Nichts ist mehr normal dieser Tage. Die Coronakrise hat auch die Formel-1-Welt weiter fest im Griff. Seit Wochen stehen inzwischen alle Teamfabriken still, respektive fertigen Beatmungsgeräte statt Querlenker oder Getriebegehäuse.

Bei McLaren fertigen zwischen 100 und 150 Mitarbeiter bis zu 20 Stunden am Tag die notwendigen Geräte, finanziert von der britischen Regierung. Es sind die glücklicheren Mitarbeiter in Woking: Als eines der ersten Teams beantragte McLaren Kurzarbeit, musste teilweise die Gehälter seiner Angestellten kürzen.

"Die Leute in Kurzarbeit zu schicken und der Belegschaft zu vermitteln, dass die Gehälter für bestimmte Zeit gekürzt werden müssen, war für mich selbst eines der schwierigsten Themen, die ich in meinen 20 Jahren im Motorsport erlebt habe", erzählt McLaren-Teamchef Andreas Seidl sichtlich geknickt.

Seidl sicher: McLaren überlebt auch im Worst Case

Der gemütliche Vollblutracer, im Videochat mit deutschen Journalisten - zum Unmut einiger - im Bayern-Trikot aus den heimischen vier Wänden zugeschaltet, spricht nicht um den heißen Brei herum: "Die finanzielle Lage ist angespannt. Aber Mit all den Maßnahmen, die wir im Team getroffen haben aber auch in Verbindung mit den anderen Teams, der FIA und der Formel 1, haben wir alles gemacht, um bestmöglich auf den Worst Case vorbereitet zu sein."

Worst Case, das heißt im Falle der Formel 1: Keine Rennen. Keine Rennen, kein Geld, so lautet die einfache Formel in der Finanzwelt der Königsklasse. Ausgaben haben die Teams aber dennoch - auch mit Kurzarbeit, gekürzten Gehältern und geschlossenen Fabriken. Seidl gibt sich optimistisch: "Ich gehe aber definitiv davon aus, dass wir die Krise überleben und im nächsten Jahr auch am Start sein werden."

McLaren: Comeback an der Spitze verschoben

Um akut Geld zu sparen, wurde die eigentlich für 2021 geplante Regel-Revolution um ein Jahr verschoben. Für McLaren ein zweischneidiges Schwer: "Es ist kein Geheimnis, dass wir großer Fan der neuen Regularien waren und sind, weil es uns auch auf unserem Weg weiter nach vorne in der Startaufstellung hilft. Gleichzeitig haben wir das Verschieben komplett unterstützt", so Seidl.

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Gemeinsam mit Budget Cap und neuen Regeln wollte McLaren eigentlich den Anschluss an die Spitzenteams schaffen. "Für uns gibt es durch die Verschiebung der Regularien definitiv eine Verzögerung auf unserer Reise zurück", glaubt Seidl und fügt an: "Aber nicht nur dadurch, sondern auch durch den Stillstand, den wir bei den verschiedenen Infrastrukturprojekten haben, die wir in Woking gerade vorantreiben." Der britische Traditionsrennstall baut derzeit einen eigenen Windkanal und einen neuen Simulator.

Seidl gibt sich - im Gegensatz zu seinen Vorgängern - aber gewohnt selbstkritisch: "Unabhängig von der Reglementdiskussion und von der Krise glaube ich, haben wir einen klaren Plan, den wir abarbeiten müssen, um in Zukunft ein besseres Team zu werden. Dieser Plan hat sich nicht geändert, den werden wir, sobald wir wieder zurück sind, unverändert angehen. Der größte Rückstand zu den Topteams resultiert nämlich nicht aus Budgets oder Regularien: Die Teams leisten einfach bessere Arbeit."

Trotzdem ist Geld ein großes Problem bei McLaren. Im Vergleich zu den drei großen Mercedes, Ferrari und Red Bull ist der Traditionsrennstall inzwischen ein kleiner Fisch. Deshalb sieht Seidl die Krise auch als Chance, die 2021 kommende Budgetobergrenze noch nach unten zu drücken.

Seidl kritisiert Formel 1: Probleme ignoriert

"Wir in der Formel 1 sind gewohnt, in unserer Blase grundsätzlich vieles zu ignorieren, was außen um uns herum passiert", kritisiert der 44-Jährige. "Wir haben lange Zeit ignoriert, dass wir im Endeffekt Jahr für Jahr durch die Teilnahme an der Formel 1 Geld verlieren. Ich hoffe, dass die die Krise, wenn man ihr irgendetwas Positives abgewinnen will, ein finaler Weckruf ist, dass wir dringend etwas ändern müssen. Wir müssen dahin kommen, dass die Formel 1 für alle Teilnehmer gesünder und nachhaltiger ist."

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Die astronomischen Budgets konnten durch Preisgelder und Sponsoren nicht mehr finanziert werden. Große Konzerne stopfen diese Lücke einfach, für Privatiers ist es schwieriger. Auch bei McLaren mussten die Besitzer ihre Taschen öffnen. Mit der angestammten Budgetobergrenze könnte das aufgrund der zahlreichen Ausnahmen auch weiterhin der Fall sein.

"175 Millionen sind nach wie vor sehr hoch", so Seidl. "Wir wären auch absolut einverstanden damit, und das ist die Richtung, in die wir pushen, auf 100 Millionen zu gehen. Es gibt noch immer genügend Ausnahmen, die das wirkliche Budget dann wieder deutlich in die Höhe treiben"

Formel 1 für 100 Millionen möglich?

Formel 1 für 100 Millionen: Geht das? Selbst die ganz kleinen Teams geben heute mehr aus. Doch Seidl glaubt fest daran: "Ich bin überzeugt davon, dass wir mit 100 Millionen weiterhin super Sport bieten könnten, nach wie vor die schnellsten Autos auf diesem Planeten hätten und nach wie vor in verschiedenen Bereichen Spitzentechnologie am Starten haben würden, was wichtig für die Formel 1 ist."

Inzwischen sehen auch die größeren Teams ein, dass gespart werden muss, die Frage ist nur: Wie viel? Zeigen vor allem Ferrari und Red Bull kein weiteres Entgegenkommen, sieht Seidl für die Zukunft der Königsklasse schwarz: "Mit dem aktuellen Status Quo laufen wir definitiv Gefahr, dass wir die Existenz einiger Teams gefährden und somit auch die der Formel 1. Denn es braucht nicht viele Teams, um die gesamte Formel 1 an den Rand des Abgrunds zu bekommen."

Gleichzeitig warnt der Bayern-Fan aber auch davor, zu viel zu ändern: "Show und Sport haben in den letzten Jahren funktioniert. Bei Rennformat und so weiter muss man vorsichtig sein und sich Zeit nehmen, um zu sehen, ob wir hier Veränderungen brauchen. Wir haben großartigen Sport zwischen den Topteams und im Mittelfeld gesehen."