoffen. Wenn einer wirklich durchdreht, dann kann immer etwas passieren. Aber ich denke einmal, dass beide so halbwegs wissen, was sie wollen, und nicht suizidgefährdet sind. Nichtsdestotrotz, die Spannung ist da und wird immer größer, je näher wir in Richtung WM-Ende kommen. Ab jetzt beginnt jeder Punkt noch mehr zu zählen. Ich würde sagen, es ist angerichtet für Spannung. Und ich hoffe nicht, dass es zu gefährlich wird, sondern dass es noch im Rahmen eines akzeptablen Limits bleibt. Aber die Ellenbogen sind ziemlich weit draußen, das ist klar.

Hat der Halo heute wieder ein Leben gerettet? Oder ist das zu einfach, wenn man das so sagt?
Wurz: Es ist ein bisschen zu einfach, wenn man das so sagt. Denn wenn eine Kraft von oben direkt auf den Helm einwirkt, könnte das schon in einem bestimmten Fall funktionieren - so etwas kenne ich aus der Forschung zu Helmen und dem HANS-System. Allerdings würde ich das gar nicht gerne testen wollen. Dass der Halo schon beim ersten Aufprall da war, wo er so von rechts drüber ist, und beim nächsten Mal Drauffliegen. Das würde ich lieber ohne Halo nicht testen wollen. Sind wir froh, dass er da ist. Als einige im Fahrerlager gesagt haben, dass er der Tod der Formel 1 wird - das ist er absolut nicht. Er ist das Leben von Romain Grosjean, und vielleicht auch von Lewis. Wollen wir es nicht testen, aber ich glaube, es hat sich bewiesen, dass es ein guter Schritt war.