Nach dem dramatischen Highspeed-Reifenschäden im Formel-1-Rennen von Baku hat Reifenausstatter Pirelli kurz vor dem Frankreich-GP gemeinsam mit den Regelhütern der FIA die Untersuchung der Zwischenfälle abgeschlossen, und am Dienstagabend auch die Ursachen für die Reifenschäden mitgeteilt.

In Baku waren erst am Aston Martin von Lance Stroll, und dann am führenden Red Bull von Max Verstappen auf der Zielgeraden der linke Hinterreifen explodiert, woraufhin beide mit hoher Geschwindigkeit in die Betonwand abgebogen waren. Mutmaßungen von Trümmern erhärteten sich nicht, aber den Teams sprach Pirelli auch keine Schuld zu. Trotzdem wird die Überwachung der verpflichtenden Vorgaben verschärft. Verdachtsmomente kursieren.

Baku-Reifenschäden: Pirelli spricht Teams mit vagen Worten frei

Wie bei solchen Untersuchungen üblich verglich Pirelli die kaputten Reifen mit Exemplaren, die trotz ähnlicher oder längerer Nutzung unbeschädigt geblieben waren. "Der Prozess etablierte, dass es keinen Produktions- oder Qualitäts-Defekt bei den Reifen gab", so Pirelli in einem Statement, "und es gab auch kein Zeichen von Ermüdung oder Delamination."

Die Ursache der Schäden bei Verstappen und Stroll war ein durchgehender Riss der inneren Seitenwand. Wie genau dieser jedoch zustande kam, dazu gibt sich Pirelli vage. Es könnte an den Operations-Bedingungen liegen, mutmaßt man. Schränkt dann aber ein: Die aus Sicherheitsgründen vorgeschriebenen Mindest-Reifendrücke und die maximale Temperatur der Heizdecken sei eingehalten worden.

Die Teams trifft also im Sinne des Reglements keine Schuld. Pirelli gibt vor jedem Rennen Mindest-Reifendrücke an, die überprüft werden, wenn die Reifen ans Auto kommen. Red Bull ließ es sich nicht nehmen, in einem eigenen kurzen Statement die Unschuld zu unterstreichen: "Wir haben eng mit Pirelli und der FIA zusammengearbeitet [...] und können bestätigen, dass kein Schaden am Auto gefunden wurde. Wir haben Pirellis Reifen-Parameter durchgehend befolgt und werden auch weiterhin ihren Richtlinien folgen."

Am Mittwoch schob Aston Martin ein fast identisches Statement nach: "Wir können bestätigen, dass der Reifenschaden von keinem Fehler am Auto ausgelöst wurde. Das Team hat die Reifen immer im Rahmen der von Pirelli vorgegebenen Limits genutzt und wird das auch weiterhin tun."

Pirelli verkündet neue Reifen-Richtlinien für Frankreich

Wer aber war dann schuld? Hat Pirelli die Belastung in Baku falsch eingeschätzt und die Parameter falsch gesetzt? So einfach scheint es nicht - denn Pirelli impliziert mit einem Nachsatz, dass die Teams nicht ganz unschuldig seien: "Die FIA und Pirelli haben sich auf neue Protokolle geeinigt, einschließlich einer bereits ausgeschickten Technischen Direktive, um die Operations-Bedingungen während dem Rennwochenende zu überwachen, und sie werden weitere angemessene Maßnahmen überdenken."

Verstappen ließ seinem Frust an Pirelli nach dem Crash freien Lauf, Foto: LAT Images
Verstappen ließ seinem Frust an Pirelli nach dem Crash freien Lauf, Foto: LAT Images

Denn die Reifendrücke werden nur vor der Nutzung gemessen. Wenn das Auto fährt, können sie nicht mehr verlässlich überprüft werden. Das hinterlässt eine offensichtliche Lücke. Die Teams könnten mit einer langen Liste an Tricks nach der Messung Temperatur und Druck senken, und sich so einen Performance-Vorteil verschaffen.

Das macht Sorgen, und ab Frankreich soll hier mit umfangreichen Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Teams den Vorgaben durchgehend folgen. Per RaceFans.net sind darunter etwa strengere Richtlinien, was das Kühlen der Reifen nach der Messung angeht und wodurch der Druck fällt - wie beispielsweise durch ein vorzeitiges Entfernen der Heizdecken, was Teams im Qualifying in der Vergangenheit praktizierten.

Checks ausgewählter Reifen vor und nun auch nach den Sessions, sowie aller Reifen nach den Rennen, sollen kommen. Neue versiegelte Ventile sollen Tricks verhindern, Pirelli-Hochrechnungen sollen Rückschlüsse auf die Drücke während den Sessions erlauben. Wer so unter den festgelegten Mindestwerten erwischt wird, muss entweder den Druck erhöhen, oder wird für eine etwaige Strafe zu den Stewards geschickt. Auch die Temperatur soll öfter gemessen werden. Zu heiße Reifen könnten den Reifendruck für die Druck-Messung künstlich anheben.

Es ist bei weitem nicht die erste Kontroverse um Reifendrücke in der Formel 1. Pirelli gibt seit Jahren die Mindest-Drücke vor, nachdem die Teams sich nicht an Empfehlungen gehalten hatten. Der mögliche Vorteil ist zu groß. Die dramatischste Episode kam 2015 in Monza: Dort wurde Mercedes vor dem Start unter den Limits erwischt. Aber nur knapp, und nach dem Rennen folgte der Freispruch. Die Reifen waren zum Mess-Zeitpunkt deutlich kühler gewesen als die der Konkurrenz.