"Es ist kein Rücktritt. Es ist ein Formel-1-Aus für das Jahr 2020", sagt Nico Hülkenberg vor dem Großen Preis von Brasilien 2019. Einen besseren Ort für diese bittere Bestätigung hätte es kaum geben können. Hier hatte Hülkenberg neun Jahre zuvor seinen größten Erfolg in der Königsklasse gefeiert. In seiner Debütsaison fuhr der damalige Williams-Pilot im Regen von Sao Paulo auf die Pole Position. Jetzt also das (vorläufige) F1-Aus an selber Stelle.

Alles überwältigende Emotionen kommen beim heute 32-Jährigen dennoch nicht auf. "Die Würfel sind jetzt eben so gefallen", kommentiert Hülkenberg das Ende aller Hoffnungen gewohnt cool. Gerade hatte Alfa Romeo Antonio Giovinazzi für 2020 bestätigt. Damit war für Hülkenberg die letzte Tür zugefallen und eine Rückkehr geplatzt. 2013 war der Emmericher ein Jahr lang Sauber gefahren. Eine andere Rückkehr ist zu diesem Zeitpunkt zwar noch möglich - zu Williams, jenem Team, mit dem alles einst so verheißungsvoll begonnen hatte -, doch hat Hülkenberg diesen Weg längst ausgeschlossen. "Ich bin nicht der richtige Fahrer für sie. Da, wo ich mich mit meiner Karriere befinde, und da, wo sie sind. Da passt, bei allem Respekt für das Team, das Timing nicht", erklärte Hülkenberg bereits in Austin.

Beim Großen Preis der USA, gemeinsam mit einigen Rennen davor und danach, strampelte der Emmericher in einem verbalen Hamsterrad. Immer wieder sah er sich derselben Frage ausgesetzt: "Wie geht es weiter, nachdem Renault Sie vor die Tür gesetzt hat, Herr Hülkenberg?" Genau das war gegen Ende der Sommerpause geschehen. Die Franzosen verkündeten, ab 2020 auf Esteban Ocon zu setzen. Weil Daniel Ricciardo langfristig unterschrieben hatte, stand Hülkenberg als Verlierer da. Sein Vertrag endete 2019.

Hülkenberg hatte bei mehreren Teams Optionen

Immerhin gab es zu diesem Zeitpunkt noch Optionen neben Williams. Red Bull, Haas, Alfa Romeo - alle hatten noch ein Cockpit für 2020 zu vergeben. Hülkenberg gab sich zuversichtlich. Zunächst machte sogar das Gerücht eines Wechsels zu Red Bull die Runde, die ebenfalls lange warteten, um den zweiten Fahrer neben Max Verstappen zu bestätigen. Das wäre endlich das erlösende Top-Team gewesen, das Hülkenberg für einige Beobachter längst verdient hatte.

Formel 1 2020: Wie geht es mit der F1 jetzt weiter?: (16:47 Min.)

Mit Titeln in Serie hatte Hülkenberg die Formel 1 schon hoch dekoriert geentert: 2003 deutscher Kart-Meister, 2005 Champion der Formel BMW-ADAC, 2007 A1 GP Champion, 2007 erfolgreich beim F3 Masters in Zolder, 2008 Formel-3-Europameister und 2009 Champion der GP2, damals Unterhaus der Formel 1. Der Aufstieg Hülkenbergs schien vorbestimmt. Noch heute ist die Wertschätzung für den Emmericher riesig, unter Experten wie Fahrerkollegen.

Über mehr als das kam Hülkenberg auf dem Papier allerdings nie hinaus. Zumindest nicht in der Formel 1. Sein Sieg bei den 24 Stunden von Le Mans mit Porsche brachte 2015 zwar noch mehr Lorbeeren, ließ Hülkenbergs Aktien auch in der F1 wieder steigen. Doch es wollte nicht klappen. Weder das absolute Top-Cockpit, noch der Durchbruch im Kleinen. Anders gesagt: dieses verflixte Podium! Tatsächlich hält Hülkenberg einen unrühmlichen Rekord. 176 Rennen startete der Emmericher bis Abu Dhabi, nicht eines davon beendete er auf dem Podium. In Singapur überholte Hülkenberg in dieser Disziplin 2017 den bisherigen Rekordhalter. Adrian Sutil schaffte es bei 128 Starts nie auf das Treppchen.

In der Saison 2006/07 vertrat Nico Hülkenberg Deutschland in der A1 GP, Foto: A1GP
In der Saison 2006/07 vertrat Nico Hülkenberg Deutschland in der A1 GP, Foto: A1GP

"Ich musste eine lange Zeit und sehr hart dafür arbeiten, um Adrian jetzt diesen Titel wegzuschnappen und jetzt selbst der Rekordhalter zu sein. Ich beende dieses Wochenende die Sutil-Ära, jetzt beginnt die Hülkenberg-Ära! Darauf freue ich mich sehr", sagte Hülkenberg damals selbstironisch. Im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com legte der Renault-Pilot eine Portion Sarkasmus nach: "Es ist auch eine Leistung ohne Leistung so lange in der Formel 1 zu sein, oder? Seien wir doch mal ehrlich! Keine Leistung und immer noch da!" Zudem habe er für den Rekord mindestens zwei dritte Plätze freiwillig hergegeben, scherzte Hülkenberg. "Vielleicht war der Letzte vergangenes Jahr in Monaco. Und dann kommt mir noch Brasilien 2012 in den Kopf", erinnerte Hülkenberg an zwei seiner bittersten Momente.

In letztem Fall hatte Hülkenberg bei Mischbedingungen länger geführt als jeder andere. Dann verlor er im Duell mit Lewis Hamilton das Heck seines Force India, kam nicht über Platz fünf hinaus. In Monte Carlo 2016 zeichnete er immerhin nicht selbst verantwortlich, ein Strategiefehler kostete das mögliche erste F1-Podest. Anders lief es beim Europa GP desselben Jahres. In Baku präsentierte sich Force India in wundersamer Form, war zweite Kraft hinter Mercedes. Doch Hülkenberg patzte im Qualifying, wurde im Rennen nur Neunter, während Teamkollege Sergio Perez das Podium eroberte.

Mehrmals knapp am Podest gescheitert

Hülkenberg blieb dieses ebenso verwehrt wie bei anderen aussichtsreichen Versuchen. Etwa 2014 in Bahrain. Wieder erzielte Perez ein Podest, Hülkenberg musste sich mit Platz fünf begnügen. Oder 2016 in Belgien (P4), 2013 mit Sauber in Italien (P5), Korea (P4) und in seiner ersten Force-India-Ägide 2012 in Belgien (P4).

Nico Hülkenberg wurde 2013 Vierter in Korea und ließ Lewis Hamilton hinter sich, Foto: Sutton
Nico Hülkenberg wurde 2013 Vierter in Korea und ließ Lewis Hamilton hinter sich, Foto: Sutton

Der Podest-Fluch des Nico Hülkenberg hielt bis zuletzt. Auch in seiner wohl vorerst letzten Saison in der Formel 1 vergab Hülkenberg eine Großchance. Im Regenchaos von Hockenheim spülte es Daniil Kvyat im Toro Rosso sensationell auf das Podium, Hülkenberg trotz seiner bekannten Regenstärke in die Streckenbegrenzung. Auf Platz vier liegend. Wieder hatte er aus lukrativer Position ein Podium weggeworfen. Eines zu viel?

"Hockenheim, das war bitter", sagt Hülkenberg. Tatsächlich reagierte Renault auf die verpasste Großchance auch für das von ausbleibenden Erfolgen geplagte Werksteam wenig begeistert. "Das hat auch für das nächste Jahr Konsequenzen gehabt", meint Hülkenberg. Fiel im Regen von Hockenheim also der berühmte letzte Tropfen, der der Fass zum Überlaufen brachte?

Viel länger dauerte es danach nicht bis zur Renault-Entscheidung für Ocon. Doch spielten dort noch andere Faktoren hinein. "Unterschiedliche Fahrer in verschiedenen Karrierephasen, kommerzielle Dinge, natürlich auch ein Nationalitäten-Faktor und ein paar andere Dinge", bilanziert Hülkenberg. "Vielleicht auch die etwas schwierige Saison, die wir dieses Jahr durchleben." Insgesamt sei die Entscheidung in einem fairen Prozess gefallen, so Hülkenberg trotz all der hier mitschwingenden Kritik. "Ich akzeptiere die Entscheidung. Ob ich zustimme, ist eine andere Sache."

In Teilen bestätigt Renault diese Hintergründe. Nur nicht den Franzosen-Faktor. "In die Nationalität würde ich nicht zu viel hineininterpretieren", sagt Teamchef Cyril Abiteboul. "Es ist ein Plus. Aber es ist kein Element, das bei der Entscheidung eine Rolle gespielt hat." Vielmehr ging es um die gefühlte Notwendigkeit eines Tapetenwechsels: "Bei der Entscheidung schaust du nicht nur auf die Pace. Du musst die Gesamtdynamik anschauen und da ist eine Dynamik innerhalb das Teams, die einen Reset brauchte. [...] Und Esteban bringt eine neue Dynamik."

Nico Hülkenberg ging drei Jahre lang für Renault an den Start, Foto: LAT Images
Nico Hülkenberg ging drei Jahre lang für Renault an den Start, Foto: LAT Images

Hülkenberg wundert das nicht. "Ich finde es schade, dass die Wege sich trennen. Wir haben uns natürlich etwas vorgenommen in den drei Jahren", erinnert der Renault-Pilot an große Hoffnungen mit dem ersten Werksvertrag seiner Karriere. "Zum Teil haben wir das auch erreicht, vor allem in den ersten beiden Jahren. Dieses Jahr ist der Fortschritt aber komplett ausgeblieben. Dann gibt es natürlich eine gewisse Unzufriedenheit im Team und im Management. Dass dann oftmals nach Veränderung geschrien wird, ist keine Überraschung", sagt Hülkenberg. "Das hat ab Mitte der Saison einfach eine eigene Dynamik entwickelt."

Teamchef lobt Hülkenberg

Eine allzu große Rolle spielte die gefühlte Podest-Flatter des Deutschen also auch wieder nicht. Groß zu bemängeln hat Renault bei Hülkenberg ohnehin nichts. Ganz im Gegenteil. "Es war schwierig, alle im Team lieben Nico. Er hat bei unseren Fortschritten eine entscheidende Rolle gespielt", lobt Abiteboul. "Dieses Jahr haben wir Probleme. Aber letztes Jahr war er dafür verantwortlich, dass wir in der Weltmeisterschaft Vierter geworden sind."

Eine größere Rolle spielte das fehlende letzte Etwas an anderer Stelle, der bestmöglichen Anschlussbeschäftigung Red Bull. Im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com wiegelte Motorsportberater Dr. Helmut Marko dahingehende Gerüchte jedenfalls ab. "Hülkenberg ist schwer vorstellbar. Wir wissen, Ricciardo hat ihn ...", so Marko durch die Blume. Knapp geschlagen, könnte man ergänzen. Weil Verstappen wiederum Ricciardo bei Red Bull im Griff hatte, reicht Hülkenberg den Bullen schlichtweg nicht, um den Austausch eines Piloten aus dem eigenen Juniorkader zu rechtfertigen.

So blieben Hülkenberg nur noch Haas und Alfa Romeo, in dieser Reihenfolge. Der US-Rennstall allerdings verlängerte erneut mit Romain Grosjean, so umstritten die Qualitäten des Franzosen in weiten Teilen der Szene auch sein mögen. Haas allerdings fürchtete, anders als Renault, angesichts der sportlichen Achterbahnfahrt 2019 eher um eine weitere Dynamik im Team und dankt Grosjean noch immer für dessen einst klare Entscheidung pro Haas.

Ein Bekenntnis, das so seitens Hülkenberg, vielleicht noch mit einem Auge auf Red Bull schielend, offenbar nicht kam. Aussagen beider Seiten zufolge kam es jedenfalls nie zu einem formalen Angebot. Nicht von Hülkenberg - aber auch nicht von Haas.

Alfa Romeo wurde somit die letzte, wenngleich unwahrscheinliche Option. "Ich habe es nicht länger in der Hand", sagte Hülkenberg nach dem gescheiterten Haas-Deal vielsagend. Hintergrund: Alfa-Motorenpartner Ferrari darf ein Cockpit bestimmen. Ferrari-Junior Giovinazzi verfügte daher über ein exzellentes Blatt. Das spielte der Italiener samt ansteigender Formkurve aus, nach dem USA GP bestätigte Alfa Romeo ihn für 2020.

Nach dem Saisonfinale in Abu Dhabi verabschiedete Lewis Hamilton Nico Hülkenberg (vorläufig) aus der Formel 1, Foto: Motorsport-Magazin.com
Nach dem Saisonfinale in Abu Dhabi verabschiedete Lewis Hamilton Nico Hülkenberg (vorläufig) aus der Formel 1, Foto: Motorsport-Magazin.com

Das finale Aus für Hülkenberg, der sich zu diesem Zeitpunkt längst neuen Gerüchten ausgesetzt sah. Von DTM über Formel E bis zu IndyCar zumindest abseits der von Hülkenberg ungeliebten Ovale war alles dabei, das meiste entbehrte zu seinem Ärger jeder Grundlage.

"Ich will nichts überhasten, nur um irgendwas zu fahren", wiederholte Hülkenberg Mal um Mal. Genauso gut könne es eine Option sein, mal eine Weile nicht zu fahren. "Das ist alles hypothetisch und steht in den Sternen." Nur eines nicht: Mehr begrüßen als ein F1-Comeback würde Hülkenberg nichts. Außer vielleicht vorübergehend etwas mehr Freizeit. "All die Dinge, die ich in den letzten Jahren nicht machen konnte, da bin ich gespannt drauf", sagt Hülkenberg. "Aber ein großer Teil von mir wird traurig sein, wenn ich die Rennen vor dem Fernseher verfolgen muss." Weil es eben kein Rücktritt ist. Nur ein F1-Aus für 2020.

Gibt es diesen einen Weg zurück? "Ich weiß es nicht", sagt Hülkenberg "Aber ich liebe diesen Sport, in der F1 fahren die schnellsten und hochentwickeltsten Autos der Welt. Ich werde mich für ein mögliches Comeback bereit halten, wenn sich eine Möglichkeit ergeben sollte. Aber es wäre natürlich vermessen, zu sagen, dass Ferrari nächstes Jahr anruft und sagt: 'So Hülki, jetzt sind wir aber bereit für dich!' Da muss man auch Realist bleiben."

Hülkenberg sieht Podest-Flaute entspannt

Vorzuwerfen, so viel Eigenwerbung muss sein, habe er sich jedenfalls nichts Gröberes, verpasste Podien hin oder her. "Ich bereue nichts, nein", sagt Hülkenberg. "Wenn ich die zehn Jahre reflektiere, sind da natürlich hier und da Dinge, die besser hätten laufen können. Es hätten Podien stehen können, es hätten vielleicht sogar mehr werden können."

Seinen Job habe er dennoch erledigt. "Ich habe über die Jahre gut geliefert. Ich war immer gewillt und wurde angestellt, um zu fahren. Das spricht für Qualität", betont Hülkenberg. "Klar hätte ich gerne eine andere Bilanz. Mehr Siege, Podien und so weiter. Aber ich weiß, warum es nicht dazu kam. Ich habe da meinen Frieden mit mir selbst und kann gut schlafen." Unvollendet fühlt sich der 'Hulk' also nicht. Auch wenn seine Bilanz das aussagt.

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