"Wie schlecht ist Mercedes?" So titelten wir in der Trainingsanalyse. Eine Frage per se kann nicht falsch sein mag man sagen, beim Fazit mag das allerdings anders sein. "Red Bull ist der Topfavorit in Baku. Im Qualifying können sich die Bullen nur selber schlagen. Mercedes muss am Samstag Schadensbegrenzung betreiben, um im Rennen in Lauerstellung zu sein. Im Renntrimm ist diesem Silberpfeil alles zuzutrauen." So lautete unser Resümee.

Schadensbegrenzung ist bei Mercedes Startplatz zwei. Und Red Bull konnte sich nicht nur selbst schlagen: Mercedes und Ferrari ließen die Bullen hinter sich. Das Mercedes-Comeback ist tatsächlich eine mittlere Sensation. Im letzten Versuch des 3. Freien Trainings fanden die Ingenieure das richtige Setup für Lewis Hamilton.

Formel-1-Rennen Baku 2021: Ausgangslage perfekt

Dazu durfte sich Hamilton auf seiner Runde über einen ordentlichen Windschatten freuen. Auch Pole-Setter Charles Leclerc wurde auf der langen Geraden gezogen. Verstappen fuhr im entscheidenden Moment keine perfekte Runde und hatte nicht ausreichend Windschatten. Der Unfall von Yuki Tsunoda verhinderte einen zweiten Versuch.

Für das Rennen ergibt das eine perfekte Ausgangssituation: Mit Charles Leclerc steht das vermeintlich langsamste Auto der Top-3 ganz vorne. Dahinter der Problem-Benz von Lewis Hamilton vor dem eigentlichen Favoriten Max Verstappen. Mit Pierre Gaslys AlphaTauri steht sogar ein viertes Team in der zweiten Startreihe. Das gibt es in der modernen Formel 1 nur noch selten.

Bricht der Ferrari im Rennen wieder ein?

Rennen und Qualifying sind aber unterschiedliche Disziplinen. Vor allem in Baku: Nirgends im Kalender ist der DRS-Effekt größer als am Kaspischen Meer. Im Qualifying darf der Flügel zweimal pro Runde aufgeklappt werden. Im Rennen hängt es von der Positionierung ab.

Das könnte Charles Leclerc das Leben an der Spitze besonders schwer machen: Wenn die Verfolger am Monegassen dranbleiben können, könnte der zum Opfer werden. Mit Windschatten und DRS dürfte Leclerc gegen Hamilton und Verstappen chancenlos sein.

Mercedes & Red Bull im Topspeed-Vorteil

Denn generell sollte der Ferrari keine Chance gegen Mercedes und Red Bull haben. Auf eine Runde konnte Leclerc die Performance seines Autos schon oftmals übertreffen. Über 300 Kilometer sortieren sich die Boliden eher nach ihrem Performance-Stand.

Der zeigte sich am Freitag im Longrun. Leclerc muss allerdings aus dieser Gleichung gestrichen werden. Nach seinem Abflug im Training fuhr er nur auf den Medium-Reifen und kam nicht mehr so recht in Tritt.

Longruns auf Soft

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeit
Verstappen1781:46,838
Perez1681:46,943
Sainz1541:47,400
Tsunoda1751:47,946
Alonso1891:47,970
Norris1481:47,979
Bottas1331:48,100
Gasly1451:48,151
Stroll1581:48,175
Giovinazzi1981:48,888
Schumacher831:50,457

Longruns auf Medium

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeit
Hamilton1681:47,187
Norris1021:47,785
Gasly1231:47,794
Ricciardo1351:47,828
Bottas1021:47,915
Räikkönen1681:48,439
Leclerc1861:48,716
Ocon1691:48,850
Russell1681:49,680

Longruns auf Hard

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeit
Vettel1351:48,080
Mazepin1181:49,583

Longruns: Ferrari weit hinter Red Bull & Mercedes

Die Zeiten von Teamkollege Carlos Sainz zeigten aber, dass Ferrari im Dauerlauf noch eine ganze Ecke auf den Klassenprimus Red Bull fehlt. Mercedes war im Longrun schon am Freitag deutlich schneller als auf eine Runde. Hat Mercedes das starke Rennauto für ein gutes Qualifying-Auto geopfert und das Setup entsprechend umgebaut?

In Monaco versuchte Mercedes alles, die Reifen sofort auf Temperatur zu bekommen. Die Kehrseite der Medaille: Im Rennen mutierte der schwarze Silberpfeil zum Reifenfresser. "Wir haben aber hier nicht mehr alles abgeklebt, um Temperatur in die Reifen zu bekommen", verrät Teamchef Toto Wolff.

Hat Mercedes Rennpace für Qualifying geopfert?

"Ich glaube, wir haben es besser verstanden", meint Wolff. Das betrifft nicht nur das Setup: Mercedes fuhr als einziges Team zwei Aufwärmrunden im Qualifying, um die Reifen auf Temperatur zu bekommen. Die Strategie ging - zumindest bei Hamilton - auf.

Trotzdem stehen hinter den Longrun-Peformances große Fragezeichen. Red Bull fokussierte sich auf den weichen Reifen, bei Mercedes testete nur Bottas den Soft-Pneu auf seine Langlebigkeit. Die Zeiten des Finnen waren unterirdisch. Auf Hamilton können diese Daten wohl nicht übertragen werden - wie auch das Qualifying und der Medium-Longrun zeigten.

Reifenverschleiß in Baku plötzlich Thema

Auf dem Medium-Reifen fuhr Hamilton der Konkurrenz komplett davon. Wie stark der Red Bull auf dem gelben Reifen ist, ist unklar. Kein Pilot konnte sich aber auf den Medium-Reifen für Q3 qualifizieren. Heißt: Auch die Top-Teams müssen auf den Soft ins Rennen gehen.

Das ist insofern interessant, weil Pirelli erstmals die weichsten Reifenmischungen mit nach Baku bringt. Eine Einstopp-Strategie sollte auch so die schnellste Variante sein, allerdings ist Reifenabbau und Verschleiß plötzlich ein großer Faktor auf dem Stadtkurs. Die Strategie könnte somit durchaus eine Rolle spielen.

Schützenhilfe von Perez und Bottas fragwürdig

Dabei müssen Hamilton und Verstappen womöglich ohne ihre Teamkollegen auskommen. Perez startet von Rang sechs, Bottas nur von Platz zehn. Wenn Hoffnung auf Hilfe besteht, dann bei Ferrari und Red Bull: Carlos Sainz startet von Platz fünf, Sergio Perez sollte von der Pace her eigentlich deutlich schneller sein. Die hohe Wahrscheinlichkeit auf das typische Baku-Chaos könnte zusätzlich zur Strategie-Lotterie beitragen.

Interessant könnte auch die Thematik rund um biegsame Heckflügel werden. Im Renntrimm, wenn DRS nicht immer geöffnet werden darf, bringt ein bis zum Exzess ausgereizter biegsamer Bügel einen größeren Vorteil. Nach dem Qualifying waren mit Mercedes und McLaren die beiden größten Kritiker noch auffallend ruhig.

Fazit: Die Pole Position von Charles Leclerc kam überraschend und glücklich. Im Rennen sollte Ferrari mehr Probleme haben. Aber wer ist dann Favorit: Hamilton oder Verstappen? Der Red Bull wäre unter normalen Umständen wohl das schnellere Auto gewesen im Qualifying. Aber der Mercedes ließ schon am Freitag seine Rennqualitäten aufblitzen. Prognose? Unmöglich.