Pro: Sebastian Vettel hat seinen Zenit überschritten

Als Fahrer mit vier WM-Titeln stehen Sebastian Vettels Fähigkeiten außer Frage. Doch Erfolge vergangener Tage sind in diesem Geschäft nichts weiter als Zahlen. Sie sind keine Garantie für anhaltende Leistungsfähigkeit und auch keine Immunität gegen Fehler oder Kritik.

Dass Vettel für seine schwache Form in Frage gestellt wird, liegt in der Natur der Sache. Warum sollten für einen Weltmeister andere Maßstäbe als für jemanden wie Romain Grosjean angesetzt werden? Dem Franzosen wurde aufgrund seiner hohen Fehlerquote über Jahre hinweg der Abschied aus der Formel 1 nahegelegt. Für Vettel gelten in diesem Spiel dieselben Regeln.

Wer im Profisport keine Leistung bringt, hat einen schweren Stand. Vettels Aus bei Ferrari war allein die Konsequenz seiner Performance. 2018 verspielte er seine Chance mit einem WM-fähigen Auto durch schlechte Entscheidungen auf der Rennstrecke. In der zweiten Saisonhälfte holte er sogar weniger WM-Punkte als Kimi Räikkönen, der an der Weltspitze schon lange abgemeldet war.

Danach stand er klar im Schatten von Charles Leclerc. Der Lehrling sollte sich im Top-Team zurechtfinden und seine Rookiefehler machen. Stattdessen deklassierte er seinen Teamkollegen, holte sieben Pole Positions und kämpfte regelmäßig um Siege. Etwas, das eigentlich die Aufgabe der hochbezahlten Nummer eins im Team war. Stattdessen zeigte Vettel die Fehlerquote eines Lehrlings und zerbrach mental an seinem talentierten Schüler.

Die neue Herausforderung hätte Vettels Stärken entfesseln können, doch das Gegenteil war der Fall. Er fiel in alte Muster zurück, aufgrund derer er bereits bei Red Bull gegen Daniel Ricciardo schlecht aussah. Dass Ferrari nicht mehr bereit war, für diese Vorstellungen das fürstliche Gehalt eines Champions zu zahlen, war eine wirtschaftliche Entscheidung - keine persönliche.

Seine bei Aston Martin scheinbar anhaltende Krise mag vielleicht ein Grund sein, mit dem Menschen Sebastian Vettel Mitleid zu haben. Doch um Mitgefühl für den Athleten Sebastian Vettel zu erwarten, ist Leistungssport nicht der richtige Ort.

Contra: Vettel wird es allen zeigen!

Sebastian Vettel ist zweifellos ein absoluter Spitzenfahrer und Ausnahmekönner. In der über 70-jährigen Geschichte der Formel 1 waren lediglich vier Fahrer in der Lage, mehr Weltmeistertitel zu gewinnen als der Heppenheimer. Geht es nach Siegen, waren sogar nur zwei Fahrer erfolgreicher (Lewis Hamilton und Michael Schumacher). Die Bestmarke als jüngster Weltmeister und Polesetter hält Vettel bis heute.

Vettel befindet sich aktuell in einem Formtief, aufgrund dessen er nicht sein volles Potenzial abrufen kann. Die Zeit bei Ferrari hat offensichtlich Spuren beim Heppenheimer hinterlassen. Dabei waren die Jahre bei Ferrari keineswegs erfolglos. Betrachtet man die Siege, ist er - nach Schumacher und Lauda - aktuell der dritterfolgreichste Ferrari-Fahrer. Das große Ziel - der Gewinn der Weltmeisterschaft - gelang indes nicht. Unbestritten hat Vettel mit einigen Fehlern auf der Strecke dazu beigetragen, dass die WM nicht gewonnen werden konnte.

Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass Ferrari nie in der Lage war, dem viermaligen Weltmeister konkurrenzfähiges Material auf dem Niveau von Mercedes zur Verfügung zu stellen. Dass nun ausgerechnet Mattia Binotto mit einem Seitenhieb auf Vettel aufwartet, indem er behauptet, mit Sainz und Leclerc endlich zwei Fahrer zu haben, auf die er sich verlassen könne, ist schäbig.

Binotto hat bei Ferrari seit 2019 nicht nur die sportliche Misere, sondern auch den Motorenskandal der Saison 2019 zu verantworten. Unter der Ägide von Binotto wurde Vettel zu Beginn der Saison 2020 auf unmögliche Art und Weise vor die Tür gesetzt. Dies wurde sogar von Ferrari Urgestein Luca di Montezemolo mit deutlichen Worten kritisiert. Der gesamte Vorgang zeigt eines ganz deutlich: Unter Binotto hat Vettel bei Ferrari nicht den Rückhalt erhalten, den er gebraucht hätte, um auf höchstem Level zu performen.

Der Rückhalt für Vettel dürfte bei Aston Martin wesentlich besser sein als bei Ferrari. Nach dem verkorksten ersten Wochenende in Bahrain nahm Teamchef Otmar Szafnauer seinen Starpiloten demonstrativ in Schutz. Beim ehemaligen Racing Point Team freut man sich ganz offensichtlich, den viermaligen Weltmeister als Zugpferd an Bord zu haben. Wenn Vettel sich an das neue Auto gewöhnt hat, werden sich die ersten Erfolge einstellen. Dass er das Rennfahren nicht verlernt hat, hat er in Bahrain im packenden Duell mit Fernando Alonso unter Beweis gestellt.