Sebastian Vettel kämpfte in seinem fünften Ferrari-Jahr gegen Mercedes, das eigene Auto und gegen Teamkollege Charles Leclerc. Woher nimmt der viermalige Weltmeister noch seine Motivation? Im Interview mit Motorsport-Magazin.com spricht Vettel so offen wie selten zuvor.

Motorsport-Magazin.com: Sebastian, Du beschwerst dich gerne über uns Journalisten, dass wir oftmals nur ein Kurzzeitgedächtnis hätten. Jetzt werfe ich dir ein Zitat aus 2013 um die Ohren. Als du damals mit Red Bull dominiert hast, sagtest du: "Wenn andere am Freitag die Eier in den Pool hängen lassen, arbeiten wir immer noch hart." Was macht die Mercedes-Konkurrenz seit 2014?
Sebastian Vettel: [lacht] Ich war gestern im Pool, jetzt fühle ich mich schuldig! Am Ende ist es nicht eine Sache, die uns fehlt und eine Sache, die sie besser machen als wir. Es ist eine Kombination von vielen kleinen Dingen. Im Moment sind wir nicht auf ihrem Level. Es liegt an uns, härter und besser zu arbeiten. Wir müssen herausfinden, was uns fehlt und was wir machen müssen, um unser Paket zu verbessern. So einfach ist es. Es ist nicht so einfach das dann umzusetzen, aber um es zu analysieren. Es ist ein Fakt, dass wir nicht stark genug sind.

Wir alle dachten zu Saisonbeginn, dass Ferrari eine reelle Chance hat - und ihr wohl auch. Obwohl es nicht läuft wirkst du nicht verärgert, sondern besonnen, fast philosophisch. Wie angepisst bist du wirklich?
Sebastian Vettel: Es kommt heutzutage nicht gut an, wenn man diese Sprache nutzt und immer seine Emotionen zeigt. Aber generell versuche ich nicht, irgendetwas zu verbergen. Ich sehe die Situation heute realistisch. Es ist auch im Team ziemlich klar, dass wir nicht da sind, wo wir sein wollen und uns Performance fehlt. Es ist eine dieser Sachen, die man gerne über Nacht ändern würde. Man hofft, dass man die Patentlösung oder die Wunderwaffe findet. Darauf hofft man immer, aber man muss sagen: Wir hatten nun schon mehr als eine Möglichkeit, das zu machen, mehr als einen Test, um zu verstehen, was uns fehlt.

Ich kann dir garantieren, dass wir nicht glücklich sind, wir sind angepisst. Aber ich glaube nicht, dass es dir hilft, einfach nur angepisst zu sein. Man muss seinen Kurs beibehalten, die positiven Dinge sehen, die man selbst kontrollieren kann, damit man die Chancen nicht verpasst, die man kurzfristig erhält. Dieses Rennen, das nächste Rennen und so weiter, bevor man dann neue Teile ans Auto packt.

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Abgesehen davon, dass generell Performance fehlt, scheint dir das Auto nicht so zu liegen. Dir fehlt die Stabilität im Heck, in langsamen Kurven scheint Untersteuern ein Problem zu sein. Was ist dein größtes Problem?
Sebastian Vettel: Was die Stabilität im Heck angeht: Das Auto braucht dort nicht komplett zu kleben, denn Untersteuern mag ich nicht. Es gibt ein paar Fahrer, die sehen das ganz anders. Vielleicht ist es hier einfacher, über Ex-Fahrer zu sprechen: David Coulthard zum Beispiel. Er war ein Meister des Untersteuerns. Ich weiß nicht, wie er mit so viel Untersteuern schnell fahren konnte. Mir wären die Lösungen ausgegangen. Es gibt diese Fahrer, die damit umgehen und es umfahren können. Ich brauche ein Heck, das in einer bestimmten Phase, wenn ich in die Kurve hineinfahre, stabil ist. Insgesamt ist mir Übersteuern aber lieber, dann kann ich gewisse Dinge damit machen und es ist schneller.

Wir haben mit einer sehr guten Balance begonnen und das war auch der Grund, weshalb ich gesagt habe, dass sich das Auto zu Beginn des Jahres so gut anfühlte. Beim ersten Rennen scheinen wir das verloren zu haben und es hat gedauert, es zurückzugewinnen. Wir haben vor allem beim Setup Fortschritte gemacht, deshalb war es lustig, am Rennwochenende nach Barcelona zurückzukehren. Die Hauptunterschiede zwischen den Tests und dem Rennwochenende waren Strecken- und Lufttemperatur. Das ist ein ziemlich großer und signifikanter Unterschied. Wir haben auf diesem Weg ziemlich viel gelernt. Wir hatten hier und da einige Probleme.

Diese Schwächen auszumerzen, ist immer ein Kompromiss. Wenn du an die Box kommst und eine stärkere Vorderachse und eine stärkere Hinterachse willst, dann muss man sich fragen, was man davor gemacht hat [lacht]. Am Ende geht es darum, Dinge zu verschieben und die beste Balance zu bekommen. Irgendwo gibt es ein Limit an Grip, das man mit dem Auto hat. Man kann nicht einfach mehr und mehr draufpacken. Das haben wir gut gemacht, aber auch mit der besseren Balance hat sich herausgestellt, dass wir drei oder vier Monate später einfach nicht mehr konkurrenzfähig genug waren.

MSM-Redakteur Christian Menath traf Sebastian Vettel zum Interview, Foto: LAT Images
MSM-Redakteur Christian Menath traf Sebastian Vettel zum Interview, Foto: LAT Images

Haben euch die Regeländerungen zurückgeworfen? Das 2017er Auto war gut, das 2018er Auto noch besser. Ihr wart auf dem richtigen Weg.
Sebastian Vettel: Ich glaube nicht. Ich denke nicht, dass etwas Fundamentales falsch ist. Ich weiß, dass in der Presse viel diskutiert wird, ob das Design falsch oder richtig ist. Ich glaube aber nicht, dass es fundamental so schlecht ist. Es ist immer eine Kombination der Dinge. Die Reifen treffen uns ein bisschen härter als andere. Das hört sich wie eine Ausrede an, aber ich akzeptiere es nicht als Ausrede. Denn die Reifen sind die Gleichen für alle. Wenn andere damit besser umgehen, müssen wir das auch.

Ferrari überzeugte in der ersten Woche der Wintertests

Gibt es da etwas in der Pipeline, von dem ihr denkt, dass es euch hier helfen könnte?
Sebastian Vettel: Das dachten wir über Barcelona... Man plant immer, produziert Teile, kommt mit Ideen und testet. Es braucht immer Zeit, bis die Dinge ans Auto kommen. Bei manchem mehr, bei manchen weniger. Es gibt Rennen, bei denen wir denken, dass wir mit bestimmten Teilen einen Schritt nach vorne machen können, ja. Was uns aber fehlt, ist Gesamtperformance. Es geht nicht darum, eine Achse besser zu machen und die andere nicht. Es gibt einige Ideen, um die Balance an manchen Stellen zu verbessern. Diese Frage können wir aber nicht beantworten, bevor wir es ernsthaft ausprobiert haben.

War es während des Wintertests noch nicht ersichtlich, dass das Auto vielleicht etwas schwach in langsamen Kurven ist?
Sebastian Vettel: Ja und nein. Die erste Woche war herausragend und vielversprechend für uns. Die zweite Woche war auch im Vergleich zu den anderen viel enger. Der Hype war ungebrochen, weil die Leute nach der ersten Woche so aufgeregt waren und es dann nicht wahrhaben wollten. Vor allem von außen. Wir selbst hatten es enger erwartet. Die erste Woche war eine Überraschung für uns, denn es konnte nicht wahr sein, dass wir mehr als sechs oder sieben Zehntel schneller als die anderen waren. Das wurde dann im zweiten Test auch klar. Das Auto hat im zweiten Test ein paar Schwächen gezeigt, als wir mehr und mehr ans Limit gegangen sind. Aber da war nichts, das herausgestochen wäre, von dem wir sagen: Da ist ganz klar etwas falsch mit dem Auto.

Mattia Binotto ist seit diesem Jahr Teamchef und hat Maurizio Arrivabene ersetzt. Führt er das Team anders?
Sebastian Vettel: Ja, sicherlich. Er ist eine andere Person. Ich weiß nicht, ob seine Antworten, die er euch gibt, anders sind als jene, die euch Maurizio gab, das verfolge ich nicht. Aber jeder ist anders. Das Team ist dieses Jahr auch in einer anderen Situation, deshalb kann man es nie wirklich vergleichen. Aber dafür, wie die Situation ist und dafür, wie angepisst wir sind [lacht], ist es noch immer recht ruhig im Team. Wir wissen darum und fokussieren uns darauf, es zu ändern. Wenn es so einfach wäre, würden wir es über Nacht machen. Aber die anderen machen einen sehr guten Job, das muss man auch respektieren. Es funktioniert nicht, es über Nacht zu ändern.

Mattia Binotto ist seit diesem Jahr Teamchef bei Ferrari, Foto: LAT Images
Mattia Binotto ist seit diesem Jahr Teamchef bei Ferrari, Foto: LAT Images

Was ist mit deinem neuen Teamkollegen? Hat er etwas an der Umgebung verändert?
Sebastian Vettel: Ja natürlich. Es wäre dumm, wenn ich nein sagen würde. Aber nicht nur Charles [Leclerc] ist anders, auch sein Ingenieurs-Team ist ein anderes im Vergleich zum letzten Jahr. Wir haben im Team einige Dinge geändert.

Es ist kein Geheimnis, dass es mit Mark Webber phasenweise Probleme gab. Ende 2014 hast du Red Bull - natürlich auch aus anderen Gründen - verlassen, als du gegen Daniel Ricciardo verloren hast. Wie gehst du mit Konkurrenz im eigenen Team um? Macht dir das zu schaffen?
Sebastian Vettel: Ich sehe es überhaupt nicht so. Ich verstehe, dass Leute auf 2014 verweisen. Auf dem Papier habe ich verloren und es ist auch fair, das zu sagen, denn die Zahlen sagen, dass ich gegen Daniel verloren habe. Aber ich weiß auch, dass 2014 einige Dinge nicht so gelaufen sind, wir wie sie uns erhofft hatten. Mein primäres Ziel 2014 war es nicht, auf dem Podium zu laden oder Fünfter zu werden. Mein Ziel war es, Rennen zu gewinnen. Vielleicht war meine Einstellung zu dieser Zeit etwas anders als die von Daniel. Aber mehr noch als das: 2014 war kein großartiges Jahr. Ich will nicht sagen, dass ich kein Glück hatte. Aber ich wurde ein paar Mal im Stich gelassen, das Auto hat nicht so funktioniert, wie es sollte und so weiter. Das verfälscht das Bild und die Zahlen vielleicht.

Wichtig ist aber, dass ich weiß, wie das Jahr lief und wie ich mich damit fühle. Ich habe Daniels Erfolg 2014 aus erster Hand und als sein Teamkollege mitbekommen. Das mache ich noch immer. Damit habe ich kein Problem, ich bin aber auch zuversichtlich, dass ich jeden schlagen kann, der da draußen fährt. Ich scheue die Konkurrenz nicht. Das macht keinen Sinn. Wenn du gewinnen willst und dich vor Konkurrenz fürchtest, dann sind das zwei Dinge, die nicht zueinander passen.

2014 bildeten Sebastian Vettel und Daniel Ricciardo das Fahrer-Duo bei Red Bull, Foto: Red Bull Racing
2014 bildeten Sebastian Vettel und Daniel Ricciardo das Fahrer-Duo bei Red Bull, Foto: Red Bull Racing

Wenn man Teamkollegen untereinander vergleicht, funktioniert das nie. Theoretisch gesehen müsste der eine gegen den anderen gewinnen, weil der einen anderen schon besiegt hat, der wiederum wieder einen anderen besiegt hat und so weiter.
Sebastian Vettel: Das ist wie beim Fußball. Demnach müsste auch der Erste immer gegen den Zweiten gewinnen. Aber dann verliert der Erste plötzlich gegen den Fünfzehnten.

Vergleiche sind im Sport schwierig

Warum funktioniert der Vergleich nicht? Liegt es daran, wie einem ein Auto liegt oder wie man ins Team integriert ist?
Sebastian Vettel: Um fair zu sein, muss man sich immer das große Ganze ansehen. Es ist das Gleiche bei anderen Sportarten. Es gibt einen Grund dafür, warum Roger Federer - oder diese Top-4 der Welt - statistisch gesehen immer da vorne sind und im Halbfinale stehen. Ohne Andy Murray ist es vielleicht etwas anders, aber das Prinzip bleibt. Es gibt einen Grund dafür. Und dann gibt es Grand Slams, bei denen sie in der ersten oder zweiten Runde rausfliegen. Dann fragst du dich: Wie zur Hölle konnte er gegen den Typen verlieren? Aber dieser Typ da ist kein schlechter Tennisspieler. Zu vergleichen ist sehr schwierig - vor allem in unserem Sport, wo wir auch noch von unseren Autos abhängig sind.

Aber es ist weniger schwierig, wenn man sich das große Ganze ansieht. Natürlich vergleicht jeder. Ich vergleiche mich selbst auch zuerst mit dem Teamkollegen und anderen. Heute ist alles so transparent, da ist es nicht mehr so schwierig, zu vergleichen. Man muss sich das über einen längeren Zeitraum ansehen, nicht nur über einen Tag.

Musst du noch etwas beweisen?
Sebastian Vettel: Was soll ich beweisen?

Dass du der beste Rennfahrer der Welt bist?
Sebastian Vettel: Deshalb bin ich hier. Ich will es mir selbst beweisen. Das ist für mich das Wertvollste. Du kannst es nie jedem beweisen. Das geht nicht, das ist aber auch irrelevant für mich. Wenn ich gut bin oder auch nicht, dann mögen es manche Leute und manche eben nicht. Verstehe mich nicht falsch, ich will nicht zu egoistisch klingen, aber ich mache es für mich selbst. Ich habe sehr viel Spaß daran, ich liebe, was ich mache und ich bin sehr ehrgeizig. Ich will etwas mit diesem Team erreichen. Das ist meine Motivation, dieses Ziel verfolge ich. Ich will mir selbst beweisen, dass ich das erreichen kann.

Aber du bist schon viermaliger Formel-1-Weltmeister, hast es also schon bewiesen...
Sebastian Vettel: Aber so blicke ich nicht darauf. Ich denke mir nicht: Ah, ich habe das schon einmal gewonnen, ich muss es nicht noch einmal schaffen. Ich denke nicht, dass mir irgendein Erfolg, den ich in der Vergangenheit hatte, in Zukunft Erfolg bringt. Gleichzeitig bin ich sehr, sehr privilegiert, mehr als nur einmal in dieser Situation gewesen zu sein, mir selbst beweisen zu können, dass ich der Beste sein kann, die Besten besiegen kann und unter den Besten bin. Ich wache morgens nicht auf und denke: "Ich bin der Beste!". Ich weiß, dass man darüber sehr viel in Büchern lesen kann, die dir sagen, wie du denken sollst und so. Für mich funktioniert das nicht.

2013 feierte Sebastian Vettel den Gewinn seines vierten WM-Titels in der Formel 1, Foto: Red Bull
2013 feierte Sebastian Vettel den Gewinn seines vierten WM-Titels in der Formel 1, Foto: Red Bull

Ich lese diese Bücher nicht, für mich funktioniert das nicht. Ich wache einfach nicht auf und denke mir, dass ich der Beste und unschlagbar bin. Aber ich wache auf und weiß, dass ich der Beste sein kann und die Besten besiegen kann. Das bereitet mir eine extreme Freude. Das will ich machen. Und obendrauf will ich es hier [bei Ferrari] schaffen. Das bedeutet mir noch mehr, mit diesem Team zu gewinnen. Ich weiß, bislang habe ich es im großen Ganzen noch nicht geschafft, aber ich will es schaffen.

Vettel ist immer noch ein Fan des Sports

Du hast kürzlich gesagt, das Vermächtnis, das du hinterlässt, sei dir egal. Das war für jemanden, dem die Geschichte des Sports so wichtig ist, eine überraschende Aussage. Zielte das in diese Richtung?
Sebastian Vettel: Ja, die Geschichte ist mir sehr wichtig. Ich liebe den Sport, ich bin ein Fan. Ich bin aber kein Fan von mir selbst. Ich weiß, ich fahre das Auto, daran braucht man mich nicht erinnern. Aber ich blicke nicht so darauf. Ich wache nicht auf und denke mir: "Wow, ich bin ein Formel-1-Fahrer." Diese Zahlen bedeuten mir eine Menge. Wenn es ein Vermächtnis gibt, das ich hinterlassen will, dann ist es für mich selbst und nicht, was es für andere bedeuten könnte. Ich mache es für mich selbst. Und das bedeutet für mich, das Team und die Leute, die um mich herum sind und mich unterstützen. Es ist aber nicht realistisch, jeden auf dieser Welt auf seiner Seite zu haben.

Es ist ein Privileg, zu reisen und so viele Leute aus unterschiedlichen Orten und verschiedene Kulturen zu sehen. Daher weiß ich auch: Am Ende befinden wir uns hier in einer Blase. Kann man mit dem, was wir machen, im großen Ganzen ein Vermächtnis hinterlassen? Wahrscheinlich nicht. Aber es bedeutet viel für mich und ich will ein Vermächtnis für mich selbst schaffen.

Wie sieht deine Zukunft aus?
Sebastian Vettel: Ich habe in den vergangenen Jahren verstanden, dass meine Zukunft in der Formel 1 kürzer sein wird als meine Vergangenheit war. Aber ich habe keine Zahl. Mein Hauptziel ist es, zu gewinnen und es mir selbst und uns zu beweisen, dass wir es schaffen können. Es gibt bestimmte Sachen im Sport und bei den Autos von denen ich denke, dass sie nicht mehr so gut sind, wie sie einmal waren. Aber ich mache nicht die Regeln und es ist nicht einfach, Regeln zu machen, die jedem gefallen. Heutzutage wurden manche Dinge auch so professionell und so perfekt. Das gilt nicht nur für unseren Sport und für die Formel 1, das gilt für alle Sportarten. Es ist unmöglich, etwas unwissend zu machen. Manchmal ist es besser, wenn man manche Dinge nicht weiß. Aber man kann nicht zurückgehen.

Der Perfektionismus, den du angesprochen hast, ist ein interessantes Thema: Wir sprechen viel über Technik, aber kaum mehr über die Fahrer. Aber auch hier findet eine Entwicklung statt. Michael Schumacher hat die Formel 1 einst mit seiner physischen Fitness revolutioniert und die Latte höhergelegt. Heute trainieren die jungen Fahrer pausenlos in ihren Simulatoren. Du ziehst hingegen dein eigenes Ding durch - wenn ich das richtig sehe, denn viel sieht man ja von dir abseits der Rennen nicht.
Sebastian Vettel: Weil ich nicht auf Social Media bin, ja. Aber dann kann man sich auch fragen, ob das, was man von den anderen sieht, die Realität ist. [lacht]

Das stimmt. Aber viele verbringen sehr viel Zeit vor dem Bildschirm. Glaubst du nicht, dass du hier einen Bereich nicht beachtest, der dich als Fahrer noch besser machen könnte?
Sebastian Vettel: Du meinst, Simracing macht einen besser?

In der Formel 1 kannst du kaum trainieren. Simracing ist da vielleicht eine Möglichkeit, Dinge noch zu perfektionieren. Die jungen Leute kommen zum ersten Mal auf eine Strecke und kennen sie bereits perfekt.
Sebastian Vettel: Ja, aber dann könnte man auch sagen, dass ich hier schon zwölf Mal war und Max [Verstappen] erst vier Mal. Das kann man nicht schlagen.

Aber wenn du die Möglichkeit hast, noch ein bisschen mehr zu machen...
Sebastian Vettel: Ich stimme dir generell zu: du kannst nie genug trainieren und dich nie gut genug vorbereiten. Ich stimme dem komplett zu, aber ich widerspreche auch: Diese speziellen Momente kannst du niemals replizieren. Die Momente, in denen du im Q3 im Auto sitzt und die Runde hinzimmern musst. Du weißt, es ist nur diese eine Runde. Oder während des Rennens, die Runden zu liefern, wenn es draufankommt. Im Freien Training ist es ein komplett anderes Umfeld und eine ganz andere Situation, dort die Runden abzuliefern. Im Training können es vielleicht fünf Fahrer, in bestimmten Situationen dann nur noch zwei oder vielleicht sogar nur einer. Dann am nächsten Tag sind es drei oder nur einer. So sehr wie ich dir zustimme, so sehr widerspreche ich dem auch. Es gibt gewisse Dinge, wo man die Realität nicht ersetzen kann.

Es ist das Zusammenspiel von Körper und Geist gefragt

Aber vielleicht hat man mehr Kapazität im Gehirn frei. Beim physischen Training ist es ja ähnlich: Eine bessere körperliche Verfassung macht dich nicht direkt schneller, aber du musst dich während des Fahrens weniger um deinen Körper kümmern. Wenn du viel Simracing betreibst, brennen sich Szenen ein, die du dann unterbewusst abgespeichert hast und du hast mehr Kapazitäten für andere Dinge frei?
Sebastian Vettel: Am Ende muss man seinen eigenen Weg finden und jeder findet seinen eigenen Weg. Nicht alle von uns machen die gleichen Dinge, um sich vorzubereiten. Ich glaube, es würde nicht funktionieren. So sehr du von einem Vorbild und vom Idealszenario sprichst: Jeder ist anders, ein Individuum. Dieses Szenario funktioniert nicht für jeden. Ich will nicht nur Fahrer nennen, aber es ist normal, dass Menschen sehr unterschiedlich sind. Den einen musst du vielleicht aggressiv machen, um ihn in die Zone zu kriegen und ihm sprichwörtlich ins Gesicht schlagen, um ihn aufzuwecken und das Beste aus ihm herauszuholen. Den anderen musst du vielleicht komplett allein lassen, ihn nicht anlangen, ihn nicht einmal anschauen und dann bekommt er das Beste aus sich heraus.

Es gibt eine Menge Theorien. Ich bin da sehr tief in der Materie, denn es geht im Sport nicht nur um Physis sondern auch um die Psychologie, was du machen kannst, um noch eine Ecke zu finden. Ganz tief drinnen liegt es dann an dir selbst, in Kontrolle zu sein und dich mit dir selbst wohl zu fühlen. So sehr du manche Dinge trainieren kannst, kommt es dann am Ende darauf an, wie du darauf reagierst, wie du selbst denkst, dass es funktioniert. Man kann sich immer die Besten ansehen, in welchem Sport auch immer, und sich denken: Das ist großartig, das versuche ich. Aber dann funktioniert es nicht für dich.

Michael Schumacher und Sebastian Vettel sind in der Formel 1 gegeneinander und beim Race of Champions miteinander gefahren, Foto: LAT Images
Michael Schumacher und Sebastian Vettel sind in der Formel 1 gegeneinander und beim Race of Champions miteinander gefahren, Foto: LAT Images

Hast du das schon gemacht? Dir jemanden bewusst angesehen?
Sebastian Vettel: Ja, bewusst und unterbewusst. Wenn wir über Rennfahrer sprechen, und da sprechen wir über Michael, war ich nicht nah genug dran. Ich weiß nicht, wie er da war. Ich weiß, was Leute sagen, auch in diesem Team, wie er zehn Minuten vor dem Rennen war, was er gebraucht hat und was er nicht mochte. Man kann sich vorstellen, dass er anders ins Rennen gegangen ist als Kimi. Manchmal hat er dann eine Runde hingelegt, von der du dich fragtest, woher sie gekommen ist und manchmal hat es Kimi gemacht. Oder Fernando, oder Lewis. Oder wer auch immer.

Vielen Dank für das Gespräch!
Sebastian Vettel: Ich gehe jetzt zurück an den Pool! [lacht]

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