Andreas Seidl soll McLaren wieder zu altem Glanz verhelfen. Porsches LMP1-Team führte der bayerische Ingenieur schnell an die Spitze - natürlich mit anderen Voraussetzungen. Er ist kein Mann der großen Worte, er lässt lieber Arbeit, Taten und am liebsten Ergebnisse sprechen.

Motorsport-Magazin.com: Vom Porsche Teamchef, dem die Beförderung zum Motorsportchef bevorstand, zu einem Formel-1-Team, das in den letzten vier Saisons zweimal Neunter und zweimal Sechster wurde. Da muss man die Formel E ganz schön hassen, oder?
Andreas Seidl: [lacht] Hier reizt mich die Herausforderung, Teil eines Kapitels der Geschichte von McLaren sein zu können. Ich sehe hier die Möglichkeit, Teil von diesem Team zu sein, das diesen Umschwung wieder schafft. Das ist der Reiz, der hier vorhanden ist. Für mich war immer klar, dass ich bei der richtigen Gelegenheit wieder in die Topkategorie zurückwollte. Ich bin ein Racer, ein Wettbewerbs-Typ, und die Möglichkeit, ein Team mit dieser Historie zu leiten war eine einmalige Chance, die ich unbedingt wahrnehmen wollte.

Formel 1 Q&A: Wird McLaren 2020 zur Gefahr für die Top-Teams? (24:35 Min.)

Wenn ich böse weiterfragen darf...
Dafür seid Ihr ja da! [lacht]

Eigentlich könnten Sie jetzt schon wieder zurücktreten. McLaren steht auf Platz vier, mehr ist ohnehin nicht möglich.
Andreas Seidl: Das sehe ich anders. Wichtig ist, wenn wir auf diese Saison schauen: Wir sind aktuell Vierter, aber der Platz ist noch lange nicht garantiert. Das Mittelfeld ist so eng, und wenn wir sehen, wo wir uns bezüglich der Performance in den letzten Rennen befunden haben, dann sind wir irgendwo in der Mitte des Mittelfeldes. Wir haben gute Punkte gemacht in Rennen, in denen wir nicht so gut waren. Durch bessere Strategie, durch bessere Boxenstopps, durch gute Fahrerleistungen. Für mich geht es jetzt nicht um die Vision, wo wir in fünf Jahren sein wollen - dass man da um Siege fahren will oder so. Für mich ist es jetzt wichtig, den positiven Trend fortzusetzen, den wir seit dem letzten Jahr hier sehen. Ich bin erst kurze Zeit hier, also nehme ich mir weiterhin die Zeit, im Detail zu verstehen, wie McLaren arbeitet und auch wo die Schwachpunkte im Team sind. Wichtig ist jetzt auch, dass die Regularien in den nächsten Wochen kommen. Damit ich mir dann eine Strategie zurechtlegen kann, wie ich Schritt für Schritt mit diesem Team zusammen wieder die Lücke zu den Top-drei-Teams schließen will.

So wie die Formel 1 aktuell ist, ist das das Maximum.
Andreas Seidl: Aktuell ... ja klar. Man muss auch sagen: So wie der Sport aktuell ist, so wie sich die Formel 1 in den letzten zehn Jahren entwickelt hat, mit den immer größer werdenden Budgets und Ressourcen der Top-Teams, da ist es für ein Team wie McLaren im Moment nicht möglich, nachhaltig wettbewerbsfähig zu sein. Wenn du wettbewerbsfähig sein willst, musst du einfach viel zu viel investieren. Gleichzeitig ist es glaube ich aber auch wichtig, den Fokus im Moment hier auf uns, auf unser Team zu legen. Wir dürfen keine Ausreden in Regularien und Budgets suchen. Mit dem Budget, das wir bei McLaren haben und in den letzten Jahren auch hatten, underperformen wir im Moment. Das ist mein Fokus: Zunächst einmal das Potential dorthin zu heben, welches aktuell im Team vorhanden ist.

Klar ist dann wichtig, dass die Reglementänderungen kommen, die aktuell für 2021 vorgesehen sind. Weil es dann hoffentlich wieder möglich ist, nachhaltig Formel 1 zu betreiben. Weil es dann auch möglich ist, wieder in gewisser Weise eine Art Reset zu machen, zwischen den Top-Teams und sagen wir mal uns. Was keine Garantie für Erfolg ist. Es ist auch wichtig, zu sagen, dass Mercedes ja nicht nur da vorne steht, weil sie mehr Budget und mehr Ressourcen haben. Sie machen einfach einen Bomben-Job. Was Toto da in den letzten Jahren aufgesetzt hat... die Art und Weise wie er das Team strukturiert hat und wie er diesen Spirit hochhält. Das ist die Benchmark, und das muss jedes andere Team auch versuchen zu erreichen.

Andreas Seidl war für Porsche in der Langstrecken-Weltmeisterschaft tätig, Foto: Porsche
Andreas Seidl war für Porsche in der Langstrecken-Weltmeisterschaft tätig, Foto: Porsche

Also blickt man aktuell weniger auf die Zukunft und will lieber das kränkelnde Team der Vorjahre wieder auf Trab bekommen? Und dann hängt man, abhängig davon, wie es 2021 aussieht, etwas in der Luft?
Andreas Seidl: Ich würde nicht sagen, dass wir in der Luft hängen. In den nächsten Wochen bekommen wir ja Klarheit bezüglich der Regularien. Wenn ich meine persönliche Situation anschaue: Ich bin neu hinzugekommen und brauche jetzt Zeit, um mir wirklich im Detail das Team anzuschauen. James Key ist neu hinzugekommen. Er ist jetzt als technischer Direktor mein wichtigster Mitarbeiter. Auch er braucht Zeit, um sich das alles anzuschauen. Dann müssen wir in Verbindung mit den neuen Regularien die Strukturen für die Zukunft aufsetzen. Mit dem klaren Ziel natürlich, dass wir uns kontinuierlich weiter verbessern und hoffentlich irgendwann die Lücke zu den Top-3 schießen können.

Sie haben nachhaltigen Motorsport angesprochen. Ist das nicht ein generelles Problem der heutigen Zeit? In der Industrie wie im Motorsport ist alles so hochspezialisiert, dass nur noch Big Player erfolgreich sein können. An den Autos ist jedes Detail so hoch entwickelt, dass es die Summe der Details ist, die Autos schneller oder langsamer machen.
Andreas Seidl: Ich glaube, wir können schon bis zu einem gewissen Grad sagen, wo unsere Schwachpunkte im Vergleich zu den Topteams sind, in Bezug auf Fahrzeugkonzept und so weiter. Nur selbst wenn du diese Schwachpunkte identifiziert hast, gibt es hier keine Magie. Du legst nicht einfach morgen den Schalter um. Das Thema ist eben grundsätzlich sehr komplex. Du musst erst einmal Abläufe, Methoden und Tools im Team etablieren, die es dir ermöglichen, an diesen letzten Details zu feilen. Dass du im Endeffekt eine Entwicklung, die du im CFD machst, eins zu eins auch auf der Strecke wiederfindest, wenn du es ans Auto baust. Das sind die Stärken der großen Teams, dort läuft das eins zu eins durch. Das sind Themen, an denen wir arbeiten.

Aber geht es dabei nicht nur um Geld? Wer wie viele Entwicklungsstufen wie schnell ans Auto bringt?
Andreas Seidl: Nein, das ist nicht nur Budget. Du brauchst natürlich am Ende ein gewisses Budget - ein Budget vergleichbar mit deinen härtesten Konkurrenten, wenn du dort mitspielen willst. Aber ich glaube, wir müssen unabhängig zuerst einen Schritt mit dem machen, was wir haben. Wie vorhin erwähnt: Wir haben ja ein gutes Budget. Damit sind wir im Moment aber nicht dort, wo wir sein müssten. Das ist erst einmal der Fokus. Und das sind eben Themen, die ich mir aktuell anschauen muss. Sind wir strukturell richtig aufgestellt? Haben wir die richtigen Leute an den richtigen Plätzen? Haben wir den richtigen Spirit? Haben wir die richtige Kommunikation im Team, das richtige Reporting? Das sind für mich die Kernthemen, die zunächst gelöst werden müssen.

Sie sagten schon: Ein vergleichbares Budget zur direkten Konkurrenz. Die Unterschiede sind aber riesig. Kann Motorsport heute in diesem Zustand noch interessant sein? Oder braucht es standardisierte Teile oder einen Budget-Deckel?
Andreas Seidl: Ich denke, eine Budget Cap wird definitiv helfen, wieder ein ausgewogenes Spielfeld zu schaffen. Es ist auch der richtige Weg aus meiner Sicht. Weil die Schere aufgrund der verschiedenen Ressourcen, die in den letzten Jahren vorhanden waren, einfach zu groß wurde. Ich glaube auch, dass in diesem Sport die Themen Regierung und Gewinnausschüttung nicht geholfen haben, weil diese das Problem im Endeffekt nur noch größer gemacht haben. Da glaube ich schon, dass die neuen Ansätze bei Governance, bei der Ausschüttung der Gelder oder bei dem Budget Cap helfen werden, wieder ein ausgeglichenes Spielfeld zu schaffen. Dann wird ein Team, das wie Mercedes aktuell einen besseren Job macht, noch immer das bessere Team sein, aber du hast zumindest einmal gleichere Voraussetzungen, um wieder ganz vorne in den Wettbewerb einzudringen.

Ist ein gutes Team so herunterskalierbar? Gehen mit anderen Ressourcen nicht andere Prozesse einher?
Andreas Seidl: Das hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Struktur, die du brauchst, um das Maximum herauszukriegen. Du musst dann Entscheidungen treffen, wie du dein Geld genau einsetzt. Natürlich musst du auch jetzt schauen. Es ist ja nicht so, dass du unendlich Geld hast. Du musst natürlich schauen, wo du Effizienz holst, um das Maximum innerhalb des gegebenen Budgets aus dem Team herauszuholen. Du musst entscheiden: Wie stellst du dein Engineering in der Zukunft auf? Wie stellst du deine Produktion auf, wo setzt du deinen Schwerpunkt? Kaufst du zukünftig mehr Sachen zu? Lässt du sie extern produzieren, statt sie zu Hause zu bauen? Das nächste Reglement hat einen erheblichen Einfluss darauf.

Andreas Seidl im Gespräch mit McLaren-CEO Zak Brown, Foto: LAT Images
Andreas Seidl im Gespräch mit McLaren-CEO Zak Brown, Foto: LAT Images

Zak sagte letztens, dass die Umstrukturierung bei McLaren durch Ihren Dienstantritt gewissermaßen beendet ist. Dann beginnt die neue Ära. Was genau sind jetzt Ihre Kompetenzen als Teamchef?
Andreas Seidl: Ich bin ultimativ verantwortlich für die Performance des Rennteams. In meiner Verantwortung liegt das komplette Engineering mit James Key als Chef, die komplette Produktion, und das Rennteam hier draußen inklusive Fahrer. Es ist auch sehr wichtig, dass es eine klare Führung gibt. Was für mich der einzige Weg ist, um die Vision, die Richtung, die ich in den nächsten Jahren einschlagen will, durchzusetzen. Ich glaube, was in den letzten Jahren bei McLaren verloren ging, war eine klare Führung auf der F1-Teamseite. Und ich glaube, dass es für mich auch nur durch eine klare Positionierung meiner Person möglich ist, meinen Beitrag zu leisten und das Team wieder über die nächsten Jahre in Richtung Spitze zu führen.

Der Weg zum Teamchef ist in der Formel 1 sehr unterschiedlich. Wir haben Ingenieure wie Sie oder Mattia Binotto, es gibt aber auch Manager-Typen wie Toto Wolff. Es gab auch schon reine Marketing-Teamchefs. Macht das einen Unterschied?
Andreas Seidl: Ich glaube, dass man in der Boxengasse sieht, dass verschiedene Modelle funktionieren können. Wichtig ist auch zu erwähnen, dass das keine One-Man-Show ist. Erfolg ist eine Teamarbeit und hängt davon ab, wie du als Team funktionierst. Was ich - so glaube ich zumindest - mitbringen kann, ist, dass ich viele verschiedene Positionen im Team selbst bekleidet habe. Sowohl auf der Antriebs-Seite als auch auf der Chassis-Seite. Was mir einfach hilft, mir schnell einen Überblick zu verschaffen: Wie funktioniert das Team, wo sind die Schwachstellen, wo sind die Stärken, um das Team dann richtig für die Zukunft aufzustellen.

Was fehlt dem Team dann aktuell noch?
Andreas Seidl: Aktuell fehlen uns eineinhalb Sekunden [lacht]. Es ist nach wie vor zu früh, um solide Schlussfolgerungen zu machen. Ich brauche jetzt einfach noch ein paar Wochen, um dann auf Papier zu bringen, wo die Schwachstellen sind und was meine ersten Eindrücke sind. Dann gilt es, einen klaren Plan auszuarbeiten, wie ich die Zukunft angehen will.

Was für mich positiv war: Du merkst im Team, dass eine positive Stimmung, eine positive Atmosphäre da ist. Die haben in den letzten fünf Jahren eine wirklich unglaublich schwierige Phase durchgemacht. Es wurden ja schon Mitte letzten Jahres von Zak einige Änderungen losgetreten. Allein wenn man jetzt die Performance in diesem Jahr sieht, hat das Team einen deutlichen Schritt nach vorne gemacht. Es kommen wieder Ergebnisse. Das Auto reagiert auf Entwicklungen, die wir Rennen für Rennen bringen. Das führt insgesamt einfach zu einer positiven Grundstimmung im Team, auch zu einer Euphorie. Das erleichtert mir den Start, und das ist auch wichtig, um täglich im ganzen Team den Antrieb zu haben, kontinuierlich weiter zu pushen.

Täuschte der desolate Eindruck, den man in den letzten Jahren von McLaren gewinnen konnte?
Andreas Seidl: Ich kann nicht beurteilen, wie das in den letzten Jahren war. Ich habe natürlich als Fan mitbekommen, wie das Team unter diesen Resultaten gelitten hat, aber ich war jetzt angenehm überrascht. Natürlich habe ich erst im Mai angefangen, da war schon ein deutlicher Schritt im Vergleich zum letzten Jahr zu sehen. Aber da kann ich nur sagen: Ich war positiv überrascht, wie gut die Stimmung ist. Man sieht, es geht wieder aufwärts.

Die neuen McLaren-Fahrer Carlos Sainz jr. und Lando Norris erlebten in diesem Jahr einen Aufschwung, Foto: LAT Images
Die neuen McLaren-Fahrer Carlos Sainz jr. und Lando Norris erlebten in diesem Jahr einen Aufschwung, Foto: LAT Images

Also ist P4 noch kein Seidl-Effekt?
Andreas Seidl: Nein, man muss ganz klar sagen: Da wurde vieles schon im Vorjahr initiiert, das sich jetzt beginnt auszuzahlen, und das sich in den nächsten Monaten erst auszahlen wird. Gleichzeitig bin ich aber überzeugt, dass ich mit der Erfahrung, die ich mitbringe, dem Team einen weiteren Push geben kann, um auch die nächsten Schritte zu machen.

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