Lewis Hamilton hat sich mit der Pole Position die beste Ausgangslage für das Formel-1-Rennen in Russland gesichert. Der Weltmeister auf dem ersten Startplatz macht zunächst wenig Hoffnung auf einen spannenden Kampf um den Sieg, doch die Vorzeichen sind lange nicht so klar wie der Blick auf die nackte Startaufstellung vermuten lässt. Der Qualifying-Crash von Sebastian Vettel könnte für Hamilton im Rennen noch teuer werden.

"Ich starte auf dem schlechtesten Reifen", ärgert sich Hamilton darüber, dass er im Gegensatz zu seinen Verfolgern Max Verstappen und Valtteri Bottas auf dem Soft-Compound ins Rennen geht. Im Q2 fuhren die Konkurrenten ihre schnellste Runde auf dem Medium-Reifen und sind im ersten Stint demzufolge auf einer anderen und mit hoher Wahrscheinlichkeit besseren Mischung unterwegs.

Hamilton hatte sich ursprünglich auch auf dem Medium-Compound versucht. Sogar zwei neue Reifensätze verheizte er im Q2. Seine erste Runde wurde aufgrund eines Verstoßes gegen die Track Limits gestrichen. Die zweite vereitelte die rote Flagge in Folge von Sebastian Vettels Unfall in Kurve fünf.

Hamilton mit Soft-Reifen im Nachteil

"Ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung war", bereut Hamilton den Einsatz eines zweiten Satz Medium im Qualifying. Durch seinen Longrun im 2. Freien Training und die beiden Runs im Q2 hat er bereits alle drei ihm zur Verfügung stehenden Sätze dieser Mischung benutzt. Damit sind ihm hinsichtlich der Strategie unter Umständen die Hände gebunden.

"Der C5 war eine ziemlich aggressive Wahl", so Pirellis F1-Chef Mario Isola über den Soft-Reifen. Am Freitag wurden in Erwartung auf einen ersten Stint mit dem unbeliebten Pneu fleißig Longruns gedreht. Hamilton war hauchdünn schneller als Bottas, doch auf die Renndistanz von 53 Runden wird er davon nicht lange etwas haben.

"Wir haben einen erheblichen Verschleiß festgestellt. Nach 15 Runden war der C5 komplett verschlissen, das hatten wir schon erwartet. Wenn sich jemand damit qualifiziert und darauf startet, dann kann ich mir vorstellen, dass er entweder zwei Stopps einplanen muss oder extrem managen muss, selbst wenn man dann im zweiten Stint mit dem Hard plant", so die Prognose von Isola.

Formel 1, Russland GP: Wie entging Hamilton einer Strafe?: (10:34 Min.)

Hamilton muss zweiten Boxenstopp vermeiden

Genau davor graut es Hamilton, denn Verstappen und Bottas haben mit Medium nicht nur im ersten Stint den längeren Atem, sie können mit einem zweiten Stint auf Hard auch mühelos eine Einstopp-Taktik umsetzen. "Ich weiß nicht, ob ich dadurch zwei Stopps machen muss - hoffentlich nicht, denn die Boxengasse ist hier sehr langsam", so der Champion.

Das Tempolimit in der Boxengasse beträgt auf dem Sochi Autodrom 60 statt 80 km/h. Ein kompletter Service kostet 25,6 Sekunden. Diese Zeit auf der Strecke rauszufahren, dürfte für Hamilton so gut wie unmöglich sein. Er will sich etwas einfallen lassen, um das Einstopp-Rennen mit allen Mitteln zu verhindern.

Verstappen auf Medium-Reifen schneller als Mercedes

In einer anderen in Sotschi entscheidenden Phase des Rennens könnte ihm der Soft-Reifen allerdings einen Vorteil bringen. Am Start hat er die bessere Traktion, was beim 900 Meter langen Run auf den ersten Bremspunkt hilfreich sein könnte. Hamilton selbst sieht sich trotzdem in einer verwundbaren Position.

"Die Autos haben in diesem Jahr besonders viel Luftwiderstand und der Windschatten ist stärker als in den letzten Jahren. Ich erwarte, dass einer der beiden an einem Punkt vorbeikommt", so seine Einschätzung. Dass die Verfolger angesichts des üppigen Windschattens mit den Hufen scharren, ist keine Überraschung.

2019 ging das Ferrari-Duo aus der ersten Reihe ins Rennen und Sebastian Vettel fuhr inklusive Stallorder mühelos noch vor dem ersten Anbremsen an Charles Leclerc vorbei. "Wenn wir morgen einen brauchbaren Start haben, ist der Windschatten so stark, dass man dann nicht wissen kann, was in Kurve zwei passiert", so Verstappen.

Der Niederländer hatte in Mugello einen bombastischen Start, doch nach wenigen Metern streikte der Honda-Motor im Heck seines Red Bull RB16. Nach zwei technischbedingten Ausfällen in Folge hofft Verstappen vor allem auf eines: "Zuallererst hätte ich gerne einen guten Start. Und mit einem guten Start meine ich, dass ich auch volle Power habe, wenn ich voll aufs Gas steige."

Im weiteren Rennverlauf sieht er sich auf dem Medium-Compound in jedem Fall in einer guten Position - und das nicht ohne Grund. Am Freitag fuhr er auf dieser Mischung im Longrun deutlich schneller als Hamilton. Fünf Zehntelsekunden nahm er dem Weltmeister ab und unterstrich damit einmal mehr Red Bulls starke Rennpace. "Für uns ist das auf jeden Fall der ideale Weg, um das Rennen zu beginnen", ist er optimistisch.

Bottas baut nach Katastrophen-Starts auf Strategie

Valtteri Bottas gab sich nach einem einmal mehr enttäuschenden Qualifying bedeckt. In den vergangenen Wochen musste er sich Hamilton am Samstag regelmäßig um nur wenige Hundertstelsekunden geschlagen geben. Die Hoffnungen ruhten vom zweiten Startplatz jedes Mal auf dem Start. Der gewünschte Erfolg trat nie ein. Im Gegenteil, schlechte Starts in Ungarn, Spanien, Monza und Mugello waren dieses Jahr sein größter Schwachpunkt.

In Sotschi spart sich Bottas deshalb die Prognosen für den Rennbeginn. Auf seiner Paradestrecke, auf der er 2017 seinen ersten Grand Prix gewann und 2018 auf der Pole Position stand, erlitt er eine seiner schwersten Qualifying-Niederlagen in der laufenden Saison. Über sechs Zehntel Rückstand auf Hamilton und dazu noch hinter Verstappen ließen nur noch Galgenhumor übrig: "Vielleicht habe ich ja nur Spielchen gespielt und wollte als Dritter starten."

Dass es aus der zweiten Startreihe wirklich klappen kann, weiß Bottas aus eigener Erfahrung. Seinen ersten Sieg holt er vom dritten Startplatz aus. Dieser Umstand gepaart mit dem Medium-Reifen macht ihm Hoffnung: "Ich glaube auch, dass ich die richtige Reifenstrategie habe. Ich bin hier schon mal von P3 ins Rennen gegangen und ihr erinnert euch sicher noch daran, wie das ausgegangen ist. Jetzt werde ich versuchen, das zu wiederholen. Noch ist alles drin."

Longruns Hard-Reifen

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeitGefahren gegen
Bottas19131:39.135Ende
Gasly1671.39.714Ende
Ocon1581:40.402Ende
Perez18121:40.510Ende
Stroll1861:40.613Ende
Vettel20101:40.705Ende
Giovinazzi22101:41.352Ende
Latifi27101:41.658Ende

Longruns Medium-Reifen

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeitGefahren gegen
Verstappen1671:39.546Ende
Hamilton18101:40.016Mitte
Leclerc1641:40.094Ende
Ricciardo1371:40.162Ende
Albon1651:40.206Ende
Räikkönen1871:41.023Ende
Russell2171:41.711Mitte
Magnussen1881:42.169Mitte

Longruns Soft-Reifen

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeitGefahren gegen
Hamilton1551:39.972Ende
Bottas1851:40.095Mitte
Perez1461:40.329Mitte
Ricciardo1491:40.617Mitte
Verstappen1471:40.638Mitte
Gasly1991:40.864Mitte
Leclerc1941:41.045Mitte
Stroll1571:41.093Mitte
Vettel1561:41.098Mitte
Ocon1381:41.229Mitte
Sainz18121:41.292Ende
Albon1571:41.308Mitte
Magnussen1461:41.388Ende
Norris1681:41.629Ende
Räikkönen151:42.111Mitte
Grosjean1471:42.241Ende
Giovinazzi1461:42.283Mitte