Verliert Mercedes zum Abschluss der Formel-1-Saison 2019 endlich seine in allen Belangen völlig weiße Weste auf dem Yas Marina Circuit? Diese Frage kann sich vor dem Großen Preis von Abu Dhabi einfach nur stellen. Beim Wüstenrennen verfügen die Silberpfeile über eine makellose Bilanz. In der Hybrid-Ära erzielte Mercedes nicht nur jedes Mal einen Doppelsieg, auch die erste Startreihe glänzte stets in reinem Silber.

Knüpfen Lewis Hamilton und Valtteri Bottas 2019 daran an? Nein. Das stand bereits fest, bevor im ersten Training auch nur ein Kilometer gefahren war. Weil Bottas nach seinem Defekt in Brasilien für das Rennen in Abu Dhabi eine neue Power Unit bekommt, wird der Finne ganz an das Ende der Startaufstellung strafversetzt.

Valtteri Bottas überlegen? Achtung, frischer Motor

Zumindest ungeschlagen bleiben kann Mercedes in Abu Dhabi durch Lewis Hamilton allerdings noch immer. Nach den ersten beiden Freien Trainings scheint auf einen ersten Blick ins Ergebnis auch alles darauf hinzudeuten: Bestzeiten in beiden Sessions - wobei in Abu Dhabi ohnehin nur das zweite Training wirklich zählt. FP1 und FP3 steigen bei Tageslicht, also auf viel wärmerem Asphalt als Qualifying und Rennen.

Doch reicht das FP2-Resultat allein ohnehin, um die Mercedes-Stärke zu untermauern. Valtteri Bottas sorgte hier schon auf eine Runde - 2019 eigentlich das Ferrari-Steckenpferd - für eine deutliche Bestzeit. Drei Zehntel nahm der Finne seinem Teamkollegen ab, vier den Ferrari von Charles Leclerc und Sebastian Vettel, mehr als fünf dem Red Bull von Max Verstappen. Alle fuhren auf Soft und etwas zum gleichen Zeitpunkt - gleiche Waffen also.

Vettel & Verstappen nicht perfekt, Hamilton experimentiert

Aber nicht ganz gleiche Waffen. Bottas' Überlegenheit ist mit Vorsicht zu genießen. Das zeigt der Vergleich mit Hamilton. Den großen teaminternen Vorsprung holte sich Bottas dank seiner brandneuen Power Unit fast vollständig in den beiden ersten Sektoren - die Power-Passagen von Abu Dhabi. Im winkligen Schlusssektor trennten die Mercedes-Kollegen nur 0,018 Sekunden.

Weil Bottas durch Start von ganz hinten im Rennen von vornherein aus der Verlosung ist, ist die Hamilton-Zeit im Vergleich zu Ferrari und Red Bull die relevante. Und hier geht es nur noch um einige Hundertstel. Noch dazu unterliefen Max Verstappen und Sebastian Vettel auf ihren schnellsten Runden kleine Schnitzer. Der Niederländer ging am Ausgang der ersten Kurven weit, der Deutsche rumpelte am Ausgang der vorletzten wenig effizient über den Kerb.

Enger Dreikampf im Qualifying

Allerdings scheint auch Hamilton noch nicht das Maximum aus seinem W10 gepresst zu haben. "Das war ein ungewöhnlicher Freitag für mich. Ich hatte damit zu kämpfen, den richtigen Rhythmus zu finden", berichtete der Weltmeister. Hamilton nutzte das Training durch die bereits entschiedene WM wie schon in Brasilien dazu, völlig neue Wege zu beschreiten - schon als Vorbereitung auf 2020.

Fazit zu Shortrun-Pace: Das Qualifying dürfte richtig eng werden. Vettel jedenfalls schließt einen neuerlichen Ferrari-Triumph am Samstag alles andere als aus. "Wenn wir morgen im Qualifying vorne reinfahren können, verspricht das nur Gutes fürs das Rennen", sagt der Ferrari-Pilot.

Ferrari in Sektor drei ein einziger Kampf

Doch ist Letzteres wirklich der Fall? Oder geht Ferrari in Sachen Rennpace im Vergleich mit Red Bull und Mercedes einmal mehr gnadenlos ein? Die Aussagen Vettels auf Nachfragen dazu klingen plötzlich kaum noch so euphorisch, lassen eher Böses ahnen. "Es ist so ziemlich das gleiche Bild wie in den letzten Rennen, wir kämpfen mit denselben Dingen. In all den mittelschnellen und langsamen Kurven fehlt es uns verglichen mit den anderen an Speed", berichtet Vettel.

Vor allem im Schlusssektor geht dem SF90 die Puste aus. "Der letzte Sektor tut uns weh, da sind ja die meisten langsamen und mittelschnellen Kurven", so Vettel über die bekannte Ferrari-Achillesferse. "Wir kämpfen da mit den Reifen, die heiß werden, sodass das Auto schwierig zu fahren ist und wir da die meiste Zeit einbüßen", analysiert Vettel.

Longruns: Ferrari auf Soft abgeschlagen

"Reifenabbau ist hier ein ziemliches Thema für uns. Der dritte Sektor ist echt schwierig mit den Reifen, Überhitzung und Abbau. Da haben wir zu kämpfen und müssen noch mehr arbeiten", bestätigt Charles Leclerc diesen Eindruck. Das bestätigen so auch die Longrun-Daten - zumindest so gut es nach der Unterbrechung durch die rote Flagge eben geht. "Deshalb ist es unmöglich zu sagen, wie gut der Soft durchhält", sagt Pirellis Mario Isola.

Ein Eindruck schillert jedoch durch: Ferrari spielt auf dem weichen Reifen nur die dritte Geige. Bei (so gut wie) identer Stintlänge fehlten Sebastian Vettel auf seinem Soft-Longrun sieben Zehntel auf Klassenprimus Hamilton und sechseinhalb auf Verstappen.

Formel 1 Abu Dhabi GP 2019: Longruns auf Soft

FahrerReifen-AlterStint-LängeGefahren gegenZeit
Hamilton146Anfang1:43,093
Verstappen135Anfang1:43,156
Vettel186Ende1:43,819
Albon125Anfang1:43,909
Leclerc113Anfang1:44,257

Einschränkung: Vettels Reifen waren insgesamt schon vier bzw. fünf Runden älter als jene der Konkurrenz. Dafür fuhr er seinen Run anders als der Mercedes und der Red Bull erst am Ende des Trainings. Also sowohl bei besseren Streckenbedingungen als auch mit leichterem Auto.

Die Benzinladung wird jedoch vor allem bei einem anderen Vergleich interessant - dem zwischen Hamilton und Verstappen. "Im Longrun haben die anderen glaube ich nicht nachgetankt, aber wir haben voll nachgetankt", berichtet Red-Bull-Motorsportberater Dr. Helmut Marko bei Motorsport-Magazin.com. "Wenn wir jetzt die Relation sehen, sind wir relativ knapp an Hamilton dran. Der ist in unseren Augen der Schnellste."

Marko sieht Red Bull auf Hamilton-Niveau

Damit zielt Marko auf einen weiteren Verstappen-Longrun im zweiten Training, dieses Mal gegen Sessionende und auf Medium. Hier fuhr Verstappen - um extreme Ausreißer bereinigt - eine 1:43.506. Das ist nur eine halbe Sekunde langsamer als Hamilton zuvor auf Soft. Bedenkt man, dass Pirelli eine Deltazeit von einer Sekunde zwischen den Mischungen angibt, ein durchaus respektabler Versuch. Die Bullen-Stärke ist auch der Konkurrenz nicht entgangen. "Ich erwarte Red Bull stärker als sie es im FP2 gezeigt haben", warnt Charles Leclerc.

Formel 1 Abu Dhabi GP 2019: Longruns auf Medium

FahrerReifen-AlterStint-LängeGefahren gegenZeit
Albon176Ende1:43,238
Bottas188Anfang1:43,306
Verstappen*176Ende*1:43,506
Verstappen136Ende1:44,952

* Verstappens Longrun mit sehr starken Rundenzeitschwankungen. Die *-Zeit ist ohne die Ausreißer nach oben

Allerdings muss sich auch Mercedes auf dem Medium alles andere als verstecken. Bottas schaffte sogar eine 1:43.306 im Schnitt - und das bei längerer Stintdauer, mit älteren Reifen und auch noch zu Beginn der Session statt gegen Ende.

Leclercs Hard-Stint für die Götter

Und Ferrari? Hier fehlt er belastbarer Medium-Longrun. Dafür gibt es einen hochinteressanten Leclerc-Stint auf Hard ganz am Ende des Trainings. Hier brannte der Monegasse eine 1.43.191 Minuten in den Asphalt - das war schneller als jeder Medium-Longrun und auf einem Niveau mit den Soft-Runs. Für Leclerc eine große Erleichterung nach den Problemen mit den weichen Reifen.

Formel 1 Abu Dhabi GP 2019: Leclercs Hard-Longrun

FahrerReifen-AlterStint-LängeGefahren gegenZeit
Leclerc166Ende1:43,191

"Die Rennpace war auf dem harten Reifen sehr stark, da waren wir sehr schnell", freut sich der Youngster. Auf den weichen Reifen war es etwas schlechter. Wir müssen also etwas arbeiten, aber es sieht schon ziemlich vielversprechend aus", glaubt Leclerc.

Warum? Weil der Hard im Rennen auch eine ganz heiße Aktie werden dürfte. Überholen lässt sich in Yas Marina bekanntlich nur mit extremen Pace-Vorteilen - fragen Sie mal Fernando Alonso nach seinen Erinnerungen an einen gewissen Vitaly Petrov. Die Folge: Alle werden versuchen, mehr als einen Stopp zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.

"Es wird am Sonntag trotzdem ziemlich sicher ein Einstopp-Rennen, auf dieser Strecke ist etwas anderes schwierig", kommentiert auch Pirelli-Mann Isola trotz aller Ungewissheit durch die nur kurzen Soft-Longruns.

Fazit: Mercedes geht als Favorit ins restliche Wochenende, aber längst nicht so deutlich wie Historie und Freitagsergebnis nahelegen. Auf eine Runde wird es - wie 2019 längst gewohnt - besonders eng. Bottas hat hier mit dem frischen Motor einen Vorteil, konzentriert sich einerseits wegen seiner Strafe aber sowieso nur auf das Rennen, andererseits erhielt auch Leclerc erst in Brasilien ein frisches Aggregat.

Auf die Distanz liegen Mercedes und Red Bull auf Augenhöhe, Ferrari scheint erneut eine Ecke zu fehlen - auch, wenn der Hard-Run Leclercs stark erscheint. Immerhin fehlt hier der direkte Vergleich: Wären Verstappen und Hamilton auf Hard genauso gut oder gar besser gewesen? Im direkten Soft-Duell jedenfalls war Ferrari weit abgeschlagen. Über Nacht zumindest etwas verbessern können sollte die Scuderia das allerdings einmal mehr.