Bis Runde 62 sah beim Sakhir GP in Bahrain alles nach einem Doppelsieg für Mercedes aus. Mit George Russell, der das Rennen komfortabel vor Valtteri Bottas anführte, bahnte sich sogar eine kleine Sensation an. Doch dann ging alles schief - in doppelter Ausführung.

Mercedes schickte Russell mit zwei Reifen von Valtteri Bottas auf die Stecke. Das hatte nicht nur katastrophale Folgen für den Briten, sondern auch für Bottas. Motorsport-Magazin.com arbeitet das Boxendrama auf: Wie konnte es dazu kommen? Warum kam Mercedes mit einer Geldstrafe davon? Wie ging es am Boxenfunk zu? Die große Analyse.

Bottas und Russell qualifizierten sich auf den Medium-Reifen für das Rennen. Darauf kamen sie im ersten Stint 45, respektive 48 Runden weit, ehe beide auf die harten Reifen wechselten. Damit war klar: Mercedes fährt den Sakhir GP mit einem Stopp durch.

Als ausgerechnet Russell-Ersatz Jack Aitken am Ausgang der Zielkurve die Kontrolle über seinen Williams verlor und dabei seinen Frontflügel auf der Strecke liegen ließ, wollte die Rennleitung die Szene mit einer VSC-Phase lösen. Weil der Flügel direkt auf der Ideallinie lag, musste in Runde 62 schließlich doch das Safety Car ausrücken.

Mercedes: Keine Angst vor Boxenstopps

Russell befand sich genau an der Boxengasse, als die Safety-Car-Phase ausgerufen wurde. Mercedes reagierte sofort und holte den Youngster zum Boxenstopp. "Ja, wir hätten bis zum Ende durchfahren können. Im Nachhinein wäre es natürlich brillant gewesen, das so zu verhindern", meint Andrew Shovlin. Der Mercedes-Chefingenieur verteidigt aber die Entscheidung: "Als Rennteam darfst du keine Angst vor einem Boxenstopp haben."

Mercedes holte nicht nur Russell zum Stopp, sondern auch Bottas, der direkt dahinter lag. Man wollte einen sogenannten Double Stack durchführen. Schon der Stopp von Russell war etwas langsamer als gewöhnlich, aber nicht beunruhigend. Bottas musste nur kurz warten, ehe er an der Reihe war.

Valtteri , Foto: LAT Images
Valtteri , Foto: LAT Images

Schnell wurde klar, dass etwas nicht nach Plan lief. Die Mechaniker wechselten seine harten Reifen zunächst gegen Mediums. Dann kamen die Mediums wieder runter und die harten Pneus, die soeben erst abgenommen worden waren, wurden wieder montiert. Rund 27 Sekunden dauerte der Spaß. Zwischenzeitlich fing sogar noch Bottas vordere linke Bremse zu brennen an.

Bottas erstes Opfer des Boxendramas

Bottas kam also an die Box, musste sich kurz hinter Russell anstellen, blieb anschließend selbst 27 Sekunden stehen und fuhr auf den gleichen Reifen weiter, auf denen er zum Stopp gekommen war. Weder dem neutralen Zuschauer, noch Bottas selbst war zunächst klar, was da passiert war. Die Reifen wurden so hektisch hin und her getauscht, dass es in Echtzeit gar nicht auffiel, dass der ursprüngliche Satz wieder montiert wurde.

Weil Mercedes nur mit einem Satz Hard pro Fahrer ins Rennen gegangen war, war das aber eigentlich klar. Auch Bottas war verwirrt: "Was sind das für Reifen?", wollte er direkt nach dem Stopp wissen. "Du bist zurück auf den harten Reifen, sie sind wieder drauf", bekam er als Antwort ins Cockpit gefunkt.

Bottas ungläubig zurück: "Sag nochmal: Welche Reifen sind das?" Sein Renningenieur Riccardo Musconi ganz ruhig: "Valtteri, ich denke die harten Reifen, auf denen du zuvor warst, sind wieder am Auto." Bottas fragte nach: "Warum?" Eine Antwort bekam er nicht: "Das diskutieren wir später." Einen Kommentar konnte sich der Finne daraufhin nicht verkneifen: "Was zur Hölle war das?"

Russell muss nochmal zum Stopp

Während Bottas für nichts zum Stopp kam und zwei Position verlor, behielt Russell zunächst die Führung. Die Hiobsbotschaft für ihn kam aber sehr schnell: Eine Runde nach dem Stopp in Runde 62 musste er noch einmal zum Reifenwechsel kommen. Der Grund: Mercedes hatte die Reifen vermischt. Auf der Vorderachse hatte Russell Bottas' Medium-Pneus montiert, auf der Hinterachse seine eigenen.

Fahrerisch wäre das egal gewesen, aber die Regeln erlauben das nicht. Jedem Fahrer werden vor dem Wochenende bestimmte Reifen zugelost. Nicht einmal die Sets eines Fahrers untereinander dürfen bis zum Ende der Qualifikation durchgemischt werden. Entsprechend ist es auch verboten, die Reifen eines anderen Fahrers zu montieren.

Weil Mercedes das Problem sofort nach Russells Stopp erkannt hatte, kam es bei Bottas zur großen Verwirrung. Man wollte nicht auch noch den Finnen mit den falschen Reifen losschicken. Denn der hätte dann seinerseits zwei Reifen von Russells Satz bekommen.

Als man das realisierte, montierten die Mercedes-Mechaniker den Medium-Satz wieder ab. Das Problem: "Die Pitcrew kann nicht miteinander kommunizieren, weil sie keine Funksender haben", erklärt Shovlin. Die Pitcrew kann nur Nachrichten empfangen. Deshalb konnten sie das Problem untereinander nicht lösen.

Der Kommandostand musste also eine Entscheidung treffen. "In dieser Situation kannst du dann keine sinnvolle Konversation führen. Deshalb haben wir uns entschieden, Valtteri auf den Reifen zu lassen, auf denen er war, nur um ihn schnell aus der Box zu bekommen", so Shovlin.

Mercedes' Funksystem setzt falsche Prioritäten

Die alles entscheidende Frage aber lautet: Wie konnte es zur ersten Reifenverwechslung kommen? "Wir hatten noch nicht genügend Zeit, ein komplettes Verständnis dafür zu bekommen, aber wir haben eindeutige Beweise", erklärt Shovlin. "Es hängt damit zusammen, wie das Radiosystem Nachrichten priorisiert."

Hier kann die Pitwall wählen, wer angefunkt werden soll, Foto: LAT Images
Hier kann die Pitwall wählen, wer angefunkt werden soll, Foto: LAT Images

Die sogenanten Intercoms der Teams sind komplexe Anlagen. Auf den zahlreichen Knöpfen an der Boxenmauer können die Teamverantwortlichen unterschiedliche Gruppen des Teams einzeln anfunken. Nicht alle Teammitglieder müssen die gesamte Radiokonversation mithören. Genauso wie der Fahrer nicht alles mitbekommen. Es muss aussortiert und priorisiert werden.

"Wenn Ron [Meadows, Teammanager] die Crew anruft, dass sie die Reifen für einen Boxenstopp herrichten sollen, muss diese Nachricht priorisiert werden", erklärt Shovlin. "Es ist das wichtigste, dass die Reifen da sind. Das ist wichtiger, als wenn ein Fahrer etwas sagt oder sonst jemand aus dem Team. Aber es scheint, als hätte das System entschieden, eine andere Mitteilung zu priorisieren."

Mercedes Teammanager Ron Meadows ist für die Kommunikation mit der Pitcrew zuständig, Foto: LAT Images
Mercedes Teammanager Ron Meadows ist für die Kommunikation mit der Pitcrew zuständig, Foto: LAT Images

Deshalb hörte nur ein Teil der Crew die richtige Meldung. "Der Rest hat den Schlüsselteil verpasst", so Shovlin. Aus dem Urteil der Stewards geht auch hervor, welcher Funkspruch priorisiert wurde: Der von George Russell.

Hier spielt auch die extrem kurze Runde des Außenkurses eine Rolle. Die Teams haben weniger Zeit, Entscheidungen zu treffen. Als die Safety-Car-Phase ausgerufen wurde, war Russell schon deutlich hinter der Zielkurve, direkt vor der Boxeneinfahrt. "Bleiben wir draußen?", fragte er aus Eigeninitiative. Genau diese Frage muss die entscheidende Anweisung der Pitwall an seine Boxencrew überschrieben haben.

Der Fehler muss in der Software liegen. Sie hat die Funksprüche in diesem kurzen Moment falsch priorisiert. "Das hätte immer passieren können. Irgendwann in den letzten Jahren oder beim ersten Rennen der nächsten Saison", meint Shovlin. Bitter für Russell, dass es ausgerechnet bei seinem Grand Prix passierte. "Wenn wir ein komplettes Verständnis haben, können wir das für Abu Dhabi lösen", verspricht Mercedes' Chef-Ingenieur.

Warum nur Geldstrafe für Mercedes?

Bleibt noch zu klären, warum Russell seinen achten Platz behalten durfte und Mercedes mit einer Geldstrafe von 20.000 Euro davonkam. Valtteri Bottas fuhr beim Belgien GP 2015 mit unterschiedlichen Reifenmischungen auf Vorder- und Hinterachse. Obwohl Williams den Fehler sofort behob, bekam er eine Durchfahrtsstrafe aufgebrummt - vom selben Chefstewards, der nun auf eine Geldstrafe entschied.

Die Fälle sind aber aus zwei Gründen unterschiedlich: Einerseits hat sich das Reglement geändert. Bis zum Bottas-Zwischenfall gab es noch keine genauen Regeln, was bei solch einem Vergehen zu passieren hat. In der Zwischenzeit wurde ein Artikel ins Reglement aufgenommen: Wenn Reifen vertauscht werden, muss der Fehler innerhalb von drei Runden behoben werden. Sonst gibt es eine Strafe.

Der zweite Unterschied lag darin, dass Russell nicht mit seinen eigenen Reifen, sondern mit denen eines anderen Fahrers fuhr. Das ist noch schlimmer, weil er dadurch am Wochenende mehr als seine zugewiesenen 13 Sätze nutze. "Normalerweise würde das eine sportliche Strafe bis hin zur Disqualifikation nach sich ziehen", schrieben die Stewards in ihrem Urteil.

Aber die Stewards um ihren Vorsitzenden Gary Connelly entschieden anders. Aus mehreren Gründen: Zum einen reagierte Mercedes sofort und Russell verlor durch den Fehler auch noch Positionen. Zweitens: Der Fehler führte auch zu Problemen bei Bottas, wodurch der Schaden für Mercedes noch beträchtlicher wurde.

Und drittens: Die Stewards verweisen auf den nach 2015 eingeführten Artikel. "Wir sehen das als ähnlich an", heißt es im Urteil geschrieben. Anschließend folgt die Empfehlung der Richter, auch diese Möglichkeit zukünftig ins Reglement aufzunehmen.