George Russell hat bei seinem ersten Formel-1-Rennen im Mercedes Blut geleckt. Das britische Nachwuchstalent steht für 2021 zwar bei Williams unter Vertrag, doch seine Ambitionen sind nicht erst seit dem Sakhir GP andere. Der hofft, Mercedes-Teamchef Toto Wolff mit seiner Performance genüg Gründe gegeben zu haben, die Pläne des Weltmeister-Teams noch einmal zu überdenken.

"Was Toto angeht, habe ich ihm hoffentlich Kopfschmerzen bereitet, und zwar nicht nur für 2022, sondern schon für davor", so Russell, der bei seinem Auftritt als Ersatz für Lewis Hamilton in Bahrain seinen Status als Supertalent Nachdruck verlieh. In 36 Grands Prix für Williams gelang ihm kein einziges Mal der Sprung in die Punkte. Seine Reputation wurde vor allem durch seine Erfolge auf der Karriereleiter genährt.

Nach Titeln in der GP3 Series und der Formel 2 fehlte Russell in der Königsklasse ein Gradmesser. Robert Kubica war nach acht Jahren Auszeit in Folge seiner schweren Verletzung weit von seinem Level entfernt, auf dem er vor dem Rallye-Unfall im Jahr 2011 unterwegs war. Rookie Nicholas Latifi galt ohnehin nie als Überflieger und wird seinem Ruf als Paydriver in vielerlei Hinsicht gerecht.

Russells Reputation profitiert von Bottas-Duell

Als Teamkollege von Valtteri Bottas änderten sich die Dinge für Russell. Die Pole Position nur um zwei Hundertstelsekunden gegen den Stammfahrer zu verlieren und diesem dann im Rennen um die Ohren zu fahren, war das Aha-Erlebnis, dass dem 22-Jährigen in seiner F1-Laufbahn bis dato gefehlt hatte.

"Es war schön, in dieser Position zu sein und das Rennen anzuführen. Vorne zu sein ist etwas, das ich sehr lange nicht mehr erlebt hatte", so Russell, der seinen letzten Sieg beim Formel-2-Finale 2018 in Abu Dhabi feierte. "Irgendwann gegen Rennhälfte lag ich acht Sekunden vor Valtteri. Ich dachte mir: das ist zu gut um wahr zu sein. Und wie sich herausstellte, war es zu gut um wahr zu sein."

Ein misslungener Boxenstopp und ein Reifenschaden brachten ihn um alle Chancen auf den Sieg. Sky-Experte Ralf Schumacher ließt sich bei einem Medienevent des Pay-TV-Senders zu einer gewagten These hinreißen. "Was da bei Mercedes los war, ich weiß nicht, ob das Zufall war. Ich finde, da kamen ein paar viele Zufälle zusammen, weil es auch einfach schön ist, das andere Mercedes-Team [Racing Point] in der Meisterschaft vorne zu sehen", so der Bruder von Rekordweltmeister Michael Schumacher.

Ungeachtet dieser Verschwörungstheorie wäre es zum Zeitpunkt des Boxenstopp-Desaster ohnehin schon zu spät gewesen, den Hype um Russell zu stoppen. Er hatte genug getan, um seinem Standing in der Formel 1 einen gehören Boost zu verschaffen. "Das hier ist eine Leistungsgesellschaft und ich hoffe, dass dieses Wochenende mein Ansehen zementiert hat", sagt er.

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Williams kann Russells Siegeshunger nicht stillen

Für ihn ist die Rechnung einfach. Wenn er das Potential des Weltmeistersautos ausschöpfen kann, sind auch die bisher im Williams gezeigten Leistungen höher zu bewerten: "Es war ein großartiges Wochenende der Bestätigung, womit ich sagen will, dass ich bei Williams dieses Jahr wahrscheinlich auch einen sehr guten Job gemacht habe."

Vor einigen Wochen machten Gerüchte die Runde, dass Sergio Perez ihn mit dem Budget seiner mexikanischen Unterstützer aus dem Cockpit in Woking verdrängen könnte. An Mercedes war für Russell zu diesem Zeitpunkt nicht einmal im Traum zu denken. Seine Motivation war einzig und allein der Weg mit Williams. "Als Fahrer willst du zwar immer gewinnen, aber du willst vor allem aus deinen Möglichkeiten das bestmögliche Resultat herausholen", sagt er.

"In meinen 18 Monaten mit Williams hatten wir ein paar fantastische Rennen, in denen wir auf P12 oder P14 ins Ziel gekommen sind. Das ist für uns fast wie ein Sieg, in der Position, in der wir sind. Oder wenn wir uns für das Q2 qualifizieren, ist das für uns eine Pole Position. Die Euphorie, die ich von solch einer Performance bekomme, ist immer noch riesig. Aber letztendlich ist gewinnen auf einem ganz anderen Level", so Russell.

Russell bei Mercedes fast am Ziel?

Nachdem er mit dem Traditionsrennstall durch die Krise gegangen war, machten ihm die Investitionen der neuen Teambesitzer Hoffnung, 2021 endlich im Mittelfeld kämpfen zu können. Durch seinen unverhofften Einsatz für Mercedes ist er seinem ultimativen Ziel, eines Tages für das Top-Team zu fahren, schneller als erwartet ganz nahe gekommen.

"Mercedes hat mich seit Ende 2016 unterstützt. Sie haben meine Karriere sehr eng begleitet. Hoffentlich war das nur der nächste Schritt für mich", hofft Russell, dass die Vorstellung in Bahrain seine Karriere beschleunigen wird. Sollte Hamilton für das Finale in Abu Dhabi nicht rechtzeitig fit erklärt werden, bekommt in wenige Tagen seine zweite Chance im Weltmeister-Boliden. "Am besten ist es, die Taten auf der Rennstrecke für sich sprechen zu lassen", so Russell.

Doch selbst wenn es ihm gelingen sollte, den entwischten Sieg nachzuholen, so bleibt Wolff seiner Linie treu. Für 2021 gibt es bei Mercedes nicht zu rütteln. "Ich sehe das im Moment nicht als realistisches Szenario", sagt er mit Blick auf einen Schock-Wechsel von Russell zum Top-Team. "Vielleicht passiert es in der Zukunft. Aber wir müssen erst abwarten, was die Zukunft bringt. Ehrlich gesagt habe ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, was das für uns heißt."

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