Ein 'umlaufender Bruch der Innenschulter' hält die Formel-1-Welt in Atem. Aber es waren nicht unbedingt die Baku-Reifenschäden von Max Verstappen und Lance Stroll an sich, die in den letzten Tagen für große Verwunderung in der Königsklasse des Motorsports sorgte. Es war viel mehr die Erklärung, die Pirelli in einer knappen Presseaussendung gab.

Die Einsatz-Bedingungen, so hieß es von den Italienern, wären für die Reifenschäden verantwortlich. Eine Erklärung, die nicht allen schmeckte. "Das ist sehr vage", bemängelte Verstappen am Donnerstag vor dem Frankreich GP.

Vor allem, da so zwischen den Zeilen eine Anklage mitschwang: Die Teams hätten sich nicht an die von Pirelli vorgegebenen Einsatz-Bedingungen gehalten. Red Bull ärgerte sich über die Presseaussendung so sehr, dass man umgehend ein eigenes Statement schickte. Darin hieß es, man habe sich an alle Vorgaben des Reifenherstellers gehalten.

Am Donnerstagabend stand Pirellis Formel-1-Chef Mario Isola Rede und Antwort. Nach zahlreicher Kritik seitens der Fahrer wird es nicht bei einer Pressekonferenz bleiben: "Ich gehe am Freitag ins Fahrerbriefing und werde ihnen die Antworten geben, die man in ein paar Zeilen in einer Presseaussendung nicht geben kann."

Formel-1-Teams bei Pirelli-Vorgaben im Graubereich

Der Teufel liegt im Detail. Die Formel-1-Teams nutzen alle Graubereiche aus, die ihnen das Reglement erlaubt, um die Reifendrücke so niedrig wie möglich zu halten. Denn niedrige Drücke vergrößern die Auflagefläche der Reifen, was zu mehr Grip und folglich zu besserer Performance führt.

"Wir haben nicht gesagt, dass Teams etwas gemacht haben, was nicht erlaubt ist", stellte Isola noch einmal - und deutlich - klar. Obwohl die Reifendrücke mancher Teams in Baku während dem Rennen unter den von Pirelli erwarteten Werten lagen: "Denn wenn sie den Start-Druck einhalten, bewegen sie sich momentan im Rahmen des Reglements."

Pirelli schreibt den Teams drei Einsatzparameter vor: Mindestreifendrücke, maximale Sturzwerte und maximale Temperaturen der Heizdecken. Der Reifendruck wird aber eben nicht während der Fahrt gemessen - zumindest nicht von Pirelli und der FIA. Die Teams messen selbst, kochen jedoch bei den Reifendrucksensoren ihr eigenes Süppchen. Eigentlich sollten 2021 Standard-Sensoren kommen. Durch die Pandemie wurde die Einführung der 18-Zoll-Pneus und damit auch der einheitlichen Sensoren verschoben.

Von Pirelli und der FIA wurde der Reifendruck daher bislang nur vor dem Einsatz überprüft. Hier stand die Tür für Trickser sperrangelweit offen, denn je heißer die Pneus sind, desto höher ist der Druck, und umgekehrt. Indem man also mit der Reifentemperatur spielte, konnte man den Druck nach der Messung für das Rennen senken - und sich trotzdem im Rahmen des Reglements bewegen. Wer die Einstiegshürde passiert hatte, der hatte nichts mehr zu befürchten. Egal, wie der Druck danach aussah. Eine ganze Armada an Tricks wurde aufgeboten, um das auszunutzen.

So will Pirelli den Tricks der Formel-1-Teams Herr werden

In einer Technischen Direktive, die schon ab Frankreich in Kraft tritt, werden nun möglichst viele Lücken im Reglement geschlossen. Sieben Seiten lang ist der verzweifelte Versuch, die fehlenden Messungen während der Fahrt durch striktere Maßnahmen auszugleichen.

Die Maßnahmen sind vielfältig: Mit einem einheitlichen Infrarotthermometer werden nun die Reifentemperaturen an unterschiedlichen Stellen überprüft. Man traut den Heizdeckensystemen nicht mehr. Auch bei der Füllung der Reifen ist man skeptisch: Seit längerer Zeit sind nur noch Umgebungsluft oder Stickstoff erlaubt. Die neuen Regeln sehen auch Mechanismen vor, die den Teams das 'Tunen' der Füllung durch Feuchtigkeit oder Ähnliches verbietet.

Die erweiterten Pirelli-Vorgaben für Frankreich - die 'Cold Pressure Cooling Curves' zeigen, wie sich der Reifendruck bei fallender Temperatur verändert, Foto: FIA / Screenshot
Die erweiterten Pirelli-Vorgaben für Frankreich - die 'Cold Pressure Cooling Curves' zeigen, wie sich der Reifendruck bei fallender Temperatur verändert, Foto: FIA / Screenshot

Bei den Checks besteht die FIA nun teilweise auf ein Trennen der Heizdecken vom Stromnetz. Ausschalten allein genügt nicht mehr. Dazu wird nicht mehr nur vor dem Einsatz überprüft, sondern auch danach. "Es ist ein geschlossenes System, und die Luft, die vorher drinnen ist, muss auch nachher drinnen sein", erklärt Isola. Dafür gibt es nun genaue Vorgaben, unter welchen Bedingungen nach der Nutzung gemessen wird, wie sich der Luftdruck beim Abkühlen verhalten darf und so weiter. Dafür werden die einzelnen Ventile versiegelt.

Formel-1-Teams finden mit Reifen-Tricks mehrere Zehntel

Die vielen kleinen Tricksereien der Teams sollen nach Schätzungen von Experten dazu geführt haben, dass die Drücke in der Realität rund zwei PSI niedriger waren, als sie hätten sein sollen. Bei Startdrücken von rund 20 PSI sind das immerhin zehn Prozent. In Performance ausgedrückt sind das ein paar Zehntel pro Runde, so die Experten.

Zwei PSI entsprechen rund 0,14 bar. Was sich nicht dramatisch anhört, hat auf die Reifen gravierende Folgen. Niedriger Luftdruck verursachte bei den Reifen sogenannte 'stehende Wellen'. Die sind auf Zeitlupen-Aufnahmen oder auf Fotos teilweise gut sichtbar, weil sich die Seitenwände extrem verformen.

Diese stehenden Wellen sind dafür verantwortlich, dass die Seitenwand vom restlichen Reifen abbricht. Die Intensität der Wellen ist dabei nicht linear zum Luftdruck. Geringfügige Änderungen können katastrophale Folgen haben.

Red Bull und Aston Martin verlassen Reifen-Limits in Baku

In Baku führte eine Reihe von Faktoren zu den Schäden. Hinten links ist zwar die Belastung auf die Reifen nicht am höchsten, allerdings ist in der schnellen Rechtskurve vor der Zielgeraden der Sturz recht hoch. Durch höheren Sturz lastet mehr Kraft auf der Reifenkante. Gleichzeitig ist die Temperatur des weniger belasteten Reifen niedriger und dadurch auch der Luftdruck. Die Reifen brachen an der dritten Rille der Innenschulter auf.

Der kaputte Verstappen-Reifen in Baku, Foto: LAT Images
Der kaputte Verstappen-Reifen in Baku, Foto: LAT Images

Pirelli rechnete in Baku nicht damit, dass einige Teams die Lücken so exzessiv ausnutzen und dabei solche Arbeitsbedingungen erzielten. "Manche Teams lagen innerhalb unserer Erwartungen, andere nicht", so Isola.

Auf die stärkere Überprüfung in Frankreich will sich Pirelli nicht verlassen: Die Startdrücke wurden deshalb um 2,0 PSI erhöht. Auf der Vorderachse gelten in Le Castellet 21,0 PSI, auf der Hinterachse 21,5 PSI. Die Sturzwerte bleiben bei -3,50° vorne und -2,00° hinten.

Einigen Teams war die laxe Regelauslegung ohnehin ein Dorn im Auge. Sie forderten von der FIA schon seit Monaten Klarstellung. Erst die Reifenschäden führten nun dazu. Spannend wird, ob das Kräfteverhältnis dadurch beeinflusst wird. Red Bull und Aston Martin dürften ihre Prozedere auf jeden Fall anpassen müssen - auch wenn sie bislang nichts Illegales taten.