Racing Point und seine Kopie des Mercedes-Boliden aus dem Vorjahr ist zum Start der Formel-1-Saison 2020 das sportpolitisch mit Abstand größte Aufreger-Thema. Der Nachbau des Mercedes W10 aus 2019 erwies sich bei den ersten Saisonrennen als goldener Wurf. Racing Point hat sich mit dem ‚Pinken Mercedes’ vom Mittelfeld abgesetzt, nimmt es jetzt sogar mit Top-Teams wie Red Bull auf.

Die Kopie hatte bereits bei den Testfahrten den Argwohn der Konkurrenz erregt, so ging es nun auch weiter. So weit, dass Renault inzwischen gleich doppelt gegen die Legalität des Racing Point protestiert hat. Einmal nach dem Rennen in Österreich, einmal nach dem Ungarn GP am vergangenen Wochenende.

Philosophische Frage: Kann man Wissen vergessen?

Konkret hat sich Renault dabei auf die Bremsbelüftungen des RP20 eingeschossen. Die Franzosen zweifeln, dass Racing Point tatsächlich nur nachgebaut hat. Die Kernfrage dreht sich um eine Änderung bei den sogenannten ‚Listed Parts’. Das sind jene Teile, die ein Team in der Formel 1 selbst fertigen muss, also nicht bei Konkurrenten einkaufen darf. Die Bremsbelüftungen wurden für die Saison 2020 neu in diese Liste aufgenommen.

Racing Point designte den RP20 allerdings schon 2019. Somit stellt sich der FIA bei der Bewertung des Protests nun eine fast schon philosophische Frage: kann oder muss ein Team sein im Vorjahr gewonnenes Know-how wieder vergessen? Eine knifflige Frage.

Ross Brawn: Vergessen ist unlogisch

Das meint auch der ehemalige Technische Direktor der Scuderia Ferrari und heutige Sportchef des kommerziellen Rechteinhabers der Formel 1, Ross Brawn. „Vergangenes Jahr hatte Racing Point Zugang zu Mercedes-Bremsbelüftungen der 2019er Ausführung und durfte sie benutzen, weil sie kein Listed Part waren. Dieses Jahr sind Bremsbelüftungen Listed Parts, sodass du sie selbst designen musst“, erinnert der Brite in seiner aktuellen F1-Kolumne.

Aber Kenntnisse einfach wieder vergessen? Für Brawn illusorisch. „Gleichzeitig kann Racing Point nicht das Wissen vergessen, dass sie sich durch die Nutzung der 2019er Bremsbelüftungen von Mercedes angeeignet haben. Ich halte es für unlogisch, zu glauben, dass sie ihr Gedächtnis ausradieren können“, schreibt Brawn. „Es ist ein kniffliges Problem und an den FIA-Experten, es zu lösen.“

Brawn: In Formel 1 kopieren doch alle

Abgesehen von dieser Frage findet Brawn an dem Ansatz Racing Points, so viel wie möglich zu kopieren, nichts Anrüchiges. „Es gibt in diesem Paddock kein einziges Team, das nicht etwas von einem anderen kopiert hätte“, so Brawn. „Ich könnte jeden Technischen Direktor im Paddock fragen, die Hand zu heben, wenn er niemanden kopiert hat. Du würdest keine Hände sehen. Auch ich habe andere kopiert.“

Vielmehr scheint Brawn sogar eine gewisse Sympathie für das Team zu entwickeln - weil es Racing Point gelungen ist die ewige Zwei-Klassen-Gesellschaft der Königsklasse schon vor Einführung der Budgetgrenze ab 2021 zu durchbrechen. „In der Formel 1 gab es schon immer Teams, die über ihrer Gewichtsklasse gekämpft haben - und Racing Point ist das neueste Team, das das vollbracht hat. Sie haben das Wochenende [Ungarn] vielversprechend begonnen und ich bin sicher, dass sie enttäuscht sind, das nicht in ein Podium umgewandelt zu haben“, schreibt Brawn.

Neue Herausforderungen für Racing Point

Racing Point müsse sich an die neue Realität nun eben gewöhnen und den nächsten Schritt gehen. Brawn: „Wenn du an der Spitze bist, wenn du dich unter den großen Jungs befindest, dann bestraft jeder deine Fehler. Jedes Manöver und jede Entscheidung sind kritisch. Sie müssen sich daran anpassen, an der Spitze des Grids zu sein. Aber das selbst zeigt nur, wie weit sie diese Saison gekommen sind.“