Die Formel-1-Rückkeher nach Istanbul war ein voller Erfolg. Der neue Null-Grip-Asphalt in Kombination mit Regen machte schon das Qualifying zum Spektakel. Das Rennen setzte dann noch einen drauf. Wie konnte Lewis Hamilton den GP gewinnen, obwohl er bei ähnlichen Bedingungen im Qualifying noch fünf Sekunden langsamer fuhr? Welche Rolle spielte Sebastian Vettel dabei? Und: Was geschah wirklich mit Lance Stroll? Die Motorsport-Magazin.com-Rennanalyse.

Es war der 94. Sieg in der Formel-1-Karriere von Lewis Hamilton. Auch wenn man sich nicht mehr an jeden einzelnen erinnern mag, es war eine seiner stärksten Vorstellungen. Im Qualifying musste er sich noch deutlich von Racing Point und Red Bull düpieren lassen. Mehr als fünf Sekunden fehlten ihm auf die Pole-Zeit von Lance Stroll.

Sein Rennen begann ähnlich unspektakulär. Zwar machte er auf den ersten Metern drei Positionen gut, doch die war er am Ende der Runde nach einem kleinen Fehler gleich wieder los. Hamilton hing auf Rang sechs fest, verlor in den ersten sieben Runden knapp 20 Sekunden auf Lance Stroll an der Spitze.

Hamiltons Rennen nimmt erst spät Fahrt auf

Auch als sich das Rennen nach den ersten Stopps auf den Intermediates-Reifen normalisiert hatte, machte Hamilton keinen Stich. Eine Position hatte er durch Max Verstappens Dreher zwar gewonnen, aber an Sebastian Vettel fand er trotzdem keinen Weg vorbei.

Der Rückstand auf die Spitze wurde zwar allmählich kleiner, das lag aber daran, dass Lance Stroll langsam Probleme mit seinen Reifen bekam. Hamiltons Pace war ordentlich, aber keineswegs beeindruckend. Zwischendurch musste er sogar etwas auf Vettel abreißen lassen.

"Es war so frustrieren, dass ich an Sebastian nicht vorbeigekommen bin. Er hat einen sehr guten Job gemacht, aber er stand mir im Weg, die Jungs vorne sind davongefahren. Und dann ist er mir plötzlich davongefahren und ich konnte den Sieg davonziehen sehen", so Hamilton.

Aber Hamilton erholte sich wieder, holte auf Vettel auf und hing im Getriebe des Ferrari-Piloten. Mehr ging aber noch immer nicht. Einen ernsthaften Überholversuch startet er nicht. In Runde 33 sollte sich das Rennen des Mercedes-Piloten schlagartig ändern, als Vettel zum Boxenstopp kam.

Vettel 9 Sekunden hinter Spitze

Zu diesem Zeitpunkt lag Vettel neun Sekunden hinter Stroll an der Spitze und eine Sekunde vor Hamilton. Weil sich Alexander Albon das Leben mit einem Dreher selbst schwer machte, hatte Hamilton nun freie Sicht auf die beiden Racing Point an der Spitze.

In Runde 34 lag Hamilton mit sechs Sekunden Rückstand auf Rang drei. Vorne hielt Stroll seinen Teamkollegen Perez auf. Als Stroll schließlich zum Stopp kam, hatte Hamilton nur noch gut eine Sekunde Rückstand auf den neuen Führenden Sergio Perez. Der Weltmeister machte kurzen Prozess mit dem Mexikaner und übernahm in Runde 37 die Führung, die er bis zum Rennende nicht mehr abgab.

Hamilton war lange Zeit nicht der schnellste Pilot im Feld, aber er war konstant, (fast) fehlerlos und schonte dabei noch seine Reifen. Zusammen mit seiner Erfahrung führte ihn das zur richtigen Entscheidung: Keinen zusätzlichen Stopp einlegen.

Obwohl die Pace nicht überragend war, sie war deutlich besser als am Samstag. Das ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Im Qualifying hatte er nur wenige Runden Zeit, die Reifen auf Temperatur zu bringen. Im Rennen brauchte er mit dem Warmup etwas, aber er bekam es schließlich hin.

Mercedes hilft Parc-ferme-Lockerung

Dabei halfen auch kleinere Änderungen an der Bremsbelüftung. Regnet es, darf trotz Parc-ferme-Bestimmungen das Setup der Bremsbelüftung verändert werden. Genau das machte sich Mercedes zunutze. Über die Bremsen werden die Felgen aufgeheizt, über die Felgen die Reifen. Plötzlich funktionierte das System.

Daran schließt sich die Frage an: Was ist mit Lance Stroll passiert? Und hätte Vettel - hätte er seinen Stopp nicht eingelegt - gewinnen können? Racing Point fand nach dem Rennen einen kleinen Schaden am Frontflügel seines Boliden. Der soll für das Untersteuern verantwortlich gewesen sein, das die Reifen killte.

Die Analyse klingt stark nach einer Rechtfertigung. Blickt man auf die Rundenzeiten vor seinem zweiten Stopp, war Stroll gar nicht so langsam. Seine Reifen gingen nicht ein. Aber die Konkurrenz wurde auf der abtrocknenden Strecke schneller.

Stroll wollte zunächst keinen zusätzlichen Stopp einlegen. Aber als Teamkollege Perez schon im DRS-Fenster anklopfte, musste er zum Reifenwechsel. Auf den frischen Reifen ging schließlich gar nichts. Er fuhr deutlich langsamer als auf den abgefahrenen Pneus.

Das zeigt, dass seine Reifen gar nicht so schlecht waren. Auch Hamilton hatte zwischendrin eine Phase, in der seine Intermediates nicht so gut funktionierten. Doch die Pirelli-Pneus erholten sich wieder vom Graining. Mehrere Fahrer berichteten am Sonntag von diesem Phänomen.

Racing Point wollte bei Stroll nicht abwarten. Deshalb musste er zum Stopp. Auf abtrocknender Strecke ging er mit frischen Intermediates gleich in die Vollen - und ruinierte die Reifen sofort. Dann kam er auch noch in den Verkehr. Der Vorteil von frischen Reifen brachte ihm gar nichts. Er fuhr auf P1 liegend direkt vor Sergio Perez in die Box und kam 40 Sekunden nach dem Mexikaner ins Ziel. Trotz des vermeintlichen Vorteils der frischen Reifen.

Hatte Vettel Siegchancen?

Und Vettel? Der fuhr knapp zehn Sekunden dahinter und direkt vor Hamilton liegend zum Reifenwechsel. Auf Hamilton hatte er ihm Ziel 30 Sekunden Rückstand. Perez hatte er komplett eingeholt.

Das zeigt, wie stark Hamilton auf alten Reifen war, als er endlich in frischer Luft fuhr und die richtige Temperatur hatte. Das Problem des Mercedes, die Temperatur nicht schnell generieren zu können, wurde über die Renndistanz zur Stärke.

Aber was wäre passiert, hätte Vettel nicht mehr gestoppt? Das ist die große Frage. Wäre Hamilton irgendwann vorbeigekommen? Unmöglich, eine Prognose abzugeben. Hätte Vettel Perez eingeholt? Auch das ist schwer zu sagen. Insgesamt war Vettel auf den Intermediate-Reifen schneller als der Mexikaner. Unmittelbar vor dem Stopp wurde Vettel aber etwas langsamer.

Fraglich auch, ob Vettels Reifen durchgehalten hätten. Vielleicht wären sie aber auch noch einmal zurückgekommen. Vielleicht hätte Vettel seinem Teamkollegen Charles Leclerc damit sogar einen Sieg beschert: Denn der konnte die Pace der frischen Intermediates als einer der wenigen Piloten richtig nutzen.

Weil Vettel auf den frischen Inters zunächst etwas zaghaft agierte, kam der Monegasse sogar vorbei, obwohl er vor dem zweiten Stopp noch 20 Sekunden hinter Vettel lag. Man stelle sich vor, Vettel wäre draußen geblieben und hätte Hamilton noch länger aufgehalten. Das Rennen hätte eine weitere Geschichte schreiben können. Welche, das ist unmöglich zu sagen.