Mercedes kam beim Russland GP in Sotschi wie die berühmte Jungfrau zum Kinde. Darüber macht gibt in der ganzen Formel 1 niemand Illusionen hin, sogar beim Formel-1-Weltmeister selbst nicht. Ja, mit der Medium-Strategie habe man sich zwar eine Gelegenheit geschaffen, heißt es zwar. Doch selbst das hätte nicht reichen müssen, hätte der Rennverlauf den Silberpfeilen nicht ideal in die Karten gespielt.

So kämpften Sebastian Vettel und Charles Leclerc zunächst sehr viel mehr gegeneinander und die Vormachtstellung bei Ferrari. Dann sorgte ausgerechnet der Ausfall Vettels für den finalen Gnadenstoß aller Ferrari- und Leclerc-Sieghoffnungen durch ein VSC.

Mercedes gesteht: Ferrari ohne Safety Car zu stark

"Es wäre unfassbar schwer gewesen, Ferrari im direkten Kampf ohne VSC oder SC Punkte wegzunehmen. Ferrari hätte das Rennen gewonnen", gesteht da selbst Mercedes-Chefstratege James Vowles, in dieser Funktion das Hirn hinter der am Ende erfolgreichen Medium-Soft-Strategie. Alleine hätte selbst diese Taktik aber nicht gereicht. "Unsere einzige Gelegenheit wäre ein Undercut gewesen, doch selbst dann wussten wir, wir dass sie sehr schnell sein würden", gesteht Vowles.

Formel 1 Video: Mercedes Strategiechef erklärt Hamilton-Sieg (06:30 Min.)

Besser sei die Taktik dennoch gewesen. Vowles: "Der Medium hatte die Schwäche, von der Linie etwas schwächer zu sein, aber er lieferte viel mehr Gelegenheiten über das Rennen. Man konnte immer noch einen Undercut machen, aber auf Soft oder Hard gehen. Der Medium erlaubte uns auch, den Ferrari im ersten Stint immer näher zu kommen. Und das hast du im Rennen gesehen. Nach ein paar Runden wurden wir schneller und schneller, Ferrari musste reagieren und ihre Autos reinholen."

Mercedes freut sich: Sieg auch ohne schnellstes Auto

Das stimmt jedoch nicht ganz. Wie Motorsport-Magazin.com bereits in der Rennanalyse aufgezeigt hatte, brachen die Ferrari-Zeiten vor den Stopp nur unwesentlich ein. Ein klares Indiz dafür, dass es hier viel mehr darum ging, Leclerc wieder vor Vettel zu bekommen. Ferrari selbst gab das nicht zu, wollte sich jedoch offensichtlich nur nicht den Schuh einer - in diesem Fall nach den ursprünglichen Absprachen jedoch berechtigten - Teamorder anziehen.

Dennoch freut sich Mercedes, dass es am Ende gereicht hat - wie groß der Eigenanteil der Strategie nun war oder nicht. "Das heutige Ergebnis zeigt, dass du niemals aufgeben darfst. Selbst wenn du mit einem Paket ins Rennen gehst, das nicht das schnellste ist. Wenn wir alle zusammen alles richtig machen, die Fahrer, die Ingenieure und das Management, dann können wir noch immer Rennen gewinnen.

Mercedes erkennt: Erstmals im Rennen unterlegen

Doch in dieser positiven Erkenntnis schwingt eine bittere bereits mit. Erstmals waren die Silberpfeile Ferrari auch im Renntrimm unterlegen. "Uns muss in diesem Moment der Freude bewusst sein, dass wir dieses Wochenende vom puren Speed her nicht die Performance hatten", so Wolff. "Nach fünfeinhalb dominanten Jahren hat Mercedes jetzt endlich einen Gegner, der in Lage ist, ihre Vorherrschaft wirklich herauszufordern", resümiert F1-Sportchef Ross Brawn.

"Wir waren heute maximal am Limit und ich denke, die Jungs sind im Moment immer noch ziemlich dominant", bestätigt Hamilton den Ferrari-Vorteil, jetzt auch im Rennen. "Ich habe versucht dranzubleiben, ich bin Qualifying-Runden gefahren, weil sie so schnell waren", sagt der Brite. Zumindest für Hamilton sei sogar die Ferrari-Strategie besser gewesen. "Wir hatten vor dem Rennen gerechnet, wie lange der Soft-Reifen halten wird. Entweder würden wir Recht behalten, oder sie. Letztendlich denke ich, dass sie richtig lagen. Der Soft war viel stärker als wir erwartet hatten."

Wolff trotz Doppelsieg: Glas halb leer

Teamchef Toto Wolff ist diese Neuerung ebenfalls nicht entgangen. Er sieht die Mercedes-Strategie wie Vowles und anders als Hamilton zwar als die bessere, aber nicht als gut genug gegen schnellere Ferrari. "Realistisch gesehen denke ich nicht, dass es gereicht hätte. Wir hätten ihnen im Getriebe gefolgt wie in den letzten Rennen, aber es hätte nicht gereicht", meint Wolff und gesteht: "Wenn wir es optimistisch ausdrücken, dann waren wir auf gleicher Pace. Bei mir ist das Glas aber eher halb leer. Vielleicht hatten sie das schnellste Auto im Qualifying und im Rennen."

Ferrari-Siegserie: Ende der Mercedes-Dominanz? (16:47 Min.)

Interessant: Dieses Mal weist der gelobte Gegner dieses Starkreden nicht zurück. Im Gegenteil. Sebastian Vettel streicht sogar das 'vielleicht' aus der Aussage Wolffs. "Es war das erste Rennen mit mehr Pace als bei Mercedes. Das galt zumindest für den ersten Stint und vielleicht das ganze Rennen", so Vettel, der durch den seinen Defekt nicht mehr als diesen ersten Stint erlebte.

Sebastian Vettel will Mercedes Kopfschmerzen bereiten

"In Singapur war das nicht wirklich so. Ja, da haben wir gewonnen, aber auch schon in den Rennen davor hatte Mercedes in Sachen reiner Rennpace noch einen Vorteil. Das sollte ihnen jetzt also ein paar Kopfschmerzen bereiten." Genau das ist der Fall. "Es ist unter den schwierigsten Momenten [der vergangenen Jahr]", bestätigt Wolff zur gegenwärtigen Gesamtlage. "Mit ihrer gegenwärtigen Power-Unit-Performance sollten wir auch nicht erwarten, die kommenden Wochen zu dominieren."

Doch wieso verlor Mercedes überhaupt so plötzlich seinen Nimbus. Nur an Ferraris Aufschwung liege das nicht, meint Wolff. "Wir haben auch lange Zeit keine Updates mehr ans Auto gebracht", erklärt der Wiener. "Und die Dinge vielleicht nicht ganz so optimal gemanagt wie wir sie managen können." Letztes zumindest bis Russland. Für ersten Aspekt jedoch wird sich 2019 so schnell nichts mehr tun.

Wolff relativiert Ferrari-Aufschwung: Länger kein Update

Der Fokus ist längt mehr auf 2020 gerichtet. "Wir müssen unser Resourcen eben richtig einteilen", erklärt Wolff. In Suzuka jedoch werde noch einmal etwas kommen. "Aber das ist kein großer Schritt, sondern einfach etwas, von dem wir interessiert sind, es auszuprobieren."

Team für Team: Tops & Flops vom Russland GP 2019 (11:44 Min.)

Ob das reicht? Geht es nach Red Bulls Dr. Helmut Marko bestehen erhebliche Zweifel. "Ferrari war im Training derartig überlegen. Seit den schnellen Rennen Spa und Monza hat Ferrari eine Wandlung erfahren, es gibt unglaubliche PS, vor allem im Qualifying. Seit Singapur haben sie auch eine neue Nase und damit ist der Abtrieb da. Wir haben alle mit einem souveränen Sieg von Leclerc und auch einem Doppelsieg gerechnet", so der Grazer bei "Sport und Talk aus dem Hangar-7" auf ServusTV.

Marko stichelt: Mercedes-Sieg Glück, nicht verdient

Für Marko steht fest: Mercedes gewann nur dank Glück, durch das Safety Car. "Vom Speed her war überhaupt keine Chance gegeben", stellt der Grazer fest. "Was Mercedes taktisch richtig gemacht hat: Sie sind mit den härteren Reifen das Qualifying gefahren und konnten dadurch länger draußen bleiben. Dass die Chance auf ein Safety Car auf dem Fast-Stadtkurs gegeben ist, ist ja groß. So gesehen war die Strategie richtig", gesteht Marko allerdings. Dennoch sei es Glück gewesen. Marko: "Das ist ja dann das Paradoxe, dass Ferrari das Safety Car dann selber auslöst und Mercedes profitiert. Das ist Glück, aber nicht verdient."