Formel 1 - was ist das überhaupt? Man könnte es sich einfach machen und sagen: Die schnellsten Fahrer der Welt sitzen in den schnellsten Autos und finden auf verschiedenen Rennstrecken heraus, wer der Beste ist. Aber da beginnt der Streit schon: Wer ist der Beste? Der Fahrer, der die meisten Punkte holt? Sitzt dieser Fahrer vielleicht nicht im besten Auto? Man kann diese Debatte ewig fortführen. Und auch über die Technik kann man vortrefflich philosophieren und debattieren. Vier Stewards wurden in der Saison 2020 von Renault genau dazu genötigt.

Tage-, sogar wochenlang und schlussendlich 14 Seiten lang argumentierten, debattierten und philosophierten sie darüber. Aber mit dem Ergebnis ist wieder niemand zufrieden: Weder der Angeklagte, noch der Kläger. Und noch nicht einmal die, die es eigentlich gar nicht so sehr betrifft. Deshalb wollten ursprünglich Racing Point, Renault und Ferrari bis vor das internationale Berufungsgericht der FIA gehen, um zu klären, wer denn nun Recht hat. McLaren und Williams wollten das eigentlich auch. Nachdem die Protest-Allianz immer weiter zerbrochen war, blieben am Ende nur noch Ferrari und Renault übrig, die ihre Einsprüche später ebenfalls zurückzogen.

Aber von vorne: Das Problem, das die Formel 1 in diesem Jahr beschäftigte, nahm schon vor gut zehn Jahren seinen Anfang. Nach der Übernahme von Jaguar und ein Jahr später auch von Minardi hatte Brause-Milliardär Dietrich Mateschitz plötzlich zwei Formel-1-Rennställe. Während der eine Stall einst Werksteam war, lebte das andere Team von der Hand in den Mund. Die Voraussetzungen der beiden Teams waren also von Grund auf unterschiedlich. Also wollte Red Bull Synergien nutzen. Und so baute Adrian Newey von 2007 an gleich zwei Autos: Den Red Bull und den Toro Rosso. Teilweise unterschieden sie sich nur im Motor. Red Bull hatte Renault-Power im Heck, Toro Rosso Ferrari.

Formel 1, Strafe erklärt: Punktabzug für Racing Point! (15:58 Min.)

2008 war das Konzept so erfolgreich, dass damit die Probleme begannen. Toro Rosso beendete die Saison nicht nur vor Red Bull, Sebastian Vettel gewann mit dem ehemaligen Minardi-Team sogar ein Rennen. Mit vergleichsweise geringem Budget landete Toro Rosso in der Konstrukteursweltmeisterschaft nur einen Platz hinter Toyota. Vettel landete in der WM sogar vor beiden Toyota-Piloten. Das Red-Bull-Modell war nun ein ernsthaftes Problem für die Formel 1.

Die Formel 1 reagierte und erstellte erstmals eine Liste, auf der Komponenten standen, die ein Rennstall selbst entwickeln und fertigen muss und nicht mehr von einem Konkurrenten kaufen darf. Die Listed Parts waren geboren. Diese Liste fand sich nicht im Regelwerk wieder, Artikel 6.3 des Sportlichen Reglements verwies lediglich auf die vollständige Liste, die sich im Concorde Agreement befand. Die aber war sehr umfangreich: Das Monocoque, alle Crash-Strukturen, Überroll-Strukturen, die vollständige Aerodynamik, Radaufhängung, sowie Benzin- und Kühlsystem.

Aus Toro Rosso musste ein komplett neues Team werden, um in der Formel 1 antreten zu dürfen. Doch die nächsten Jahre waren für die Formel 1 nicht einfach: Die 'neuen' Teams gingen so schnell wieder, wie sie gekommen waren. Der Sport wurde zu teuer. Und so machte der Regelhüter eine kleine Rolle rückwärts: Die Listed Parts wurden in das Sportliche Reglement aufgenommen und etwas beschnitten.

FIA erweiterte Listed Parts zur Saison 2020

Bis 2019 umfasste die Liste nur noch vier wesentliche Bestandteil: Das Monocoque, die vordere Crash-Struktur - also die Nase -, die Überrollstrukturen und sämtliches Bodywork - also die Aerodynamik. All jene Teile darf ein Rennstall nicht von einem Konkurrenten kaufen. Fast alles, was sich aber unter der Verkleidung befindet, darf zugekauft werden. Auch das gesamte Fahrwerk. Zum Fahrwerk zählt per Definition auch die Bremsbelüftung, die aber auch ein elementares aerodynamisches Element ist. Vor allem Renault störte sich daran, dass die Bremsbelüftungen zugekauft werden dürfen.

"Ein Team wendet rund 20 Prozent seiner Windkanalzeit für die Bremsbelüftungen auf, es ist also kein kleines Teil", erklärt Teamboss Cyril Abitboul. Die Franzosen störten sich so sehr an dieser Regelung, dass sie genügend Teams davon überzeugten, das Bauteil in die Listed Parts aufzunehmen. Seit 2020 dürfen auch die Bremsbelüftungen nicht mehr zugekauft werden.

An dieser Stelle spezialisiert sich der Streit zwischen Racing Point und Renault. Racing Point ist seit vielen Jahren treuer Mercedes-Kunde. Vorgänger Force India bezog seit 2009 Motoren und Getriebe aus Brixworth. In der Zwischenzeit hat sich das Zukaufsortiment erweitert. Als Racing Point bei den Testfahrten 2020 erstmals mit dem neuen Auto ausrückte, tobte die Konkurrenz. Der RP20 sieht dem Vorjahres-Mercedes zum Verwechseln ähnlich.

Renault reichte es nun: Während der französische Konzern jedes Jahr Unsummen für die Entwicklung mäßig erfolgreicher Autos investiert, kopiert der kleine Rennstall aus Silverstone für verhältnismäßig kleines Geld das schnellste Auto im Feld und fährt damit deutlich schneller. Das erste Rennwochenende sah sich Renault das pinke Spektakel noch an, eine Woche später beim Steiermark GP legte Renault schließlich Protest ein.

Doch gegen was genau protestierte Renault? Der RP20 entspricht dem Technischen Reglement in jedem einzelnen Punkt. Renaults Protest fußte auf dem Sportlichen Reglement, auf ebenjenen Listed Parts. Dabei suchte sich Marcin Budkowski, zuvor FIA-Technikchef und seit 2018 Renaults Formel-1-Direktor, genau jene Teile aus, die er zuvor mit aller Gewalt auf die Liste brachte: Die Bremsbelüftungen.

Das Bauteil ist komplexer als es auf den ersten Blick scheint: Eine Bremsbelüftung besteht aus rund 50 Einzelteilen. Es geht nicht nur um die Öffnungen, die von außen ersichtlich sind, es geht auch um die Luftführung innerhalb der Felge. Letztendlich wird nicht nur die Bremsentemperatur dadurch reguliert, sondern auch die Temperaturen von Radträger, Felge und schlussendlich auch Reifen. Dazu kommt der große aerodynamische Einfluss.

Stewards müssen eher Philosophen als Detektive sein

Renault zweifelte daran, dass Racing Point die Mercedes-Bremsbelüftungen nur mit öffentlich zugänglichen Informationen so genau nachbauen konnte - und traf damit wissentlich einen wunden Punkt im Reglement. Denn Racing Point behauptete nie, die Radträger ausschließlich mit Fotografien nachgebaut zu haben, so wie große Teile des restlichen Autos. 2019 durfte sich Racing Point die fraglichen Teile noch komplett legal von Mercedes kaufen. Das eigene Design basierte letztlich auf den Teilen, die sich die Ingenieure legal vom Konkurrenten besorgten. "Die Stewards müssen hier eher Philosophen als Detektive sein", sagte Nikolas Tombazis, Budkowskis Nachfolger bei der FIA als Technik-Chef. Denn es geht darum, ob man Wissen, das man 2019 legal erwarb, 2020 einsetzen darf - auch wenn es streng genommen nicht das geistige Eigentum ist.

Nikolas Tombazis ist der Technik-Chef der FIA, Foto: LAT Images
Nikolas Tombazis ist der Technik-Chef der FIA, Foto: LAT Images

Für die Stewards wurde dieser Fall zur Philosophiefrage innerhalb einer Philosophiefrage. Die große Frage lautet: Was ist die DNS der Formel 1? Konstruieren oder Kopieren? Autos bauen, oder nur einsetzen? Die philosophische Detailfrage lautet: Dürfen 2020 Teile eingesetzt werden, die technisch völlig in Ordnung sind, ganz strenggenommen aber nicht von dem Rennstall entwickelt wurden, der sie letztlich auch einsetzt. Das Auto wurde jedoch im Jahr 2019 entwickelt, als die Information noch legal vom Konkurrenten erworben werden konnte.

400.000 Euro Strafe für Racing Point und 15 Punkte Abzug in der Konstrukteurs-WM. Für die einen ist es ein mildes Urteil, für die anderen eine drakonische Strafe. Renault bemängelt vor allem, dass Racing Point die (nach technischem Reglement einwandfreien) Teile weiterhin einsetzen darf und den Performance-Vorteil weiterhin hat. 15 Punkte seien außerdem zu wenig, die Franzosen fordern eine Disqualifikation. Racing Point entgegnet, man habe überhaupt nichts falsch gemacht. Man habe eine Grauzone des Reglements ausgelotet und nicht mehr. Am Ende war das Urteil wohl weder mild, noch drakonisch: Es war salomonisch. Man hat sich in der Philosophiefrage positioniert und ein Zeichen gesetzt, dass die Formel 1 nicht aus Kopieren besteht. Man hat Racing Point aber gleichermaßen am Leben gelassen.

Die Strafe ist ein Schuss vor den Bug. Denn so ganz astrein war die Vorgehensweise wohl nicht. Während die gekauften Teile an der Vorderachse schon 2019 eingesetzt wurden, passten die Mercedes-Teile nicht auf den letztjährigen Racing Point. Weil 2020 das gesamte Auto kopiert wurde, passten nun auch die hinteren Bremsbelüftungen. Racing Point hat 2019 also ein Teil gekauft, das man gar nicht brauchte - nur in Hinblick auf 2020. Dazu gab es auch noch einen Transfer physischer Teile von Mercedes Richtung Racing Point - am 06. Januar 2020.

Kopierte Teile nichts Neues

Racing Point, Renault und Ferrari wollten in die nächste Instanz gehen, da hatte McLaren und Williams ihre Berufungen zurückgezogen. Warum? Weil es ihnen eigentlich nicht um diese spezielle Detailfrage ging. Dass Bauteile den Status ändern und vom einen auf das andere Jahr zu den Listed Parts gezählt werden, ist nicht das große Problem. Die Formel 1 muss sich wieder der großen philosophischen Frage stellen: Wie viel kopieren ist erlaubt?

Ein Problem, dass so akut ist wie Ende der 2000er. Mit dem Einstieg von Haas fing das Problem 2016 von vorne an. Streng genommen schon 2015: Denn damals nutzten Ferrari und Haas eine Lücke im Reglement aus. Haas war für Ferrari 2015 noch kein Konkurrent und umgekehrt. Der US-Rennstall fuhr erst 2016 in der Formel 1. Deshalb war der Debüt-Bolide von Gene Haas eine legale Ferrari-Kopie.

Seither kann man die Formel-1-Teams in drei Kategorien einordnen: Große Werksteams wie Mercedes oder Ferrari, Privatiers wie Williams oder McLaren und kleinere Rennställe, die möglichst viele Teile von den Werksteams kaufen - wie Haas oder Racing Point. Böse Zungen behaupten, dass Haas und Konsorten mehr sind als einfache Kunden. Das Wort 'Satellitenteams' wird gerne verwendet. Sie beschränken den eigenen Entwicklungsaufwand auf ein Minimum. Will die Formel 1 Konstrukteure oder Einsatzteams?

Wirtschaftlich macht es durchaus Sinn, Synergien so gut wie möglich zu nutzen. Die exorbitanten Kosten in der heutigen Formel 1 zwingen die kleinen Teams fast dazu. Aber es ist ein schmaler Grat: Was ist kaufen, was ist kopieren? Die B-Mannschaften oder Satellitenteams begeben sich zudem in Abhängigkeit der Großen. Ein politisches Ungleichgewicht entstand.

Neues Level durch Reversed Engineering

Der Detailstreit hat die große Frage wieder auf den Radar der FIA gebracht. "Kopieren gab es immer in der Formel 1", erklärt Tombazis und stellt klar: "Aber Racing Point hat das mit Reverse Engineering auf ein komplett neues Level gehoben. Man darf sie nicht dafür bestrafen, dass sie in ihrer Herangehensweise originell waren, aber wir denken, dass das nicht die Formel 1 ist, wie sie sein sollte. Wir wollen keine neun Mercedes-Kopien im Feld."

Deshalb wird es schon im 2021er Reglement Änderungen geben. Nicht bei den Listed Parts, sondern bei der Art und Weise, wie kopiert werden darf. Wie konkret diese Regelung aussieht, steht zum Redaktionsschluss noch nicht fest. (Der Artikel stammt aus der 74. Ausgabe der Printausgabe von Motorsport-Magazin.com die am 03. September 2020 erschien.)

Die Botschaft ist aber klar: Die Formel 1 soll auch eine Meisterschaft der Konstrukteure sein. Im Technischen Reglement für 2022 gibt es bereits eine Vielzahl von Kategorien für die unterschiedlichen Teile. Die Listed Parts bleiben, darüber hinaus gibt es aber weitere Klassifizierungen: Einheitsteile, Teile mit vorgeschriebenem Design, transferierbare Komponenten und Open Source Komponenten. Allein dieser Teil des Reglements umfasst acht Seiten. Bislang hat Anhang 6, der die Listed Parts regelt, drei Seiten. Außerdem ist der Abschnitt 2022 nicht mehr länger Teil des Sportlichen Reglements, sondern des Technischen.

Wie sich bei der Racing-Point-Strafe zeigte, eine nicht zu vernachlässigende Änderung. Die große Hoffnung beruht aber auch auf dem Finanziellen Reglement, spricht der Budgetobergrenze: Die Schere zwischen Arm und Reich soll nicht mehr so stark klaffen. Außerdem werden zugekaufte Teile auch mit einem Nominalwert vom Budget abgezogen. Eigene Entwicklung soll sich wieder mehr rechnen.

Alles zu Mick Schumachers Formel 1-Einstieg! MSM Ausgabe 76 (02:21 Min.)

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