Die Formel 1 ist verrückt. Vor nicht allzu langer Zeit war Singapur noch Mercedes' Angststrecke. Trotz unfassbarer Dominanz der Silberpfeile zu Beginn der Hybridära brachte der enge Stadtkurs in der Nähe des Äquators oftmals die Diva zum Vorschein. Nach zwei Ferrari-Siegen bei den letzten beiden Rennen in Spa und Monza ist Singapur nun die Angststrecke der Scuderia und Mercedes geht als Favorit ins Rennen.

Während der Ferrari SF90 seine Stärken auf schnellen Kursen ausspielen kann, bringen aerodynamische Effizienz und Motorpower auf dem Marina Bay Street Circuit nicht besonders viel. Hier ist absoluter Abtrieb gefordert. Und da hadert es bekanntlich an Sebastian Vettels Roter Göttin. Reichlich haben davon aber Mercedes und auch Red Bull.

Ferrari ist also trotz der beiden Siege seit der Sommerpause nicht Favorit. Doch die Ingenieurstruppe von Teamchef Mattia Binotto hat nachgelegt: Ein neues Aerodynamik-Paket soll Abhilfe schaffen. Hat die überarbeitete Nase samt neuer Leitbleche das gehalten, was sich die Techniker davon versprochen hatten?

Beim Blick auf die reine Ergebnisliste wurden Mercedes und Red Bull ihren Favoritenrollen gerecht. Mit 1:38,773 Minuten brannte Lewis Hamilton die Bestzeit in den Asphalt. Max Verstappen stellte den Bullen knapp zwei Zehntel dahinter auf Rang zwei. Sebastian Vettel fehlten als Drittem bereits acht Zehntel.

Vettel-Rundenzeit nicht repräsentativ

Allerdings fuhr Vettel seine schnellste Runde erst im dritten Versuch. Den ersten Versuch musste er abbrechen, nachdem er auf Kevin Magnussen aufgelaufen war. Der zweite Versuch war schlichtweg nicht gut genug. Nach zwei Abkühl- und Auflade-Runden fuhr der viermalige Formel-1-Weltmeister seine persönlich schnellste Runde auf sieben Runden alten Pirelli-Pneus.

"Deshalb würde ich den Rückstand heute nicht überinterpretieren", analysiert Vettel folgerichtig. Doch selbst auf die eine Runde ließen sich wieder die Ferrari-typischen Schwächen erkennen.

Im ersten Sektor fährt Vettel noch absolute Bestzeit. Dort gibt es neben der Start- und Zielgeraden auch noch die schnellste Stelle der Strecke und nur sechs der 23 Kurven. Von den sechs Kurven sind zwei gar keine echten Kurven, sondern Vollgas-Passagen oder Ergebnisse der FIA-Zählweise.

Formel 1 2019: News nach dem Freitags-Training in Singapur (06:18 Min.)

Danach verliert Ferrari übermäßig viel Zeit. Vor allem in den langsamen Kurven. Allein in den langsamsten Ecken der Strecke büßt der SF90 mehr als vier Zehntelsekunden auf Klassenprimus Mercedes.

Lange Singapur-Runde schlecht für Ferrari

Und dann kommt ein weiteres Problem hinzu: Die 23 Kurven nagen schon nach einer Runde am Pirelli-Pneu - zumindest wenn er auf dem Ferrari steckt. "Eigentlich sollte es auf eine Runde kein Problem geben", meint Pirellis Mario Isola.

'Eigentlich' und 'sollte' helfen Vettel aber wenig. "Die Warmup-Runde ist hier sehr wichtig und dann, wie sehr und wo man attackiert", klagt der Deutsche. Dass sein erster Versuch von Magnussen zerstört wurde, ärgert ihn deshalb doppelt: "Es ist schade, dass ich kein Gefühl dafür bekommen konnte, wie sich der Reifen auf der ersten Runde von Anfang bis Ende verhält."

Bei Lewis Hamilton hörte sich das nach den Trainings etwas anders an: "Wir konnten unser geplantes Programm absolvieren und das Auto weiter verbessern. Damit bin ich richtig happy. Ich habe mich heute so gut wie schon lange nicht mehr im Auto gefühlt." Wenn der Weltmeister so schwärmt, ist es für die Konkurrenz gefährlich.

Aber Red Bull könnte gefährlich werden. "Ich hatte im letzten Sektor auf meiner Qualifikations-Simulation Verkehr, deshalb konnte ich mich im Vergleich zum Run auf den harten Reifen nur um zwei Zehntel verbessern", klagt Max Verstappen. "Das bedeutet, es kommt noch mehr von uns. Wir sehen auf eine Runde stark aus, aber Lewis sieht ebenfalls sehr schnell aus."

Top-Teams in Singapur Einmann-Teams

Auffällig: Bei allen Top-Teams lagen die Teamkollegen weit auseinander. Valtteri Bottas hatte im 1. Training einen Unfall und fand anschließend kein Vertrauen mehr ins Auto. Alexander Albon muss eine neue Strecke und ein fast noch immer neues Auto lernen. Nach einem kleinen Mauerkontakt im 2. Training verlor auch er das Vertrauen in sein Auto.

Charles Leclerc hatte das Vertrauen erst gar nicht so recht gefunden. Nach einem Getriebeschaden am Vormittag kam er nicht so richtig in Schuss. Dazu ist mit Sebastian Vettel ein wahrer Singapur-Spezialist die erste Referenz.

Die großen Abstände zwischen den Teamkollegen zeigen, dass Singapur die Spreu vom Weizen trennt. In den ersten elf Ausgaben des GP konnte noch kein Team einen Doppelsieg erzielen.

Und wie sieht es im Dauerlauf aus? Weil die Rundenzeiten verhältnismäßig hoch sind, gibt es etwas weniger Daten als sonst. Dafür wurde die Rennvorbereitung nicht durch Rot-Phasen beeinträchtig - keine Selbstverständlichkeit in Singapur.

Red Bull wählte als einziges Top-Team nur einen Satz Medium je Fahrer. Also mussten sich die Bullen auf Longruns mit den Soft- und Hard-Reifen beschränken. Nach seinem Abflug zu Beginn des 2. Trainings konnte Albon nur Daten auf Soft sammeln. Dafür fuhr er einen überdurchschnittlich langen Stint, was die Daten verfälscht.

Formel 1 Singapur 2019, Longruns auf Soft

FahrerStintlängeReifenalterZeit
Hamilton1781:45,027
Verstappen1261:45,869
Leclerc2081:46,519
Vettel1331:46,582
Albon22121:47,499

Hamilton, Verstappen und Leclerc lieferten dafür sehr vergleichbare Runs auf dem weichen C5-Kleber, dem Hypersoft-Pendant des Jahres 2019. Auch Vettel fuhr ein paar Runden unter ähnlichen Bedingungen. Valtteri Bottas fuhr zwar auch auf Soft, allerdings erst gegen Ende der Session. Deshalb sind seine Zeiten nicht besonders relevant.

Doch die Hamilton-Zeiten reichen als Ansage. 1:45,0 Minuten fuhr der Brite im Schnitt - und damit gut acht Zehntelsekunden schneller als Verstappen. Leclerc und Vettel waren in etwas gleich schnell - oder eher gleich langsam. Ihnen fehlten im Schnitt anderthalb Sekunden auf die Hamilton-Zeiten.

"Auf mehrere Runden tun wir uns schwer, das Auto ist nervös und rutscht zu viel", erklärt Vettel die Zeiten. "Das kostet direkt viel Zeit, wenn man nicht ganz das Vertrauen hat, weil das Auto nicht dorthin lenkt, wo man hin will."

Formel 1 Singapur 2019, Longruns auf Medium

FahrerStintlängeReifenalterZeit
Hamilton1221:44,187
Leclerc1131:44,462
Vettel1681:46,336

Auf den Medium-Reifen sah es immerhin bei Teamkollege Leclerc besser aus. Da fehlten dem Monegassen nur noch drei Zehntelsekunden. Allerdings fuhren Leclerc und Hamilton am Ende der Session nur sehr wenige Runden auf dem gelb markierten Reifen. Vettel, der acht Runden am Stück fuhr, war bereits wieder deutlich langsamer.

Fazit: Auf eine Runde sieht es vorne nach einem engen Kampf zwischen Hamilton und Verstappen aus. Im Dauerlauf macht der Weltmeister zumindest auf den Soft-Reifen einen überlegenen Eindruck. Auf eine Runde kann Ferrari näher kommen - ob es für Hamilton und Verstappen reicht, ist eher fraglich. Es gibt zu viele langsame Kurven, außerdem ist die Runde zu lang. Im Dauerlauf verbessert sich Ferrari meist deutlich über das Wochenende, aber es wird wohl nicht reichen. Nicht Hamilton und Verstappen sind der Maßstab, eher der monströse Rückstand von einer Minute, den Vettel und Leclerc in Ungarn auf das Top-Duo hatten.